Mittelpunkt gesellschaftlich-ökologischer Konflikte in Chile sind seit Jahrzehnten die so genannten „Opferzonen“, d.h. Gebiete mit intensiver Industrieproduktion, für die vorrangig Energie aus Kohlekraftwerken genutzt wird. Diese Zonen befinden sich in der Regel in Gegenden, in denen Menschen mit Niedrigeinkommen und Angehörige von Minderheiten leben. Folglich müssen wir bei der Diskussion um die Energiewende die entsprechenden Auswirkungen auf die am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen berücksichtigen.
Eine auf der COP27 vom Global Carbon Project vorgestellte Studie kommt zu dem Ergebnis, dass die weltweiten Kohlendioxidemissionen aus fossilen Brennstoffen im Jahr 2022 ihren Höhepunkt erreichen werden. Dem Bericht zufolge haben besagte Emissionen in diesem Jahr um ein Prozent zugenommen. Außerdem war Kohle im selben Jahr für etwa 40 Prozent der weltweiten fossilen CO2-Emissionen verantwortlich. Seit Jahrzehnten stehen Orte in Nord- und Zentralchile im Fokus gesellschaftlich-ökologischer Konflikte, die vor allem auf die intensive Kohleverstromung in diesen industriell geprägten Gebieten zurückzuführen sind. Bekannt sind diese Orte gemeinhin als „Opferzonen“.
Wichtiges Thema bei der Reduzierung der Kohlenstoffemissionen ist die globale Temperatur. Es geht aber auch um den Schutz der von der Klimakrise am stärksten betroffenen Bevölkerungsgruppen. Die weniger als drei Stunden von Santiago entfernt gelegene Stadt Quintero-Puchuncaví in der Region Valparaíso ist bereits mehrfach von Verseuchungen und Verschmutzungen heimgesucht worden. Im Jahr 2018 wurden fast 600 Menschen mit ungewöhnlichen Symptomen wie Erbrechen von Blut, Kopfschmerzen, Schwindel, Lähmungen der Gliedmaßen sowie seltsamen Schwellungen auf der Haut von Kindern ins Krankenhaus eingeliefert. Zwischen August und September dieses Jahres traten mindestens drei solcher Fälle auf.
„Der Globale Norden setzt viel mehr CO2-Emissionen frei als der Globale Süden. Diese Ungleichheit in Bezug auf das Klima setzt sich auch auf nationaler Ebene fort. Diejenigen mit dem günstigsten wirtschaftlichen Umfeld sind auch diejenigen, die die meisten Umweltprobleme verursachen. Insbesondere die in den Opferzonen lebenden Menschen leiden am meisten unter den Folgen dieser Situation“, sagt Dr. Ezio Costa, Rechtswissenschaftler an der Universidad de Chile und Geschäftsführer der Umwelt-NRO FIMA.
Die Koordinatorin der chilenischen Greenpeace-Kampagne, Estefanía González, ist ebenso der Ansicht, dass der globale Diskurs über die Reduzierung fossiler Emissionen auch Auswirkungen auf lokaler Ebene hat. „Wenn wir über die Dekarbonisierung und Defossilisierung der Wirtschaft sprechen, hat das nicht nur Auswirkungen auf globaler, sondern auch auf lokaler Ebene“, erklärt González.
Obwohl die „Opferzonen“ nicht zu den Themen gehören, die auf der COP27 verhandelt werden, sind sie für Länder wie Chile von entscheidender Bedeutung. Auch wenn das Thema nicht Teil der COP27-Verhandlungen ist, gibt es dennoch einen Zusammenhang zwischen den globalen Umweltverpflichtungen der Länder und ihren lokalen Strategien. Die Regierung unter Gabriel Boric, der im März dieses Jahres sein Amt antrat, hat es sich von Anbeginn zum Ziel gemacht, die erste „ökologische“ Regierung Chiles zu sein. Umweltschutz und Klimakrise standen daher vom ersten Tag an mit auf ihrem Programm. Vier Monate nach seinem Amtsantritt verkündete Gabriel Boric die Schließung der Kupferschmelze Ventanas I, die dem staatlichen Bergbauunternehmen Codelco mit Sitz in Quintero gehört. Grund waren neue Vergiftungsfälle in der Bevölkerung. Die Entscheidung war wichtig für die Stadt, auch wenn weiterhin Fälle zu verzeichnen sind, erklärt Katta Alonso, Umweltaktivistin und Leiterin der Organisation Mujeres de Zona de Sacrificio Quintero Puchuncaví en Resistencia. „Es hat eine ganze Reihe von Präventivinitiativen und -maßnahmen gegeben, aber wir sehen immer noch keine Anzeichen dafür, dass die Opferzonen beseitigt werden. Dazu gilt es die Vorschriften zu ändern, neue Normen zu schaffen und andere, die seit 20 oder 30 Jahren nicht mehr aktualisiert wurden, auf den neusten Stand zu bringen“, erklärt Alonso mit Blick auf die Regierungsarbeit der letzten Monate.
Im Oktober kündigte das Umweltministerium die Gründung des „Amts für den gesellschaftlich-ökologischen Wandel“ an, eine Initiative, die neben anderen Maßnahmen darauf abzielt, die „Opferzonen“ in Chile in „Übergangszonen“ umzuwandeln. „Was Umweltgerechtigkeit in einem solchen Fall erforderlich machen würde, sind im Rahmen des Übergangs bzw. Wandels eine neue Art der Energieerzeugung und hoffentlich auch eine neue Produktionsweise und ein anderes Konsumverhalten sowie Entschädigungen für die vom System Betroffenen“, meint Ezio Costa.
Estefanía González ihrerseits kritisiert die Rolle, die Regierungsvertreter_innen in Chile gespielt haben. „Chile hat geringere Emissionen als andere Länder, aber wir wissen, dass ein Energiesystem, das auf der Verbrennung fossiler Brennstoffe basiert, Auswirkungen auf die in Chile lebenden Menschen hat. Chiles nationaler Klimabeitrag (NDC) ist nicht nur unzureichend, sondern verdammt die Opferzonen zu weiteren 20 Jahren Kohle. Wir hätten erwartet, dass eine Regierung, die sich das Ende der Opferzonen auf die programmatischen Fahnen geschrieben hat und die sich selbst als ökologische Regierung bezeichnet, zu dieser COP mit einem anderen Vorschlag im Gepäck kommt als demjenigen, der eigentlich von der Regierung Sebastián Piñeras vorgelegt wurde“, stellt sie abschließend fest.