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Mit grausamen Terrorangriffen hat die Hamas einen neuen Krieg im Nahen Osten begonnen. Israel bombardiert als Reaktion den von der Terrormiliz kontrollierten Gaza-Streifen und hat eine Rekordzahl an Reservist_innen mobilisiert. Im Zeitenwende-Interview blicken wir mit dem Leiter unseres Regionalprojekts für Frieden und Sicherheit im Nahen Osten Marcus Schneider auf die aktuellen Entwicklungen.
Die Fragen stellte Felix Kösterke.
Die radikalislamische Hamas hat aus dem Gaza-Streifen heraus ganze Städte und Ortschaften in Südisrael angegriffen und dort zahlreiche Zivilist_innen ermordet und verschleppt. Wie konnten die israelischen Sicherheitskräfte von einem solchen Angriff so überrascht werden und wie ist die aktuelle israelische Reaktion einzuschätzen?
Die Sicherheitskräfte wurden tatsächlich komplett von der Entwicklung überrascht. Ein so nie dagewesenes Geheimdienstversagen. Die Art der Angriffe übersteigt die schlimmsten Horrorvorstellungen des jüdischen Staats, es ist das schlimmste Massaker an Juden seit 1945. Israel erlebt einen 09/11-artigen Moment und steht psychologisch unter Schock.
Das Risiko in einer solchen Situation sind irrationale Überreaktionen. Die Art und Weise wie nun in den Gazastreifen einmarschiert werden soll, wird sehr wahrscheinlich zu einer humanitären Katastrophe für die dortige Zivilbevölkerung führen. Der extreme Hass der Hamas-Terroristen, der sich im Abschlachten wehrloser Menschen so grausam offenbarte, wächst auch auf dem Nährboden der politischen Perspektivlosigkeit. Obgleich man Israels Verlangen nachvollziehen kann, diese Organisation nun auszuschalten, stellt sich die Frage ob es noch einen politischen Prozess gibt, der irgendwann einen Ausweg aus dem Kreislauf an Hass, Gewalt und Perspektivlosigkeit weist.
Israels Premierminister Netanjahu hat sich in der Vergangenheit als sicherheitspolitischer Hardliner profiliert. Jetzt ist es unter seiner Führung zum größten Verlust Israelischer Leben seit der Staatsgründung gekommen. (Wie) Wird dieser Angriff Israel und sein Auftreten in der Region verändern?
Netanyahu steht innenpolitisch extrem unter Druck, nicht nur durch die liberale Protestbewegung, sondern auch durch seine rechtsradikalen Koalitionspartner. Er wird nun versuchen, seinen angeschlagenen sicherheitspolitischen Ruf durch brutalstmögliches Vorgehen wiederherzustellen. Es geht für ihn darum, die Abschreckungsfähigkeit Israels wiederherzustellen.
Je nachdem wie brutal die Bilder aus Gaza ausfallen, wird der Normalisierungsprozess mit der arabischen Welt, allem voran mit Saudi-Arabien, wohl zumindest temporär auf Eis gelegt. Bestimmend bleibt außenpolitisch die Gegnerschaft zur Teheran-geführten radikal-islamistischen sog. „Achse des Widerstands“. Das Risiko dabei ist, dass es zu einer regionalen Eskalation kommt, aber auch dass eine Überreaktion in Gaza bei den arabischen Bevölkerungen die anti-israelischen Einstellungen verstärkt.
Was bedeutet der aktuelle Konflikt für die Versuche der israelischen Regierung den Konflikt mit den Palästinensern zu managen und gleichzeitig ihre Beziehungen zu den arabischen Staaten der Region zu normalisieren?
Das „Managen“ des Konflikts ist gescheitert. Das bedeutet angesichts der politischen Kräfteverhältnisse in Israel jedoch keine Rückkehr zu Verhandlungen, zumal auch auf palästinensischer Seite derzeit kein legitimer Verhandlungspartner existiert. Die israelische Regierung hat auch schon vor den jüngsten Terrorangriffen jegliche Lippenbekenntnisse zu einer gerechten Zweistaatenlösung verweigert, auf palästinensischer Seite wird diese von Hamas ebenso abgelehnt. Es ist davon auszugehen, dass die rechtsradikalen Kräfte in Netanyahus Kabinett jetzt auf extremere Lösungen setzen, d.h. die Vertreibung der Palästinenser. Die nun verkündete Komplettblockade Gazas („kein Wasser, kein Strom, kein Essen, kein Benzin“) ist womöglich ein Test, wie weit man gehen kann bis die Menschen fliehen. Dass dies auch im 21. Jahrhundert ohne größeren Aufschrei gelingen kann, zeigte vor nicht mal einem halben Monat die ethnische Säuberung Berg-Karabachs.
Die Hamas wird genauso wie die Hisbollah im Libanon von Iran unterstützt. Der iranische Revolutionsführer Khamenei hat die Angriffe begrüßt. Besteht die Gefahr, dass der Konflikt sich zu einem regionalen Flächenbrand unter Einbeziehung Irans ausbreitet?
Diese Gefahr besteht ab dem Zeitpunkt, ab dem die Hisbollah aktiv in den Krieg einsteigt und diese Feindseligkeiten derart eskalieren, dass Israel auch im Südlibanon einmarschiert. Die Islamische Republik Iran wird dann sehr wahrscheinlich nicht zusehen, wie Hisbollah geschwächt oder gar militärisch zerstört wird, sondern selbst in den Krieg eintreten.
Damit droht neben dem Libanon die Ausweitung auf Syrien, Irak und die ganze Golfregion, da in diesem Fall auch die Amerikaner auf Seiten Israels in den Krieg einsteigen dürften. Bereits jetzt verlegen sie Truppen Richtung Israel.
Derzeit steht zu hoffen, dass diese Horrorszenarien noch abgewendet werden kann, sofern weder die Hisbollah noch Israel die Nerven verlieren und sich in Teheran die Kräfte durchsetzen, denen der Preis einer solch unkalkulierbaren Eskalation zu hoch erscheint. Sicher ist dies allerdings nicht. Die Tatsache, dass ein Sprecher des israelischen Militärs verkündet hat, dass keine direkte Verbindung des Iran zu den Attacken auf Israel besteht, lässt uns hoffen, dass es nicht zu einer solchen Ausweitung des Konflikts kommt.
Welche Rolle sollten Deutschland und seine Verbündeten in Europa nun versuchen einzunehmen?
Die Europäer sollten gleichzeitig auf Abschreckung und Deeskalation setzen. Israel für den Fall eines großen Krieges die Solidarität aussprechen und dies auch militärisch untermauern, selbst wenn die Kapazitäten hier begrenzt sind. Gleichzeitig jedoch auf es einwirken, den Konflikt auf Gaza begrenzt zu halten und humanitäres Völkerrecht zu respektieren, um nicht dazu beizutragen, dass es einen emotionalen Spill-Over in der Region gibt. Und über die offenen Kanäle nach Teheran die Nachricht senden, dass Europa einen großen Krieg zwar nicht will, für den Fall einer Eskalation jedoch eng an der Seite des jüdischen Staates stehen würde.
Realistischerweise sind die Europäer in diesem Szenario allerdings kein bestimmender Akteur. Es gilt in erster Linie, sich mit den Amerikanern zu koordinieren. Der US-Regierung unter Joe Biden ist eine besonnene Politik zuzutrauen. Amerika hat in der Ukraine und Ostasien andere Baustellen, die eigentlich wichtiger sind.
Wie könnte die aktuelle Eskalation die Arbeit der FES für Frieden und Sicherheit in der Region in Zukunft beeinflussen?
Im Angesicht direkter Gewaltanwendung sind die Möglichkeiten der FES leider begrenzt. Falls es tatsächlich zu einer regional entgrenzen Eskalation käme, wären wir sehr unmittelbar damit beschäftigt, unsere Mitarbeiter, Familien und uns selbst aus dem Libanon zu evakuieren.
Marcus Schneider leitet das FES-Regionalprojekt für Frieden und Sicherheit im Mittleren Osten mit Sitz in Beirut, Libanon. Zuvor war er für die FES unter anderem als Leiter der Büros in Botswana und Madagaskar tätig.
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