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Teilhabe: Viele Schritte zurück statt nach vorne

Wie sieht es bei der Teilhabe von Menschen mit Behinderung in unserer Gesellschaft aus? Schlecht. Das war das Fazit bei der Online-Veranstaltung „Fünf Jahre Bundesteilhabegesetz: Segen oder Fluch?“ der Friedrich-Ebert-Stiftung Bayern am 22. März. Dabei sollte das neue Bundesteilhabegesetz, das 2016 vom Bundeskabinett beschlossen wurde und bis 2023 vollständig umgesetzt werden soll, eigentlich viele Vorteile bringen. Das erklärte Ziel des Gesetzespakets war es, mehr Teilhabe und Selbstbestimmung für Menschen mit Behinderung zu schaffen. Doch davon sei die deutsche Gesellschaft noch meilenweit entfernt, so die Diskutant_innen der Veranstaltung.

 

Kritikpunkt Nummer eins: Die Beantragung von Leistungen wie Pflegeunterstützung, Hörhilfen oder Begleitungsdiensten funktioniere nur mangelhaft. Dabei sollten die Anträge für die Betroffenen mit mit dem neuen Gesetz eigentlich einfacher werden. Statt wie früher mehrere, ist jetzt mit den Bezirken nur noch eine Stelle für die Bewilligung von Teilhabeleistungen zuständig. „Das ist eigentlich eine gute Sache“, sagt Sibylle Brandt, Landesvorsitzende der AG Selbst Aktiv Bayern. Aber die Formulare zum Beantragen der Leistungen seien viel zu kompliziert formuliert. „Das Ausfüllen ist oft der Wahnsinn. Es ist für Menschen die körperlich, geistig oder psychisch beeinträchtigt sind, fast nicht machbar“, bekräftigt auch Stephan Neumann, Mitglied in der AG Selbst Aktiv Brandenburg. Brandt und Neumann wünschen sich Formulare in leichter Sprache und zudem auch in anderen Sprachen außer Deutsch. Außerdem agiere jeder Bezirk in Bayern unterschiedlich bei der Bewilligung der Leistungen, erzählt Thomas Bannasch, Geschäftsführer der LAG Selbsthilfe Bayern e.V.. Von einheitlichen Standards, die das Bundesteilhabegesetz eigentlich vorsähe, sei die Praxis meilenweit entfernt. „Das darf so nicht sein“, sagt Ruth Waldmann, bayerische SPD-Landtagsabgeordnete und stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit und Pflege im Bayerischen Landtag. Sie werde bei der Staatsregierung darauf dringen, diese Probleme abzustellen.

Betroffene kritisierten in der Veranstaltung zudem, dass die Bearbeitung ihrer Anträge sehr lange dauere, viel länger als die gesetzlich dafür vorgesehenen Fristen. Viele Anträge würden dann nicht bewilligt, etwa Begleitdienste zu Ausbildungsstätten oder Assistenzhunde. „Die meisten Betroffenen sind bei einem negativen Bescheid völlig verzweifelt und wissen nicht, an wen sie sich wenden können“, sagt Ulrike Mascher, Landesvorsitzende des Sozialverbands VdK Bayern. Die Rechtsberater_innen der VdK hülfen in solchen Fällen weiter. Der Klageweg gegen einen negativen Bescheid stünde zum Beispiel immer offen, doch dieser sei meistens sehr langwierig.

Oft existiere großes Unwissen bei den Beamt_innen der Bezirksverwaltungen, die die Anträge bearbeiten, berichtet Benedikt Stegner vom Verein Aktives Leben für Menschen mit Behinderung in Regensburg. Viele Sachbearbeiter_innen wüssten zum Beispiel nicht, wie sie welche Leistung zuordnen müssten. Beispiel Assistenzhunde: Kommt für die Kosten die Pflege- oder die Krankenkasse auf? Auf diese Frage wüssten viele BeamtInnen der Bezirke keine Antwort. Manche Bezirksverwaltungen hätten ihre Mitarbeitenden in Sachen Eingliederungshilfe schon geschult, andere nicht. Ein weiterer Kritikpunkt, der von Betroffenen in der Veranstaltung vorgebracht wird: Die sogenannten „Persönlichen Budgets“, die dazu dienen sollen, dass alleinlebende behinderte Personen am öffentlichen Leben teilnehmen können, würden nur in den allerseltensten Fällen bewilligt.

Richard Gaßner, seit 24 Jahren Bezirksrat in der Oberpfalz, ist über diese Missstände geschockt. Bei ihm und seinen Bezirksratskolleg_innen kämen Informationen über diese Probleme der Betroffenen bei der Bewilligung der Leistungen nicht an, sagt er. „Wir genehmigen immer wieder neue Planstellen für die Bezirksverwaltungen und dann muss ich hören, dass es mit der Bewilligung der Leistungen so schlecht funktioniert, das finde ich echt traurig“, sagt er. Er wünscht sich eine bessere Kommunikation zwischen Trägern der Eingliederungshilfe, den Betroffenen und den Bezirksrät_innen. „Wenn wir nicht wissen, wo es hakt, können wir auch nichts verbessern“, sagt er.

Thomas Bannasch gibt zu bedenken, dass die Corona-Pandemie die Umsetzung des Bundesteilhabegesetzes, das eigentlich bis 2023 vollständig umgesetzt sein sollte, massiv verzögert habe. „Eine ehrliche Bewertung der Reform kann erst erfolgen, wenn alles umgesetzt wurde“, sagt er. Eine positive Entwicklung zeige sich aber schon jetzt: Personen mit Beeinträchtigungen oder Behinderung, die nicht in einer speziellen Tages- oder Werkstätte für behinderte Menschen, sondern auf dem „normalen“ Arbeitsmarkt arbeiteten und dabei Assistenz brauchen, können nun mehr von ihrem Vermögen und ihrem Gehalt behalten.

Was nehmen die Diskutant_innen aus der Veranstaltung mit? Wo möchten sie in Zukunft verstärkt anpacken? SPD-Landtagsabgeordnete Ruth Waldmann möchte sich dafür einsetzen, dass ein Teilhabeverfahrensbericht, der über die bewilligten Leistungen Auskunft gibt, obligatorisch von den Bezirken angefertigt werden muss. „Das würde die Transparenz massiv erhöhen, wo es bei der Bewilligung der Leistungen hakt“, sagt sie. Außerdem möchte sie in Erfahrung bringen, warum nur so wenige der beantragten „persönlichen Budgets“ bewilligt würden und ob die Schaffung von individuellem Wohnraum für behinderte Personen tatsächlich realisiert wird, wie von der Staatsregierung angekündigt. Thomas Bannasch möchte die Bedarfsermittlung für die Teilhabeleistungen auf einen guten Weg bringen und dafür die Antragssteller gut qualifizieren, so dass diese die individuellen Bedarfe der Betroffenen berücksichtigen können. Sibylle Brandt wird sich dafür einsetzen, dass wie Ministerpräsident Markus Söder versprochen hat, Bayern tatsächlich bis 2023 barrierefrei wird. Dafür, das zeigte die Veranstaltung, ist auf jeden Fall noch viel zu tun.

(Bericht zur Veranstaltung am 22.3.2022 von Dr. Julia Egleder)

 

 


Zur PowerPointPräsentation von Sibylle Brandt und Stephan Neumann: Präsentation_5 Jahre Bundesteilhabegesetz

 



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