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In Iran wird die soziale Frage immer brisanter, doch die Elite der Islamischen Republik behandelt sie weiterhin stiefmütterlich. Den Forderungen aus den größer werdenden Reihen der Protestierenden kann sie weder politisch noch wirtschaftlich etwas anbieten.
Bild: Fathollah-Nejad & Sarkohi
Ali Fathollah-Nejad & Arash Sarkohi
Am 18. Juni wählt Iran den Nachfolger des nach acht Jahren Amtszeit ausscheidenden Präsidenten Hassan Rohani. Doch obgleich sich während Rohanis Amtszeit die sozio-ökonomische Lage der Bevölkerung massiv verschlechterte, wird das Thema soziale Gerechtigkeit von der gesamten iranischen Elite weiterhin äußerst stiefmütterlich behandelt.
Zur akuten sozio-ökonomischen Krise Irans gehören eine weitestgehend in Armut verharrende Unterschicht und eine zunehmend schrumpfende Mittelschicht – beide Phänomene tragen politischen Sprengstoff in sich.
Die Präsidentschaft Rohanis war geprägt von einer Vielzahl sozialer Proteste. Fast täglich gab es in den letzten Jahren Demonstrationen und Proteste von Arbeiter*innen, Lehrkräften, Rentner*innen und anderen Gruppen. Diese mündeten in landesweiten Protesten zur Jahreswende 2017/18 und im November 2019, die jeweils mit großer Brutalität von staatlicher Seite niedergeschlagen wurden.
Trotz der Virulenz der „sozialen Frage“ hat kein Präsidentschaftsaspirant – egal ob Reformist, Zentrist, konservativ, Prinzipalist oder aus den Reihen der Revolutionsgarden – das Thema mit der gebotenen Dringlichkeit in den Vordergrund gestellt. Vielmehr gibt es Lippenbekenntnisse und vereinzelte Rufe nach der Bekämpfung von Korruption. Außerdem werden außenpolitische Themen wie die erneuten Atom-Verhandlungen mit den USA prominent diskutiert.
Dabei gehört der Ruf nach sozialer Gerechtigkeit zu den zentralsten Ambitionen von Revolution und Islamischer Republik. Doch vor allem nach Ende des Iran-Irak-Krieges 1988 zeigte sich schnell, dass die revolutionären Versprechen an die „Entrechteten“, die etwa jede*r Iraner*in „eine eigene Wohnung“ und „gratis Strom und Wasser“ versprachen, hohle Phrasen waren – eine Aneignung des damaligen, den Zeitgeist bestimmenden linken Diskurses durch die Chomeinist*innen.
Der Blick auf die Präsidentschaftswahlen im Nachkriegs-Iran führt vor Augen, dass die „soziale Frage“ im Jahr 2021 nicht zum ersten Mal ausgeblendet wird. Präsident Ali-Akbar Haschemi-Rafsandschani (1989–97) trat mit dem Slogan des wirtschaftlichen Wiederaufbaus an, trieb im Namen der „Entwicklung“ die Privatisierung der Wirtschaft voran und erlebte dabei schwere soziale Unruhen, die 1992 niedergeschlagen wurden. Sein Nachfolger Mohammad Chatami (1997–2005) setzte seinen Schwerpunkt auf zivilgesellschaftliche Freiheiten und eine Demokratisierung innerhalb des engen Korsetts der Islamischen Republik – auch wenn es bei ihm bei Parolen blieb und er keine wichtigen Veränderungen durchsetzen konnte. In sozialen und wirtschaftlichen Belangen setzte er die Politik seines Vorgängers fort.
Mahmud Ahmadinedschad (2005–13) war es, der als erster Präsident die soziale Frage in den Vordergrund gerückt hat. Immerhin hatten zweieinhalb Jahrzehnte nach der Einführung eines iranischen „illiberalen Neoliberalismus“ die soziale Schere geweitet und damit den revolutionären Idealen einer Islamischen Republik im Dienst der „Entrechteten“ Hohn gespottet. Doch Ahmadinedschads Wahlversprechen, dafür zu sorgen, dass die Einkommen aus dem Ölexport auch die Esstische der Menschen erreichen, verkam zu einem populistischen Manöver. Er betrieb ein Programm des sozialen Wohnungsbaus und der allgemeinen Krankenversicherung – und ist einer der wenigen hochrangigen Politiker der Islamischen Republik, von dem keine persönliche Bereicherung bekannt ist. Viele seiner Versprechen sowie Maßnahmen waren zwar populistischer Natur, doch ist er bei vielen Menschen, besonders in der Unterschicht, bis heute beliebt. Denn immerhin hatten monatliche Bargeldzahlungen, die im Rahmen einer Subventionsreform eingeführt wurden, die Einkommensungleichheit im Land teilweise verringert; wenngleich mit dem Wehrmutstropfen einer hohen Inflation.
Rohanis (2013-21) Agenda zielte hauptsächlich auf die Einigung mit dem Westen im Atomstreit, um durch einen Wegfall der US-Sanktionen die wirtschaftliche Lage der Bevölkerung zu verbessern. Doch entgegen vieler Hoffnungen hat das im Juli 2015 abgeschlossene Atomabkommen die sozio-ökonomische Situation nicht verbessert. Stattdessen stieg die Einkommensungleichheit und damit einhegend die soziale Frustration. Donald Trumps Ausstieg aus dem Atomabkommen drei Jahre später und die Wiedereinführung lähmender US-Sanktionen taten sodann ihr Übriges. Es folgten eine extreme Abwertung des iranischen Rial und eine horrende Inflation, die in der Geschichte der Islamischen Republik ihresgleichen suchen. Infolgedessen nahm auch die Armut zu. Nach offiziellen Angaben lebten vor zwei Jahren 19 Millionen Menschen in Slums, sogar jeder Dritte Stadtbewohner.
Die Aufstände von 2017/18 und 2019 waren die Folge; sie forderten das Regime in seiner Gesamtheit heraus. Auch wenn die Islamische Republik und viele hiesige Beobachter*innen die Proteste als direkte Folge der Sanktionen dargestellt haben, wurzeln diese in der sozialen Ungerechtigkeit, Armut, Korruption sowie in dem Mangel an politischen Partizipationsmöglichkeiten und der Dominanz autoritärer Strukturen – Faktoren, die nicht erst seit den US-Sanktionen existieren. So eruptierten die landesweiten Proteste zum Jahreswechsel 2017/18 knapp zwei Jahre nach Implementierung des Atomdeals und dem Wegfall der Sanktionen – also zu einer Zeit, in der die ökonomischen Errungenschaften des Abkommens die Menschen erreicht hätten sollen. Doch von der wirtschaftlichen Erholung profitierte nicht etwa die Bevölkerung, sondern hauptsächlich die Elite, die eng mit dem Regime verbandelt ist.
Besonders an den Protesten der letzten Jahre war, welche sozialen Schichten diese angeführt haben: die untere Mittelschicht und die Unterschicht, Menschen in Kleinstädten und Dörfern in allen Ecken des Landes.
Dies hebt die aktuellen Proteste von denen der Vergangenheit ab, etwa jenen nach den umstrittenen Wahlen 2009 oder den Studentenprotesten von 1999, die hauptsächlich von der urbanen Mittelschicht getragen wurden. Deren Fokus lag auf Bürgerrechten, während die soziale Frage kaum Beachtung fand. Die Ursachen der Proteste 2017/18 und 2019 hingegen waren hauptsächlich sozio-ökonomischer Natur. Der Auslöser des Aufstands vom November 2019 zum Beispiel war eine Verdreifachung der Benzinpreise, buchstäblich über Nacht. Auch waren diese Proteste in Form und Parolen radikaler: nicht ein Lager, sondern das gesamte System wurde in Frage gestellt – Reformisten wie Hardliner, der Klerus wie die Revolutionsgarden. Das Regime reagierte mit beispiellos eiserner Hand: Innerhalb einer mehr als einwöchigen Internetsperre wurden vermutlich 1.500 Menschen hingerichtet, zum Teil auf offener Straße.
Trotz dieser explosiven Lage beschäftigte sich im Vorfeld der anstehenden Präsidentschaftswahl kein Aspirant eingehend mit der sozialen Frage. Auch der Reformist Mostafa Tadschzadeh, der mittlerweile vom Wächterrat nicht zur Wahl zugelassen wurde, äußerte sich nicht zur sozialen Frage – und das obwohl er in anderen Bereichen radikale Forderungen aufstellt, etwa nach einer Änderung der Verfassung.
Die Ignoranz gegenüber der sozialen Frage ist indes nicht überraschend: Die Reformisten sehen die Mittelschicht als ihre primäre Ziel- und Wählergruppe – und haben in den letzten 20 Jahren versucht, sie mit Forderungen nach liberalen und persönlichen Freiheiten sowie mit dem Versprechen der Versöhnung zwischen Islam und Demokratie, an die Urnen zu bringen. Die Unterschicht, oft als konservativ und religiös umschrieben, war traditionell den Prinzipalisten bzw. Hardlinern zugeneigt. Doch zeigten die Proteste unter Rohani, wie das Regime die Unterstützung seiner bis dato als soziale Basis verstandenen unteren Schichten empfindlich eingebüßt hat. Diese sich veränderte Klassendynamik kann politische Folgen nach sich ziehen, die nur schwer vorhersehbar sind. Obwohl Stimmen aus dem Machtzirkel immer wieder auf diese tickende Bombe der sozialen Frage hinweisen, scheint laut dem renommierten iranischen Sozialhistoriker Touradsch Atabaki die Islamische Republik jegliches Interesse verloren zu haben, an der Situation der Arbeiter*innen und anderen prekären Gruppen etwas zu ändern – vermutlich auch eine Folge der Tatsache, dass im Land eine oligarchische Machtelite herrscht.
Eine Ausnahme bildete Ahmadinedschad, der sich zumindest den Parolen nach bewusst an die Unterschicht gewandt hat und für diese Programme präsentiert hat. Zwar versuchen immer wieder Politiker, das Erfolgsrezept von Ahmadinedschad zu kopieren. So trat der Militär, damalige Teheraner Bürgermeister und jetzige Parlamentspräsident Mohammad-Bagher Ghalibaf 2017 bei den Präsidentschaftswahlen mit dem Thema soziale Ungleichheit an und behauptete, 4% der Iraner*innen hätte sich den Reichtum des Landes unter die Nägel gerissen, während er die übrigen 96% repräsentieren würde. Auch Ebrahim Raissi – seit drei Jahren Chef der Justiz und zuvor Leiter der klerikal-kommerziellen Stiftung Astan-e Qods-e Razavi – versucht mit dem Thema Korruptionsbekämpfung zu punkten, sowohl 2017 als auch aktuell. Vor vier Jahren noch hatte er auf die schiere Zahl von 16 Millionen iranischen Slumbewohner*innen aufmerksam gemacht – als Angriff auf Amtsinhaber Rohani, dessen wirtschaftliche Versprechen uneingelöst blieben.
Doch diese populistischen Versuche waren bei den letzten Wahlen 2017 nicht von Erfolg gekrönt, da es Ghalibaf und Raissi sowohl an Glaubwürdigkeit als auch an überzeugenden Programmen mangelte. So ist wenig verwunderlich, dass Ahmadinedschad in vielen Umfragen immer noch gute Chancen bei der Präsidentschaftswahl eingeräumt wurden. Doch der Wächterrat hat ihn wiederholt nicht als Kandidaten zur Wahl zugelassen, so auch in diesem Jahr. Wie sehr das Regime ihn fürchtet, konnte man daran ablesen, dass dieses Jahr nach Verkündung seines Ausschlusses durch den Wächterrat, Sicherheitskräfte sein Haus vorsorglich umzingelten.
Es gibt keine Hinweise darauf, dass die soziale Frage in der Islamischen Republik an ihrer Brisanz einbüßen wird – im Gegenteil. Die Mittelschicht schwindet mehr und mehr. Armut und Verdrängung aus Innenstädten wegen horrender Mietpreise sind längst keine Probleme der Unterschicht mehr, sondern zunehmend ein Phänomen der Mittelschicht. Vor einigen Monaten wurde berichtet, dass viele Familien aus der Mittelschicht sich kein Fleisch mehr leisten könnten, weswegen sich nun Schlagen für das Kaufen für Hühnerhaut bildeten. So hat nach einigen Angaben die Nachfrage nach Fleisch und Fisch im letzten Jahr um mindestens 50% nachgelassen.
Hinzukommt, dass die Islamische Republik am eklatanten Mangel politischer Freiheiten krankt, wodurch auch eine Politik der sozialen Gerechtigkeit blockiert wird. Linke, sozialistische oder sozialdemokratische Parteien oder Strömungen – obgleich neben dem Nationalismus und Islamismus Bestandteil der modernen politischen Kultur des Landes – dürfen nicht existieren oder bei Wahlen kandidieren. Unabhängige Gewerkschaften werden massiv unter Druck gesetzt, wichtige Arbeiterführer*innen immer wieder verhaftet.
Doch in der Bevölkerung bleibt das Thema der sozialen Gerechtigkeit wichtig. In Ermangelung von Parteien oder Strömungen, die die soziale Frage in den Mittelpunkt stellen, suchen die Iraner*innen nach Alternativen. Doch keine Strömung innerhalb des Systems hat dieses Thema im Fokus. Die in Europa lange als Hoffnungsträger*innen überschätzten Reformisten am wenigsten: Bei beiden landesweiten Protesten der letzten Jahre sprachen wichtige Vertreter des Reformlagers sich deutlich gegen die Proteste aus und beschimpften die Protestierenden als minderwertig oder „Aasgeier“. Sowohl die Reformer als auch die Konservativen sind Teil einer Machtelite, die sich explizit gegen sozialdemokratische Werte und Politik positioniert: Weder wird eine veritable Demokratisierung angestrebt, noch wird die virulente soziale Frage thematisiert.
Infolgedessen etablierte sich ein Teufelskreis: reformistische bzw. im Westen als gemäßigt verklärte Präsidentschaften (jene von Chatami und Rohani), ebnen mit ihrem Ausblenden der sozialen Frage immer wieder den Weg für den Aufstieg rechtspopulistischer Herausforderer (damals Ahmadinedschad und heute Raissi).
Die soziale Frage hat große Sprengkraft. Sie ernsthaft zu stellen, heißt, fast alle Machtzentren der Islamischen Republik in Frage zu stellen. Denn strukturell bedingte Korruption und Vetternwirtschaft, das Monopolisieren politischer und wirtschaftlicher Macht sowie die Feindschaft mit den USA (und damit die Last der extraterritorial wirkmächtigen Sanktionen) sind wichtige Ursachen der sozialen Schieflage. Verbesserungen lassen sich nicht ohne strukturelle Veränderungen im System herbeiführen.
Vor diesem Hintergrund wird die soziale Frage – ungeachtet der Tatsache, wer im Juni Präsident wird (und vieles läuft auf Raissi hinaus) – ungelöst bleiben. Weitere soziale Proteste, die oft schnell in politische umschlagen, sind somit vorprogrammiert.
Zwar könnte eine Wiederbelebung des Atomdeals dem Regime helfen, die Wirtschaft ein wenig zu beruhigen und finanzielle Mittel zu erlangen, um wichtige Güter wie Mehl, Fleisch, Strom oder Benzin zu subventionieren, damit sie für größere Schichten bezahlbar bleiben. Doch die inhärenten sozialen Ungleichheiten im System bleiben in jedem Fall erhalten. Statt überfälligen Strukturreformen ist eher eine Neuauflage populistischer Wirtschaftspolitik zu erwarten.
Die Angst der Machthaber vor einer erneuten Eruption des Volkszorns bleibt bestehen. Jene Menschen, die 2019 auf die Straße gegangen sind – selbst laut offizieller Angaben 200.000 – haben wenig zu verlieren. Sie lassen sich nicht länger mit dem Schein-Widerspruch zwischen Reformlager und Konservativen aufhalten. Das macht sie unberechenbar und gefährlich für die Machtelite. Dieser fehlt eine Antwort auf die Forderungen der Protestierenden und kann ihnen weder wirtschaftlich noch politisch etwas anbieten.
Dr. Ali Fathollah-Nejad ist Politikwissenschaftler und Autor des jüngst erschienenen Buchs Iran in an Emerging New World Order: From Ahmadinejad to Rouhani. Zuvor war er der Iran-Experte der Brookings Institution in Doha (BDC) und der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP). Er promovierte an der SOAS University of London.
Auf Twitter: @AFathollahNejad
Dr. Arash Sarkohi promovierte an der FU Berlin in politischer Philosophie und arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Deutschen Bundestag. Er veröffentlicht auf Deutsch und Persisch zu iranischer Politik, Kultur und Zeitgeschichte. Ferner übersetzt er deutsche, englische und spanische Literatur ins Persische. Er ist überdies Autor von Der Demokratie- und Menschenrechtsdiskurs der religiösen Reformer in Iran und die Universalität der Menschenrechte(2014).
Auf Twitter: @A_Sarkohi
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Unser Blog möchte eine vielschichtige Debatte zu den iranischen Präsidentschaftswahlen am 18. Juni bieten. Hierzu wirft er Schlaglichter auf Aspekte, die für Iraner*innen im Kontext der Wahlen wichtig sind, ebenso wie auf Grundsätzliches, etwa der Frage nach der Bedeutung von Wahlen in einem autokratischen System. Beachtung finden auch die Perspektiven ausgewählter Regionalakteur*innen.
David Jalilvand ist Analyst und leitet die Berliner Research Consultancy Orient Matters.
Achim Vogt verantwortet das FES-Projekt Frieden und Sicherheit in der MENA-Region.
info.nahost(at)fes.de
V.i.S.d.P.
Achim Vogt