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Die Krise als Chance

Warum die Krise der Globalisierung eine Chance für die Neuausrichtung der Linken ist, erklärt Boliviens Vizepräsident Álvaro García Linera.

Bolivianer_innen mit dem Vizepräsidenten

Bild: Bolivianer_innen mit dem Vizepräsidenten von FES, Fotograf Reiner Zensen

Publikum bei einer Rede von Alvaro Garcia Linera

Bild: Publikum im IAI von FES, Fotograf Reiner Zensen

Álvaro García Linera

Bild: Álvaro García Linera von FES, Fotograf Reiner Zensen

Álvaro García Linera und Peter Birle

Bild: Álvaro García Linera und Peter Birle, IAI von FES, Fotograf Reiner Zensen

Die Globalisierung ist an einem entscheidenden Wendepunkt angelangt, so García Linera in seinem Vortrag im April in Berlin[1]. Seit 2007 gehen die Produktivität und die Finanzströme weltweit zurück und mit ihnen die bis dahin weit verbreitete Ansicht, freier Welthandel führe zu mehr Wohlstand und mehr repräsentativer Demokratie. Möglicherweise sind wir alle Zeugen eines langsamen Ausklingens der Globalisierung. Die  neuen Handelsstrategien der USA oder auch Großbritanniens mit einer neuen protektionistischen Ausrichtung lassen darauf schließen. Andere Länder werben aufgrund der neuen Entwicklungen für noch mehr Freihandel und wieder andere für eine Reform der Globalisierung. Geradezu paradox ist dabei, so García Linera, dass ausgerechnet westliche Mächte, die den freien Markt jahrzehntelang verteidigt haben, nun zum Protektionismus zurückkehren, während zentralisierte Volkswirtschaften wie China in die entgegengesetzte Richtung drängen - zugunsten einer Handelsöffnung. Es fehlt insgesamt derzeit an einer klaren globalen Ausrichtung und Haltung dazu, welche globale Wirtschaftsstrategie verfolgt werden sollte.

Die Krise der Globalisierung als Chance zur Neuausrichtung der Linken

Nach Ansicht des bolivianischen Vizepräsidenten kann die globale Linke diese Lücke füllen, indem sie selbst eine neue Richtung vorgibt. Voraussetzung dafür ist jedoch ein Nachdenken über die Rolle und Entwicklung der Linken. Hier ist ein Umdenken nötig: Linke Parteien haben weltweit viel zu lange die Globalisierung unterstützt, ohne dabei die durch sie mitverursachten sozialen Verwerfungen genügend zu beachten. Da die Linke sich gerade ohnehin in einer Phase des Umdenkens und einem Prozess der kognitiven, diskursiven und organisatorischen Neuorientierung befindet, ist der jetzige Zeitpunkt ideal.

Wirtschaftspolitik als Schlüssel

Um wieder politisch handlungsfähig zu werden, muss die Linke sich laut García Linera vorrangig auf die Wirtschaftspolitik konzentrieren: Sie muss dem Bedürfnis der Bevölkerung nach sozialem Fortschritt Rechnung tragen, für wirtschaftliche Stabilität sorgen und den Gemeinsinn stärken. Denn die Wirtschaft ist der Schlüssel, um soziale Mobilität zu gewährleisten. Dafür ist jedoch auf nationaler Ebene moralische Integrität ebenso nötig wie ein kluges Abwägen zwischen dem Schutz der Madre Tierra und dem Interesse der Bevölkerung an schnellem wirtschaftlichem Fortschritt. Letztlich muss man wohl protektionistische Entscheidungen mit globalisierenden kombinieren sowie auf eine Regulierung der Finanzströme hinarbeiten.

Auch ein basisdemokratischer, pluralistischer und inklusiver Ansatz des Sozialismus und somit eine Beteiligung der Gesellschaft an den Entscheidungen des Staates ist von Vorteil. Bolivien hat damit gute Erfahrungen gemacht. García Linera wünschte sich schließlich mehr internationale Zusammenarbeit und einen Erfahrungsaustausch der globalen Linken zu Themen wie Umwelt und Technologie sowie zu Möglichkeiten der politischen Erneuerung.

Das politische Projekt von Evo Morales: alternativlos?

Im anschließenden Gespräch mit Peter Birle vom IAI stand die aktuelle politische Lage in Bolivien sowie die höchst umstrittene erneute Kandidatur von Evo Morales für das Präsidentschaftsamt bei den Wahlen im Oktober im Mittelpunkt. Nach Ansicht García Lineras ist es der Opposition im Land nicht gelungen, jenseits von personellen Alternativen eine glaubwürdige politische Alternative aufzubauen. In der bolivianischen Gesellschaft wird das gegenwärtige gesellschaftliche Projekt nicht angezweifelt und im Gegenteil von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen. Die Demokratie in Bolivien ist ganz und gar nicht in Gefahr, davon könne man sich bei den anstehenden freien und offenen Wahlen überzeugen.

Fragen aus dem Publikum zielten auch auf die Wirtschaftspolitik ab. Diese ist auf Extraktivismus ausgerichtet, treibt die Ausbeutung von Bodenschätzen wie etwa Lithium voran und missachtet dadurch die Bedürfnisse der Madre Tierra und indigener Bevölkerungsgruppen. Moderator Birle fragte nach dem ökologischen Versprechen der bolivianischen Regierungspartei MAS (Movimiento al Sozialismo). »Um Ungleichheit und Armut zu beseitigen, muss man produzieren bzw. Rohstoffe fördern, wenn man über keine andere Möglichkeit verfügt«, daher ist die Achtung der Madre Tierra zwar grundsätzlich prioritär, kann aber zeitweise zugunsten der Entwicklung eines Landes hintanstehen. Kluges Abwägen zwischen dem berechtigten Schutz von Mutter Erde und den Interessen der Bevölkerung an schnellem wirtschaftlichem Fortschritt ist hier nötig, so García Linera.

Moralische Integrität schützt vor Machtverlust

Mit Blick auf die jüngsten politischen Ereignisse in Lateinamerika, etwa den Ausgang der Wahlen in Brasilien oder Kolumbien, aber auch die Situation in Venezuela, fragte Birle, wie die aufeinanderfolgenden Niederlagen der Linken in Lateinamerika erklärt werden könnten. »Wenn eine linke Regierung an die Macht kommt, weckt sie viele Erwartungen. Wenn fortschrittliche Regierungen keinen Fahrplan haben, um auf diese Erwartungen an sozialen Wandel zu reagieren, gibt es einen sehr schnellen Verschleißprozess«, antwortete García Linera und betonte, dass »der Impfstoff gegen diese rechten Rückflüsse« nur ein gutes Management der Wirtschaft, moralische Integrität und gesunder Menschenverstand sind.

 

[1] Die öffentliche Veranstaltung fand am 10.4.2019 auf Einladung der Friedrich-Ebert-Stiftung am Ibero-Amerikanischen-Institut (IAI) und in Kooperation mit der Botschaft des Plurinationalen Staates Bolivien statt.


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Susanne Stollreiter
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