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Energieversorgung ohne Russland?

Russlands Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 hatte massive Auswirkungen auf die Energieversorgung der EU-Mitgliedsstaaten. Wie genau hat die FES in einer neuen Publikationsreihe analysiert. Im Interview gibt Projektleiter Dr. Ernst Hillebrand Einblicke.

Die Fragen stellte Felix Kösterke.

 

Herr Hillebrand, im Rahmen der Arbeit zur wirtschaftlichen Entwicklung in Mittelosteuropa blickt die Friedricht-Ebert-Stiftung in einer neue Publikationsreihe mit dem Titel „Energy without Russia“ auf  die veränderte Energieversorgung in Europa nach dem russischen Angriff auf die Ukraine. Wie wichtig waren Energieimporte aus Russland vor der Invasion überhaupt für Europa?

 

Russland war in den vergangenen Jahrzehnten zum mit Abstand wichtigsten Energielieferanten der Europäischen Union geworden. Im Jahrzehnt 2010-2020 kamen rund 40 Prozent der europäischen Gas-Importe aus Russland, zudem rund 30 Prozent der Ölimporte und über ein Drittel der Kohleeinfuhren.[i] Im Jahr 2020 stammten 24,4 Prozent der verfügbaren Bruttoenergie in der EU aus russischen Energieträgern, während die inländische Produktion nur 41,7 Prozent des Bedarfs deckte.[ii]

Angesichts dieser Abhängigkeit waren erhebliche Auswirkungen auf Versorgungssicherheit und Energiepreise als Folge von Sanktionen der EU gegen Teile der russischen Energieexporte sowie Russlands Drosselung oder Einstellung von Lieferungen nach Europa zu erwarten. Die Sorgen waren in ganz Europa erheblich: Erinnern Sie sich etwa an die Ängste vor dem Zusammenbruch ganzer Industriezweige oder einem politisch destabilisierenden „Wutwinter“ aufgrund hoher Energie- und Heizkosten.   

 

Angesichts dieser düsteren Aussichten scheinen die EU-Staaten den Schock gut überwunden zu haben. Im Verlauf des aktuellen Jahres sind die Energiepreise sogar teilweise unter das Niveau von vor der Invasion gefallen. War alles also halb so wild?

 

Es gelang den Staaten der EU tatsächlich weitestgehend, die Bevölkerung und Unternehmen mit bezahlbarer Energie zu versorgen, die Preissteigerungen für die Konsumenten zu beschränken und gleichzeitig die Abhängigkeit von russischen Energiequellen drastisch zu verringern. Laut Zahlen der Europäischen Kommission fiel der Anteil Russlands an den Energieimporten der EU zwischen dem 1. Quartal 2022 und dem ersten Quartal 2023 bei Öl von 26% auf 3,2%, bei Gas von 38,8% auf 17,4% , bei LNG von 18.1% auf 13,2% und bei Kohle von 42,1% auf Null.[iii] Nicht nur ist der „Wutwinter“ ausgeblieben, auch die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Entkoppelung von russischen Energielieferungen blieben bisher in allen hier untersuchten Ländern einem überraschend beherrschbaren Rahmen.

Und dies ist trotz teilweise extrem unterschiedlicher Ausgangslagen gelungen: Litauen bezog beispielsweise fast seine gesamte Energie aus Russland während Spanien nur zu einem niedrigen einstelligen Prozentsatz auf russische Energieimporte angewiesen war. Küstenstaaten mit ausgebauter Hafen- und LNG-Infrastruktur stehen Binnenländer gegenüber, die auf die Versorgung über Pipelines angewiesen bleiben und teilweise über eingeschränkte Potentiale für erneuerbare Energien verfügen.

 

Gab es dabei trotz der Unterschiede zwischen den EU-Staaten ein passendes Rezept für alle, eine „one-size-fits-all“-Lösung?

 

Die unmittelbaren Reaktionen der Staaten auf die Ereignisse nach dem 24.2.2022 glichen sich weitgehend: Im Vordergrund stand das Bemühen, die Preissteigerungen für Energie abzufedern, den Verbrauch zu reduzieren und sowohl Wirtschaft wie Privathaushalte vor einer finanziellen Überforderung zu stützen. Zugleich begann eine intensive Suche nach alternativen und zusätzlichen Versorgungsquellen. Seetransportable Energierohstoffe aus Russland wie LNG, Öl und Kohle waren leichter zu ersetzen als solche mit pipelinegebundenen Versorgungswegen. Teilweise seit längerem existierende Initiativen, die Abhängigkeit von russischen Importen zu reduzieren, wurde mit noch größerem Engagement vorangetrieben.

 

Ihre letzten beiden Punkte hören sich fast so an, als sei das Problem einer Energieversorgung in Europa ohne Russland bereits gelöst?

 

Diese Aussage halte ich für verfrüht. Die mittelfristigen Auswirkungen bleiben noch unklar. In allen Ländern, die wir untersucht haben, führten die Folgen des Ukraine-Kriegs auch zu einer Debatte um eine Neuausrichtung der Energiepolitik und vor allem der Energie-Infrastruktur. Dort, wo Pipeline-Gas weiterhin wichtig sein wird, geht es um eine verstärkte Anbindung an alternative Pipelines und eine verstärkte Ausrichtung auf Gasimporte aus Ländern wie Norwegen, Aserbaidschan oder Algerien. Die LNG-Infrastruktur wird in vielen Ländern ausgebaut. Aber auch grundsätzlichere Entscheidungen sind zu fällen: Die Abkoppelung von russischen fossilen Brennstoffen führt dazu, noch einmal grundsätzlich die Frage nach dem zukünftigen Energiemix in den Ländern der EU zu diskutieren. Das Interesse und die Akzeptanz von erneuerbaren Energiequellen ist nach Einschätzung der Autor_innen in verschiedenen Ländern gestiegen. Dies gilt aber auch für Kernenergie, die nicht zuletzt auch im Lichte der Entwicklungen seit dem Februar 2022 in einer Reihe von Staaten wieder stärker in das Zentrum des Interesses gerückt ist. Und natürlich steht in einigen Ländern, nicht zuletzt Deutschland, immer noch die Frage im Raum, wie in den kommenden Jahren ohne russische fossile Brennstoffe Energie zu tatsächlich wettbewerbsfähigen Preisen auch für die Industrie zur Verfügung gestellt werden kann.

 

Zu Beginn der russischen Invasion wurden die Erneuerbaren zu „Freiheitsenergien“ deklariert. Ist es gelungen aus der Not eine Tugend zu machen und fossile russische Energieträger durch grüne Technologien zu ersetzen?

 

Die ökologische Bilanz ist bisher eher durchwachsen: Zwar fiel insgesamt im Jahr 2022 der Ausstoß an CO2 zur Energiegewinnung in der EU um 2,8%;[iv] aber gleichzeitig stiegen die Kohleproduktion und der Kohleverbrauch in der EU weiter an und erreichten 349 Millionen Tonnen (+5% gegenüber dem Vorjahr) bzw. 454 Millionen Tonnen (+2%).[v] Dies lag nicht zuletzt auch an der Steigerung der Braunkohleproduktion in Deutschland, das mit 131 Mi. Tonnen Braunkohle im Jahr 2022 für 44% der europäischen Produktion dieser besonders CO2-intensiven Energiequelle steht. Von einer schönen neuen Welt, in der wir nicht mehr von russischer Energie abhängig sind und unseren Bedarf CO2 neutral decken können, bleiben wir also noch ein gutes Stück entfernt.

 

Alle Länderstudien finden Sie hier: https://eastern-europegrowth.fes.de/energie-studien

 

Dr. Ernst Hillebrand ist Leiter des Projekts „European Economies of the East“ der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest. Zuvor leitete er das Referat Internationale Politikanalyse, das Referat für Mittel und Osteuropa und war als Büroleiter für die FES in Warschau, Paris, London und Rom.

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Disclaimer:

Die vorliegenden Länderstudien wurden von Energieexpert_innen aus den jeweiligen Ländern selbst verfasst. Die Aufgabe der Papiere ist es nicht, die Energiepolitik dieser Länder in Tiefe zu analysieren. Vielmehr geht es darum, den Leser_innen einen Überblick darüber zu geben, wie die Regierungen dieser Staaten die Versorgungskrise und den Umbau der Energieversorgung bisher gemanagt haben und was die aktuellen Überlegungen bezüglich zukünftiger Energiepolitik sind.  Viele Autor_innen hätten sich eine kritischere und analytischere Übung gewünscht –im vorliegenden Fall stand für die FES aber die Information über das faktisch geschehene im Vordergrund - und nicht die Debatte über das aus jeweiliger Autor_innensicht wünschenswerte. Die Papiere wurden im Frühsommer 2023 geschrieben und stellen den Sachstand dieses Moments dar.


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