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Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge!

Zum Einsatz einer Enquete-Kommission "Fluchtursachen" befragten wir Dr. Cornelia Füllkrug-Weitzel, Präsidentin von Brot für die Welt.

FES: 146 Träger_innen des Bundesverdienstkreuzes fordern eine Enquete-Kommission* „Fluchtursachen“ einzusetzen. Was hat Sie persönlich zu diesem Aufruf bewegt?

Füllkrug-Weitzel: Als Präsidentin des evangelischen Hilfswerks Brot für die Welt und der Diakonie Katastrophenhilfe bin ich seit vielen Jahren mit der Erfahrung von Vertreibung und Flucht konfrontiert. Oft habe ich Orte besucht, an denen Flüchtlinge und Vertriebene Schutz suchen, mit vielen Betroffenen konnte ich sprechen. Die Notlagen, in denen sich die Menschen auf der Flucht befinden, scheinen oft unerträglich. Die Begegnung und der Austausch mit den Menschen sind sehr wichtig. Sie helfen zu verstehen, dass die Gründe für Vertreibung und Flucht komplex und sehr unterschiedlich sind und, dass wir in Deutschland einen besseren Umgang mit dem Thema Fluchtursachen finden müssen.

Flucht bedeutet stets ein Entkommen aus entwürdigenden und gewaltsamen Lebenssituationen, für die kein Ende absehbar ist. Allein, weil das Phänomen Flucht in den letzten Jahren so rasant zugenommen hat, ist eine Enquete-Kommission geboten. Wir brauchen sie, um besser zu verstehen, wie Kriege und gewaltsame Konflikte entstehen und wie wir dazu beitragen können, sie frühzeitig zu verhindern oder zu deeskalieren. Zudem müssen dringend Menschenrechtsverletzungen sowie plötzliche oder schleichende Umweltveränderungen als Ursachen von Flucht in den Fokus von Politik rücken, auch hier hilft die Enquete-Kommission.

Wie soll sich die Kommission zusammensetzen?

Die Enquetekommission sollte Expertise aus unterschiedlichen Bereichen zusammenbringen. Wichtig ist, dass neben Bundestagsabgeordneten, Wissenschaftler_innen (Friedensforscher_innen, Entwicklungssoziolog_innen) auch Sachverständige einbezogen werden, die Erfahrung aus den Regionen mitbringen, wo Flucht und Vertreibung geschehen - also z.B. humanitäre Akteur_innen, Entwicklungsorganisationen, Zivilgesellschaft, im Idealfall auch Geflüchtete selbst und Vertreter_innen von Diaspora-Organisationen. Das Besondere an Enquete-Kommissionen ist, dass diese zur Hälfte mit Abgeordneten und zur Hälfte mit Wissenschaftler_innen und Fachleuten besetzt werden müssen.

Der Koalitionsvertrag von Union und SPD hat die Idee einer solchen Kommission aufgegriffen, aber leider offen gelassen, welchen Charakter diese haben soll. Es ist nur sehr allgemein von der Einrichtung einer „Kommission Fluchtursachen im Deutschen Bundestag“ die Rede. Wir legen größten Wert darauf, dass es sich dabei um eine Enquete-Kommission nach Paragraph 56 der Geschäftsordnung handelt.

In Ihrem Aufruf heißt es: „Die Kommission soll untersuchen, wie Deutschland weltweit zu Fluchtursachen beiträgt“. Welche Fluchtursachen sind damit gemeint?

Deutschland ist sicherlich nicht in der Lage, die Fluchtursachen weltweit zu beheben. Aber Armut und Gewaltkonflikte sind oft mehr oder weniger direkt mit der Politik unseres Landes oder der EU, unserem Lebensstil und dem Konsumverhalten in Deutschland verbunden. Es muss dringend thematisiert werden, inwiefern die Tatsache, dass Deutschland der drittgrößte Waffenexporteur weltweit ist, dazu beiträgt, Krisen zu verstärken. Auch sollte die Enquete-Kommission untersuchen, inwieweit eine wenig ambitionierte deutsche Klimapolitik dazu beiträgt, andernorts Lebensbedingungen zu verschärfen und zu zerstören. Ein weiteres Beispiel ist die großzügige Subventionierung von Agrarprodukten, die den Export in Entwicklungsländer zu äußerst günstigen Preisen ermöglicht. Dort können die lokal angebotenen Waren häufig nicht mit den Importen konkurrieren. Lokale Märkte werden zerstört, Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten gehen verloren. Derlei Fragestellungen müssen von der Enquete-Kommission lösungsorientiert erörtert werden.

Sie fordern: „Fluchtursachen, nicht Flüchtlinge bekämpfen!“. Inwieweit ist das auch als Kritik am bisherigen Ansatz der Fluchtursachenbekämpfung zu verstehen?

Die Flüchtlings- und Migrationspolitik Europas darf nicht länger in Kauf nehmen, dass jährlich tausende Menschen an den Außengrenzen sterben oder brutale Gewalt erleben. Unter der Etikettierung „Fluchtursachenbekämpfung“ werden derzeit Grenzen aufgerüstet und Schutzsuchende regelrecht an der Flucht gehindert. Die Verlagerung europäischer Abwehr in Entwicklungsländer, die keine rechtsstaatlichen Garantien oder Menschenrechtsschutz gewährleisten, erhöht die Gefahr der Misshandlung und willkürlichen Behandlung von Schutzsuchenden und Migrant_innen. Wichtig ist,  zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich in Transit- und Herkunftsstaaten für Menschenrechte und Migrant_innen engagieren, in ihrer Rolle des kritischen Monitorings der Auswirkungen europäischer Migrationspolitik zu stärken. Entwicklungshilfe darf nicht als Zahlungsmittel für Hilfsdienste eines ausgelagerten Grenzschutzes missbraucht und an Bedingungen geknüpft werden, die mit nachhaltigen Entwicklungszielen definitiv nicht vereinbar sind. Statt mit Entwicklungsmitteln Kooperationsbereitschaft bei der Migrationskontrolle zu erzwingen, sind entwicklungsfördernde Aspekte der Migration zu unterstützen. Gleichzeitig sind die Wirtschafts-, Finanz- und Handelspolitik so zu gestalten, dass sie die ökologischen und ökonomischen Lebensgrundlagen schützen und nicht unterminieren.

Die Kommission soll Maßnahmen und gesetzliche Initiativen vorschlagen, um Deutschlands Verantwortung gerecht zu werden. Welche Maßnahmen und Gesetze wären dabei vorstellbar?

Hier sind an vielen Stellen Maßnahmen denkbar. Besonders relevant ist neben einer restriktiven Rüstungsexportpolitik und einem verbindlichen, nachhaltigen Klimaschutz, dass der Nationale Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte vom Dezember 2016 in verbindliche gesetzliche Haftungsregelungen für transnationale Unternehmen übersetzt wird, um die Rechte der Menschen in Produktionsstätten und Zulieferbetrieben im Ausland zu schützen.

Was kann Deutschland alleine verändern? Braucht es nicht einen internationalen Ansatz?

Ja, das Engagement beim Thema Fluchtursachen sollte immer auch in Übereinstimmung mit internationalen Bemühungen erfolgen. Deutschland ist hier ein sehr wichtiger Impulsgeber. Wenn sich ein wirtschaftlich starker Staat wie die Bundesrepublik ambitioniert und engagiert zeigt bei der Einhaltung der Genfer Flüchtlingskonvention, der Erreichung der Nachhaltigen Entwicklungsziele Vereinten Nationen, der Schaffung der Global Compacts für Migration und Flüchtlinge, im ambitionierten Klimaschutz, dann ist das Vorbild und Ansporn für andere Staaten, dies ebenfalls zu tun.

 

Pfarrerin Dr. h. c. Cornelia Füllkrug-Weitzel (MA) leitet seit dem Jahr 2000 die evangelischen Hilfswerke Brot für die Welt und die Diakonie Katastrophenhilfe, zunächst als Direktorin, seit 2012 als Präsidentin.

Kontakt in der FES: Felix Braunsdorf, FES-Referent für Migration und Entwicklung
 

*Eine ENQUETE-KOMMISSION ist ein Gremium des Deutschen Bundestages, das sich aus Abgeordneten aller Fraktionen sowie externen Sachverständigen zusammensetzt und sich mit einem bestimmten Themenkomplex oder eine kontroversen Fragestellung auseinandersetzt. Sie wird einberufen, wenn mindestens ein Viertel aller Bundestagsabgeordneten dies fordert. Ihre Mitglieder befassen sich intensiv mit komplexen Sachverhalten und verfassen einen konsensorientierten Abschlussbericht. Dieser dient als Informationsgrundlage für die Abgeordneten, enthält Empfehlungen und bereitet legislative Entscheidungen vor. Die Arbeit einer Enquete-Kommission kann sich über mehrere Jahre erstrecken.


Dr. Johannes Crückeberg

030 26935-8332
Johannes.Crueckeberg(at)fes.de

Marcus Hammes

0228 883-7149
Marcus.Hammes(at)fes.de

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