Erste Verfassung für Mexiko-Stadt
Fragen an Alejandro Encinas, Vorsitzender der Verfassungsgebenden Versammlung von Mexiko-Stadt
Im Januar 2017 wurde die erste Politische Verfassung von Mexiko-Stadt veröffentlicht, genau hundert Jahre nach der Verabschiedung der mexikanischen Politischen Verfassung im Jahr 1917, nach dem Ende der Mexikanischen Revolution. Die neue Verfassung für die Hauptstadt ist Ergebnis gemeinsamer Anstrengungen der Bürger_innen. Es handelt sich um einen Verfassungstext, der die Rechte der Bürger_innen von Mexiko-Stadt garantiert, fördert und ausweitet. Diese neue Verfassung tritt im September 2018 in Kraft.
Warum eine Verfassung für Mexiko-Stadt?
Weil die Stadt einen gesellschaftlichen Pakt brauchte, der zunächst einmal Mexiko-Stadt auf gleiche Weise anerkennt wie die anderen Bundesstaaten der Mexikanischen Föderation. Aber es ging auch darum, mit den Bürger_innen einen Pakt mit klaren Regeln zu schließen. Die Verfassung stellt neue Spielregeln für die Politik in der Stadt auf und legt vor allem die Grundlage für die Beteiligung der Bürger_innen fest. Hier geht es nicht nur um die Ausübung und die Forderung nach Einhaltung aller Rechte der Bürger_innen, sondern auch um die Instrumente, mit denen sie Politik und öffentliche Angelegenheiten direkt in die Hand nehmen können.
Ist die Verfassung eine Errungenschaft der linken Kräfte in der Stadt?
Ich glaube, man muss die Verfassung als Ergebnis der kollektiven Anstrengungen vieler Generationen sehen, nicht nur von Linken und Progressiven, sondern der Zivilgesellschaft in der Hauptstadt der Republik. Es ist eine fortschrittliche Verfassung, deren verbindendes Element nicht die Staatsgewalt oder die Obrigkeit ist, sondern die Menschen und ihre Rechte.
Wodurch zeichnet sich diese Verfassung besonders aus?
Diese Verfassung bricht mit dem traditionellen Schema von Verfassungen, die im Wesentlichen die Institutionen der repräsentativen Demokratie begründen. Diese Verfassung geht nämlich über die Instrumente der repräsentativen Demokratie hinaus und legt die einer vollständigen Demokratie fest – also repräsentative Demokratie ja, aber auch direkte Demokratie: Plebiszit, Referendum, Mandatsaufhebung. Dies ist die erste Verfassung in unserem Land, die die Mandatsaufhebung festschreibt und die Immunität für alle öffentlich Bediensteten abschafft.
Ein Querschnittsthema der gesamten Verfassung ist das Recht auf substantielle Gleichheit; außerdem werden Instrumente eingeführt, um dieses Recht bei den Behörden einzuklagen. Über die bereits bestehenden Sozialprogramme hinausgehend wird nun die Idee des Existenzminimums festgeschrieben, das in die Richtung des bedingungslosen Grundeinkommens geht. Dieses Existenzminimum garantiert zunächst einmal, dass Bürger_innen, die in unserer Stadt in extremer Armut leben, Zugang zu einem monatlichen Einkommen erhalten, um ihre Notlage meistern zu können.
Gleichzeitig beinhaltet die Verfassung die Vision einer langfristigen Entwicklungsplanung. Erstmals wird ein ganz klares Planungssystem festgelegt, indem ein dezentralisiertes Institut unter Beteiligung der Bürger_innen ein Programm für 20 Jahre mit kosmopolitischer Vision für die Entwicklung der Stadt erarbeiten wird.
Zu den wichtigsten Neuerungen gehören außerdem Reformen der bislang unantastbaren Gewalt, nämlich der Judikative. Erstmals werden hier echte Kontrollen festgeschrieben. Und zum ersten Mal wird ein Bürgerlicher Justizbeirat geschaffen.
Und was sind die größten Herausforderungen?
Die zwei größten Herausforderungen werden einerseits die Umsetzung und andererseits der Widerstand gegen die Veränderungen sein, der nicht nur von Seiten der Bundesregierung, sondern auch von den politischen Kräften innerhalb der Stadt zu erwarten ist. Wir haben beispielsweise bereits gesehen, dass die Bundesregierung Verfassungsbeschwerde einlegte, obwohl sie zuvor Teil der Verfassungsgebenden Versammlung war.
Es wird solche Widerstände geben, auch auf lokaler politischer Ebene. Erst kürzlich haben wir z. B. als Verfassungsgebende Versammlung das Parlament des Hauptstadtbezirks damit beauftragt, einige Gesetze auszuarbeiten, besonders das Verwaltungs- und das Wahlgesetz. Doch die vom Parlament verabschiedete Wahlordnung widerspricht den Vorschriften der neuen Verfassung. Oder es wurden Klauseln abgeschafft, die für uns sehr wichtig waren. Beispielsweise haben wir in der Verfassung als einen Grund für die Ungültigkeit von Wahlen die politische Gewalt gegen Frauen festgeschrieben, und dieser Aspekt der Verfassung wurde (in dem ausführenden Gesetz, Anm. d. Red.) gestrichen.
Und bezüglich der Rechte haben wir die ganze Zeit diskutiert: Wozu so viele Rechte, wenn es keine finanziellen Mittel zu ihrer Durchsetzung gibt? Das ist die alte liberale Weltsicht, diese Logik von „Sag mir, wie viel Geld du hast, und ich sage dir, für wie viele Rechte das reicht“. Was absurd ist, denn die Menschenrechte sind ja zunächst einmal universell. Und natürlich braucht man für vieles gar keine finanziellen Mittel. Manche Aspekte der Verfassung gehen in Richtung einer kulturellen Revolution in der öffentlichen Verwaltung, zum Beispiel die Geschlechtergleichstellung auf allen Regierungsebenen. Das wird zu einem tiefgreifenden kulturellen Wandel führen. So haben viele dieser Rechte mit politischem Willen zu tun: das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht der Frauen auf Selbstbestimmung, das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe, das Recht auf Sterben in Würde, das Adoptionsrecht gleichgeschlechtlicher Paare – für all diese Rechte braucht man keine finanziellen Mittel, nur den entsprechenden Willen.
Hier finden Sie den spanischen Videomitschnitt des gesamten Interviews.