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Das Narrativ von einer Systemrivalität zwischen Demokratie und Autokratie führt nicht weiter. Zur Zukunft Europas in einer internationalen Ordnung, die an den Grundfesten der eigenen Werte rüttelt.
Der russische Angriffskrieg hat die strategische Umgebung Deutschlands in Europa grundlegend verändert. Innerhalb kürzester Zeit müssen die eigene Wehrhaftigkeit gestärkt, die Energieversorgung von Russland entkoppelt, Versorgungsengpässe und Preissteigerungen abgefedert werden. Beim Stemmen solcher Herkulesaufgaben gerät leicht aus dem Blick, dass sich hinter dem Horizont Europas die Grundfesten der Welt verschieben. Große Teile des Globalen Südens weigern sich, den russischen Angriffskrieg zu verurteilen. Die BRICS-plus-Staaten wollen ihre Abhängigkeit vom US-Dollar vermindern. Der Krieg in der Mitte Europas ist eingebettet in den globalen Wettstreit um die nächste Weltordnung. Mit dem Aufstieg neuer Großmächte, allen voran China, relativiert sich die historisch außergewöhnliche Machtkonzentration auf die Hypermacht USA. Der unipolare Moment nach dem Triumph des Westens im Kalten Krieg ist unwiderruflich vorüber. In Zukunft werden größere und kleinere Machtzentren die Geschicke des Planeten – oder zumindest ihrer Regionen – mitgestalten.
Noch ist nicht absehbar, ob sich daraus eine bi-oder eine multipolare Welt entwickelt. Es ist nicht auszuschließen, dass sich Blöcke rund um die Führungsmächte China und USA bilden. Vieles spricht aber dafür, dass die beiden Supermächte zwar technologisch und militärisch dominieren werden, aber wirtschaftlich und politisch nicht stark genug sind, um die Welt entlang ideologisch rivalisierender Systeme zu organisieren. Denn zugleich steigt eine Reihe von Regionalmächten wie Saudi-Arabien, die Türkei und der Iran, Brasilien und Mexiko, Nigeria und Südafrika, Südkorea und Indonesien auf; ihnen fehlen jedoch die Mittel, um ihre Macht global zu projizieren. Schwerer einzuschätzen sind das mittelfristige Machtpotenzial und die geopolitische Orientierung der Kontinentalmächte mit globalen Ambitionen: Russland, Indien und Europäische Union. Sollte es zu einer bipolaren Blockbildung kommen, würde Russland wohl seine „grenzenlose Allianz“ mit China vertiefen, die EU dagegen die transatlantische Partnerschaft. Indien flirtet mit einer neuen blockfreien Bewegung, die sich als Zünglein an der Waage positionieren könnte. Mittelfristig dürfte sich eine asymmetrische Multipolarität herausbilden.
Markiert der russische Angriffskrieg also das Ende der Pax Americana? Auch in den vergangenen drei Jahrzehnten gab es Mächte, die sich der amerikanischen Hegemonie widersetzten. Aber wer die Interessen des Weltpolizisten verletzte, musste damit rechnen, zur Rechenschaft gezogen zu werden. Entsprechend genau wird der russische Versuch, eine exklusive Einflusszone durch Waffengewalt zu erzwingen, in den Hauptstädten der Welt beobachtet. Selbst wenn Russland sich in der Ukraine militärisch behaupten könnte, hätte Moskau einen sehr hohen wirtschaftlichen und politischen Preis gezahlt. Russlands neoimperialer Traum, sich als eigenständiger Pol zu etablieren, dürfte wohl in einer Juniorpartnerschaft an der Seite Chinas enden. Doch die Büchse der Pandora ist geöffnet. Der Krieg als Mittel der Geopolitik zwischen den Großmächtenist zurück.
Ist mit dem Ende der amerikanischen Übermacht auch das Schicksal der nach dem Ende des Kalten Krieges von den USA garantierten liberalen Weltordnung besiegelt? Hier gilt es zu differenzieren.
Für John Mearsheimer setzt sich die liberale Weltordnung aus drei konstitutiven Elementen zusammen: einer liberalen Mission, also der Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten; einer offenen, globalisierten Weltwirtschaft sowie einer multilateralen Global-Governance-Architektur. Seit über einem Jahrzehnt verschieben sich die globalen Kräfteverhältnisse zuungunsten der liberalen Mission. Eine autoritäre Gegenwelle macht Demokratisierungserfolge zunichte. Relativ zum demokratischen Westen gewinnen autokratische Großmächte an Macht, die Demokratisierung als Bedrohung empfinden. Für demokratische Mächte wie Brasilien, Südafrika, Indien, Japan oder Südkorea hat die Verbreitung von Demokratie und Menschenrechten nicht die oberste Priorität.
Die Niederlage in Afghanistan sendet ein fatales Signal für die Fähigkeiten des Westens, demokratische Institutionen und Lebensweisen von außen durchzusetzen. Hinter vorgehaltener Hand wird daher in Washington und Paris die Ära der humanitären Interventionen für beendet erklärt. Im Gegensatz dazu hat die große Mehrheit der Staaten ein Interesse am Erhalt der offenen Weltwirtschaftsordnung. Nicht zuletzt China verdankt seinen spektakulären Aufstieg den offenen Weltmärkten. Der Hegemonialkonflikt zwischen Peking und Washington stellt diese Offenheit allerdings infrage. Die USA versuchen durch Exportkontrollen und Investitionssperren, das Aufschließen Chinas zur technologischen Weltspitze zu verzögern. China hat mit seiner Wirtschaftsstrategie der zwei Kreisläufe eine entwicklungspolitische Kehrtwende vollzogen, um seine Abhängigkeit von westlichen Exportmärkten zu reduzieren.
Beide Länder üben Druck auf Verbündete und Drittstaaten aus, sich von ihrem Kontrahenten zu entkoppeln. Damit politisieren sich die Rahmenbedingungen von Investitionsentscheidungen. Marktzugänge, Infrastrukturprojekte, Handelsverträge, Energielieferungen und Technologietransfers werden stärker durch die geopolitische Brille bewertet. Unternehmen werden immer öfter vor die Entscheidung gestellt, sich für die eine IT-Infrastruktur, den einen Markt, das eine Währungssystem zu entscheiden – oder eben für die Gegenseite. Die großen Volkswirtschaften werden sich vielleicht nicht in der Breite voneinander entkoppeln, doch die Diversifizierung vor allem im Hochtechnologiebereich nimmt an Fahrt auf. Es ist nicht auszuschließen, dass am Ende dieser Entwicklung die Formierung von Wirtschaftsblöcken steht.
Rund um den Globus gibt es viele Freunde des regelbasierten Multilateralismus. Auch nichtwestliche, nichtdemokratische Mächte haben ein Interesse an der friedlichen Beilegung von Konflikten und an Kooperation bei der Bewältigung der globalen Herausforderungen vom Klimaschutz über die Sicherung von Handelsrouten bis hin zu friedenssichernden Einsätzen. Vor allem China wird sich allerdings nur
in multilateralen Institutionen einbringen, in denen Peking auf Augenhöhe mit Washington ist. Dort, wo das der Fall ist, wie im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen, engagiert sich China; wo sein Gewicht unterrepräsentiert ist, wie in den Bretton- Woods-Institutionen, baut es eigene Organisationen auf. Werden die chinesischen Forderungen nicht gehört, kann Peking auf diesen Fundamenten eine alternative multilaterale Architektur zimmern, in der regelbasierte Kooperation zur Lösung gemeinsamer Herausforderungen möglich ist. Wie eine Weltordnung mit chinesischen Charakteristika aussehen könnte,hat Peking gerade in seinen drei Initiativezu Global Development, Global Security and Global Civilisation vorgestellt. In einer solchen illiberalen (Teil-)Weltordnung dürften Demokratie und Menschenrechte allerdings keine Rolle mehr spielen. Die Lösung der großen Menschheitsfragen kann nur durch die Kooperation der Staaten im Rahmen einer regelbasierten, multilateralen Ordnung funktionieren. Es sollte daher eigentlich im aufgeklärten Eigeninteresse des Westens sein, die gegenwärtige Lähmung der Global-Governance- Architektur durch eine angemessene Repräsentation der aufstrebenden Mächte zu überwinden.
Der Knackpunkt, an dem ein solcher Grand Deal zu scheitern droht, liegt in den Meerengen von Taiwan und Malakka. China fühlt sich durch die USA und ihre Verbündeten eingekreist und befürchtet, von seinen überlebenswichtigen Nachschublinien abgeschnitten zu werden. Der Aufbau der chinesischen Militärpräsenz im Südchinesischen Meer soll solche Blockadeversuche verhindern. Strategisch zielt Peking auf den Zugang zum offenen Westpazifik. In Washington weckt das aggressive Vordringen einer rivalisierenden Militärmacht in den Pazifik Erinnerungen an Pearl Harbor.
Für die USA beginnt an der Ersten Inselkette die Verteidigung ihres Heimatterritoriums. Rund um Taiwan prallen also existenzielle Interessen aufeinander. Nicht umsonst wird in Peking und Washington offen darüber nachgedacht, ob ein heißer Krieg zwischen den beiden Atommächten führbar oder gewinnbar ist. Dass die Kontrahenten um die globale und regionale Hegemonie aus eigener Kraft einen Grand Deal schließen, der die amerikanische Weltordnung an das gewachsene Gewicht Chinas anpasst, ist also nicht zu erwarten. Bleibt der Grand Deal aus, können die blockierten multilateralen Institutionen ihre Funktion als Kooperationsforen dauerhaft nicht erfüllen und die Weltwirtschaft droht in rivalisierende Blöcke zu zerfallen.
Die Europäische Union dürfte eine solche Wolfswelt vor allergrößte Herausforderungen stellen. Höchste Zeit also, dass Europa alles dafür tut, um die Erfolgsbedingungen seines Wirtschafts- und Gesellschaftsmodells zu erhalten. Um gemeinschaftlich handeln zu können, müssen die Europäer klären, für welche Weltordnung sie ihr Gewicht in die Waagschale werfen.
Denkbar sind drei Szenarien für die künftige Weltordnung. Erstens ein neuer Kalter Krieg zwischen einer amerikanisch geführten Allianz der Demokratien und einer chinesisch geführten Achse der Autokratien. Zweitens ein multipolares Großmächtekonzert. Und drittens ein westfälischer Kompromiss, der die Funktionsfähigkeit des regelbasierten Multilateralismus zumindest teilweise wiederherstellt. Um einseitige Abhängigkeiten abzubauen, sollte Europa eine De-Risking- und Diversifizierungsstrategie verfolgen. Aber um zu verhindern, dass aus den Deglobalisierungstendenzen von heute, konkurrierende Blöcke mit hohen Wohlstandsverlusten für alle entstehen, braucht es neue Partnerschaften auf Augenhöhe. Dazu müssen die Europäer allerdings anerkennen, dass ihre potenziellen Partner im Globalen Süden andere Bedrohungswahrnehmungen, Zwänge und Interessen haben. Russland ist für viele als Versorger mit Energie und Rüstungsgütern nicht ersetzbar.
Nicht anders als Europa sind auch die meisten Staaten Asiens für ihre wirtschaftliche Entwicklung auf die Dynamik Chinas angewiesen, und für ihre Sicherheit auf die Garantien der USA. Daher widersetzen sich unsere potenziellen Partner dem wachsenden Druck, sich für eine Seite entscheiden zu müssen. Wird diese Wahl auch noch moralisch als Systemrivalität zwischen Demokratien und Autokratien überhöht, werden umso mehr potenzielle Partner verprellt. Europa sollte also seine amerikanischen Verbündeten ermuntern, das kontraproduktive Narrativ von der Systemrivalität zwischen Demokratien und Autokratien einzumotten. Damit neues Vertrauen entsteht, müssen die globalen Herausforderungen (Klimawandel, Pandemien, Hunger, Migration), die den Globalen Süden besonders betreffen, endlich entschlossen angepackt werden. Bleiben die multilateralen Institutionen dauerhaft dysfunktional, könnten schwach institutionalisierte minilaterale Foren eine Lösung sein.
In den verschiedenen Formaten von G7 bis G20 gibt es ja bereits solche Ansätze der „Club Governance“, in denen die großen Mächte ihre Interessen miteinander abstimmen. Die Anerkennung exklusiver Einflusszonen kann dabei helfen, Konflikte zu moderieren. Allerdings steht zu befürchten, dass Demokratie und Menschenrechte bei diesem Kuhhandel keine Rolle mehr spielen werden. Mit Blick auf die Menschheitsherausforderungen ist dieses System minimaler Kooperation schlicht zu fragil. Europa sollte also alles dafür tun, vom regelbasierten Multilateralismus mit den Vereinten Nationen im Zentrum zu retten, was zu retten ist. Um diesen Ordnungsrahmen zu erhalten, muss er jedoch angepasst werden. Um die gegenwärtigen Blockaden zu überwinden, sollte den aufstrebenden Mächten eine ihrem neuen Gewicht angemessene Repräsentation und Mitsprache eingeräumt werden. Europa wird einen relativen Einflussverlust in Kauf nehmen müssen, denn als regelbasierte supranationale Entität hängen sein Überleben und seine Prosperität von einer offenen, regelbasierten Weltordnung ab.
Wie die Europäer will auch eine Mehrheit der Staaten des Globalen Südens die regelbasierte internationale Ordnung aufrechterhalten und verurteilt Verstöße gegen die Prinzipien der UN-Charta. Es besteht jedoch Uneinigkeit darüber, was eine regelbasierte multilaterale Ordnung eigentlich ausmacht. Europäer unterstreichen eher die Notwendigkeit, die liberale Weltordnung mit einem Kern aus Demokratie und Menschenrechten zu erhalten. Das bedeutet unter anderem, das Mandat des Menschenrechtsrats zu verteidigen, die Internationale Strafgerichtsbarkeit auszuweiten und der Schutzverantwortung (R2P) gerecht zu werden. In weiten Teilen des Globalen Südens betont man dagegen die westfälischen Prinzipien Souveränität, territoriale Integrität und Nichteinmischung. Wie die Reaktionen auf den Krieg in der Ukraine zeigen, sind viele Staaten des Globalen Südens zwar durchaus gewillt, die politischen und wirtschaftlichen Kosten für die Verteidigung der westfälischen Grundsätze der UN-Charta zu tragen. Die Bereitschaft, sich für die liberalen Werte der Demokratie und der Menschenrechte auch einzusetzen, ist dagegen schwach ausgeprägt. Die Aversion gegen die Schwächung oder Übertragung von Souveränität teilen übrigens auch viele Osteuropäer.
Ist der Preis des Friedens das Selbstbestimmungsrecht der Völker? Ist Kooperation zu Menschheitsfragen nur bei Verzicht auf die Universalität der Menschenrechte zu haben? Haben wir eine Schutzverantwortung, wenn in den Einflusszonen der Rivalen Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen werden? Mit anderen Worten: Wie kann sich Europa auf eine Weltordnung einlassen, die an den eigenen Grundwerten rüttelt? Ein Kompromiss könnte darin liegen, ohne Wenn und Aber an der Universalität der Menschenrechte festzuhalten, aber auf ihre Verbreitung durch äußeren Zwang zu verzichten. Im Globalen Süden werden die humanitären Interventionen schon immer als zynisches Feigenblatt für die gewaltsame Durchsetzung der geopolitischen Interessen des Westens verstanden. In der Praxis haben die gescheiterten Großversuche im Irak und in Afghanistan ohnehin gezeigt, dass der Demokratieexport mit vorgehaltener Waffe nicht erfolgreich sein kann.
Wem dieser Preis zu hoch ist, sollte sich vergegenwärtigen, dass nicht weniger als die Sicherung der Grundlagen von Frieden, Freiheit und Wohlstand in Europa auf dem Spiel steht. Mit Blick auf Menschheitsherausforderungen wie Klimaschutz, Migration oder Hungersnöte wäre ein westfälisches „UN light“-Szenario vielleicht die beste aller schlechteren Welten. Wer einen westfälischen Kompromiss zur Wiederbelebung der multilateralen Institutionen angesichts der neuen Systemrivalität für unwahrscheinlich hält, sollte sich daran erinnern, dass es auch zu Hochzeiten des Kalten Krieges durchaus möglich war, im Rahmen einer regelbasierten Ordnung auf der Basis gemeinsamer Interessen zu kooperieren. Von den Rüstungskontrollverträgen über das Verbot des Ozonkillers FCKW bis zur KSZE-Schlussakte von Helsinki war die Bilanz dieses westfälischen Multilateralismus gar nicht mal schlecht. Im Rahmen eines wertebasierten Pragmatismus sollte Europa also alles in seiner Macht Stehende dafür tun, den regelbasierten Multilateralismus anzupassen, um ihn als Ordnungsrahmen für das europäische Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell zu erhalten.
Dieser Artikel ist zuerst in Internationale Politik erschienen.
Marc Saxer leitet das Projekt Geopolitik und Weltordnung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Asien/Pazifik. Er ist Mitglied der SPD Grundwertekommission.
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