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Ein Beitrag von Dr. Christian Krell, Leiter des FES-Büros für die nordischen Länder in Stockholm
Der ehemalige SPD-Bundesgeschäftsführer Peter Glotz hat es immer wieder betont: Für gesellschaftliche Reformen reichen 51% der Wählerstimmen nicht aus, Diskurshoheit und Zeitgeist müssen die Reformen tragen. Um gesellschaftliche Veränderungen herbeizuführen benötigt man nicht nur eine parlamentarische Mehrheit oder institutionelle Macht, sondern auch die öffentlich geteilte Überzeugung, dass die Veränderung in die richtige Richtung geht. Dass die Reform notwendig und möglich ist, dass sie sich lohnt und dass sie zu einem besseren Ergebnis als dem Status quo führt. Politikentwürfe müssen in eine Erzählung eingebettet sein. Smarte Politikberater sprechen in diesem Zusammenhang von einem Narrativ.
Der Umbau der schwedischen Gesellschaft zu einer der egalitärsten Gesellschaften der Welt ist ohne solche Erzählungen nicht denkbar. Die Idee einer "starken Gesellschaft" (starka samhället) ist eine der wirkmächtigsten Erzählungen in diesem Sinne. Tage Erlander, für eine gefühlte Ewigkeit schwedischer Ministerpräsident (1946-1969), hat nicht zufällig diesen Begriff als narrativen Rahmen für den von ihm angestrebten Ausbau des Wohlfahrtsstaates gewählt.
Eine starke Gesellschaft, das ist mehr als nur eine Beschreibung von Zusammenleben. Es ist auch die Vorstellung einer besonderen Form dieses Zusammenlebens: nämlich als solidarisches Miteinander. Die Idee der starken Gesellschaft schließt damit an die für den schwedischen Wohlfahrtsstaat prägende Idee des Volksheims an. Diese, ursprünglich von Nationalen und Konservativen entfaltete Idee, griff Erlanders Vorgänger, Per Albin Hanson, als Narrativ seiner Politik auf:
"Im guten Heim gibt es keine Privilegierten oder Benachteiligte [...]. Dort sieht nicht der eine auf den anderen herab, dort versucht keiner, sich auf Kosten des anderen Vorteile zu verschaffen und der Starke unterdrückt nicht den Schwachen und plündert ihn aus. Im guten Heim herrschen Gleichheit, Fürsorglichkeit, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft. Auf das Volks- und Mitbürgerheim angewandt würde das den Abbau aller sozialen und ökonomischen Schranken bedeuten, die nun die Bürger in Privilegierte und Benachteiligte, in Herrschende und Abhängige, in Reiche und Arme, in Begüterte und Verarmte, in Ausplünderer und Ausgeplünderte teilen."
Gemeinsam ist der Vorstellung eines Volksheims und einer starken Gesellschaft, dass sie die sozialdemokratische Politik nicht klassenkämpferisch auflädt, sondern eine integrierende Utopie entfaltet, der alle Teile der Gesellschaft etwas abgewinnen können. Der Begriff der Gemeinschaft ist umfassend und schließt alle Teile der Gesellschaft ein. In der Konsequenz konnte sich die Idee einer starken Gesellschaft von einem parteipolitischen Programm – das es immer auch blieb – erweitern und zu einem nationalen, wenn nicht gar regionalen Projekt werden. Schließlich ist das nordische Modell heute nicht nur mit der Arbeiterbewegung verbunden – die es zweifellos maßgeblich geprägt hat –, sondern wirkt integrierend und identitätsstiftend für einen ganzen Teil Europas. Ohne die von Erlander immer wieder bemühte Vorstellung einer starken Gesellschaft als Leitmotiv für den Ausbau des Wohlfahrtsstaates wäre das kaum denkbar.
Auf praktisch-politischer Ebene ist die starke Gesellschaft natürlich auch mit einem komplexen institutionellen Arrangement verbunden. Eine solidarische und gleichheitsorientierte Lohnpolitik, gut organisierte Arbeitgeber und starke Gewerkschaften mit hohen Mitgliedszahlen, eine aktive Rolle des Staates bei der öffentlichen Koordinierung der Wirtschaft, gut ausgebaute öffentliche Dienstleistungen – etwa bei Gesundheit und Bildung –, die auch für die Oberschichten attraktiv waren. All das waren Bausteine der starken Gesellschaft. Diese spiegelten sich seit der Nachkriegszeit wider in konkreten politischen Projekten und Rahmenwerken. Das primäre Ziel staatlicher und sozialpartnerschaftlicher Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik war Vollbeschäftigung und eine solidarische Lohnentwicklung, die durch hohe Produktivitätssteigerung ermöglicht wurde. Gepaart mit einer zielgerichteten keynesianischen Wirtschaftspolitik, die es dem Staat erlaubte, sozial- und arbeitsmarktpolitische Reformen durch Schulden zu finanzieren, konnte, startend in den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre hinein, sowohl die dringende Frage des Mangels an Wohnraum gelöst – auf Betreiben des Staates hin wurden allein zwischen 1965 und 1975 eine Million neue Wohnungen gebaut – sowie die angestrebte Vollbeschäftigung erreicht werden. Die Erfüllung sozialer Rechte wurden damit in politische Praxis übertragen. Dies gilt für das Recht auf Arbeit und Wohnraum ebenso wie den für die Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern unabdingbaren Ausbau der öffentlichen Kinderbetreuung und des öffentlichen Sektors und die Einführung individueller Besteuerung der Einkommen von Ehepartnern 1971. Umverteilungspolitik war stark an die solidarische Lohnpolitik geknüpft, darüber hinaus aber auch zentraler Bestandteil des wohlfahrtsstaatlichen Rahmenwerkes. Gesundheitsversorgung war beispielsweise ausschließlich steuerfinanziert und entsprechende Leistungen universell ausgelegt, sodass alle Schichten in die solidarische wohlfahrtsstaatliche Gemeinschaft integriert wurden.
So konnte auf Basis breiter öffentlicher Zustimmung eine Gesellschaft mit einer relativ hohen Lohngleichheit und einer vergleichsweise hohen Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern entstehen. Dazu eine gute Versorgung bei Krankheit und Alter, ähnlichen Chancen im Bildungssystem – unabhängig vom sozialen Status der Eltern – und vieles mehr. Kurzum: Nicht das Paradies auf Erden, aber eine vergleichsweise starke Gesellschaft mit ungefähr gleich verteilten Lebenschancen.