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von Linn Selle
Neben dem Staat und Unternehmen sind Verbraucher_innen die dritte relevante Akteursgruppe im Wirtschaftsgeschehen, die im Rahmen ihrer Nachfragemacht Märkte gestalten und die Volkswirtschaft ankurbeln kann. Gleichzeitig hat die Covid-19-Pandemie nicht nur zu Turbulenzen in Staatshaushalten und Unternehmensbilanzen geführt – auch bei Verbraucher_innen waren deutliche Verwerfungen zu beobachten. Eine Vielzahl medizinischer Schutzgüter war (und ist teils immer noch) nicht ausreichend verfügbar, Wucherpreise und Fälschungen wurden zuhauf angezeigt, und das Einkaufsverhalten hat sich deutlich von der Einkaufsstraße ins Netz verlagert.
Doch was hat all das mit der Handelspolitik der Europäischen Union (EU) zu tun? Die Covid-19-Pandemie zeigt wie unter einem Brennglas einige Kernprobleme der EU-Handelspolitik auf: etwa die Frage, wie die EU-Handelspolitik nicht nur zu größeren Güter- und Dienstleistungsströmen beitragen kann, sondern einen stärkeren Beitrag zu einem wertorientierten Handel in der Welt leistet; ebenso wie die Frage nach der ansteigenden Bedeutung des Onlinehandels und welche Rolle die EU-Handelspolitik hier spielen sollte.
Die wertbasierte Ausrichtung in der EU-Handelspolitik muss intensiviert werden
Grundsätzliche Maßgabe der EU-Außenhandelspolitik muss sein, dass ein fairer globaler Wettbewerbsrahmen geschaffen wird – dann können auch Verbraucher_innen von einem besseren Angebot und unter Umständen von geringeren Preisen profitieren. Wie solch ein fairer Wettbewerb aussehen kann, lässt sich derzeit gut in den Verhandlungen der EU mit dem Vereinigten Königreich über deren politische Beziehungen nach dem Brexit beobachten. Die Forderungen der EU nach der Nichtabsenkung von Standards in den Bereichen Wettbewerbsrecht, Arbeits- und Umweltschutz, aber auch Hygienevorschriften im Agrarmarkt würden einen wichtigen Beitrag dazu leisten, einen Wettbewerb über niedrige Standards zu verhindern. Die Schaffung eines solchen „level playing fields“ sollte insgesamt bei Verhandlungen der EU über Handelsabkommen stärker, als es bisher der Fall war, im Mittelpunkt stehen.
Noch immer ist die Durchsetzung eines möglichst reibungslosen Handels von Unternehmen – etwa bei unerlaubten Beihilfen – um ein Vielfaches einfacher als die Durchsetzung von Arbeitnehmerrechten oder Umweltschutzvorschriften, die ebenfalls in modernen Handelsabkommen verankert sind. Dieses Problem könnte etwa durch einen EU-Rechtsakt zu Sorgfaltspflichten in Lieferketten angegangen werden. Davon profitieren neben den Unternehmen, die sich einem faireren Wettbewerb unterwerfen, auch Verbraucher_innen, denn nachhaltiger Konsum beginnt bei der nachhaltigen Produktion. Neben der Stärkung von fairen Wettbewerbsbedingungen würden solche rechtlichen Verpflichtungen resiliente und nachhaltige Lieferketten stärken.
Mit der Klimakrise steht eine weitere große Herausforderung vor der Tür, auf die auch die EU-Handelspolitik eine Antwort finden muss. Erste Überlegungen der EU-Kommission zur Einführung eines CO2-Grenzausgleichsmechanismus sind aus dieser Perspektive zu begrüßen. Bei richtiger Ausgestaltung kann er ein effektives Instrument der Außenwirtschaftspolitik sein, um die klimapolitischen Ziele der EU im Rahmen des European Green Deal zu erreichen und Verbraucher_innen einen nachhaltigeren Konsum zu ermöglichen.
Die Covd-19-Krise hat mit Macht verdeutlicht, wie fragil globale Lieferketten sind und wie abhängig der europäische Binnenmarkt von einer Reihe von Produkten zumeist aus Fernost, und hier besonders aus China, ist. Zwar ist die EU Nettoexporteur von Medizinprodukten und hochwertigen Arzneimitteln, stellt aber eine Reihe von Grundstoffen, Arzneimitteln, Generika und Schutzausrüstung nicht selbst her und ist somit zumindest derzeit auf die Importe dieser Produkte angewiesen. Die im Zuge der Covid-19-Pandemie von vielen Staaten weltweit eingeführten Exportbeschränkungen von Schutzausrüstung und Medizinprodukten sowie die teils unzureichende Verfügbarkeit von Medizinprodukten in der EU haben an einigen Stellen eine Debatte über eine mögliches „reshoring“, also eine Verkürzung oder Renationalisierung von Lieferketten für „essenzielle“ Produkte, befördert.
Aus verbraucherpolitischer Sicht ist jedoch eine rein nationale oder europäische Produktion essenzieller Medizinprodukte oder sonstiger essenzieller Güter nicht sinnvoll. Eine solche Renationalisierung (oder Reeuropäisierung) der Produktion würde der Verbraucherwohlfahrt durch steigende Preise schaden. Gleichzeitig wäre die EU dennoch weiterhin abhängig von den jeweils notwendigen Grund- und Rohstoffen etwa zur Produktion von Schutzausrüstung, da diese in der EU faktisch nicht vorhanden sind (etwa Kautschuk oder Rohöl). Internationale und transnationale Lieferketten sind nicht pauschal die Ursache des Problems einer mangelhaften Bereitstellung knapper Güter, wie sie in der Covid-19-Pandemie deutlich wurde. Vielmehr sind eine mangelnde Diversifizierung von Lieferketten, die nicht ausreichende Durchsetzung bestehender Regeln beim Import von Produkten sowie mangelhafte Bevorratung für Krisenfälle als mitursächlich anzusehen. Ebenfalls sind die derzeitigen Anreizstrukturen in der globalen Wirtschaft problematisch, da sie oft auf der Ausbeutung von Arbeitskraft und Umwelt beruhen und entsprechende internationale Regeln und Standards nicht eingehalten werden.
Denn klar ist, dass Verbraucher_innen zunehmend nachhaltig konsumieren wollen, globale Wertschöpfungsketten gleichzeitig aber noch immer in hohem Maße nicht nachhaltig sind. Das muss sich dringend ändern, um mehr Transparenz und bessere Rahmenbedingungen für einen fairen Wettbewerb zu schaffen.
Globaler Onlinehandel – neue Herausforderung für die EU-Handelspolitik
Ein weiterer globaler Trend, der durch die Covid-19-Pandemie nicht hervorgerufen, aber klar verstärkt wurde, ist der starke Anstieg des Onlinehandels. Durch die Vermittlung internationaler Onlinemarktplätze kaufen Verbraucher_innen zunehmend nicht mehr ausschließlich in Deutschland oder im EU-Binnenmarkt ein, sondern sind in der Lage, mit einem Klick Produkte global, etwa bei einem chinesischen oder einem amerikanischen Anbieter, zu kaufen. Im Jahr 2018 haben bereits 15,6 Prozent der europäischen Verbraucher_innen bei Händlern außerhalb der EU eingekauft. Ein seit Jahren steigender Trend. Allein in Deutschland sind die Direktimporte aus China zwischen den Jahren 2016 und 2017 von 40 auf 100 Millionen Pakete angestiegen. Mit dem Einstieg neuer Onlinemarktplätze wie Wish, Floriday und AliExpress wird für Verbraucher_innen der direkte Zugang zu internationalen Händlern vereinfacht – oft auch ohne, dass es Verbraucher_innen bewusst ist, dass sie bei einem ausländischen Hersteller einkaufen.
Aus verbraucherpolitischer Sicht stellen sich in diesen internationalen Vertragsverhältnissen nicht nur elementare verbraucherrechtliche Fragen – wie etwa nach dem in der EU vorgeschriebenen Widerrufsrecht, der Gewährleistung oder Rücksendung –, auch Fragen der Produktsicherheit bekommen eine neue Relevanz: Verdeckte Produktkäufe und -tests europäischer Verbraucherorganisationen ergaben, dass zwei Drittel der über Onlinemarktplätze gekauften Produkte nicht den EU-Sicherheitsvorschriften entsprachen – von einigen ging sogar eine klare Gefahr für Leib und Leben der Verbraucher_innen aus. Die Covid-19-Pandemie hat dem Risiko globaler Märkte für die Sicherheit von Verbraucher_innen eine neue Sichtbarkeit gegeben: So wurde vielfach über die große Menge gefälschter Medizinprodukte oder nicht funktionsfähiger Schutzausrüstung aus China berichtet. Die chinesische Regierung fühlte sich sogar bemüßigt, alle medizinischen Produkte besonderen Kontrollen vor dem Export zu unterziehen.
Die Probleme des Imports unsicherer Produkte aus Drittstaaten muss auch die EU-Handelspolitik anerkennen und entsprechend aktiv werden. Hierzu sollten in allen EU-Handelsabkommen Regeln zum Verbraucherschutz in der digitalen Welt festgeschrieben werden. Außerdem sollten sich Handelspartner zu einem engen behördlichen Austausch zwischen Marktüberwachungs-, Zoll- und Verbraucherschutzeinrichtungen verpflichten. Natürlich spielen hier auch Aspekte eine Rolle, die nicht direkt der Handelspolitik unterliegen – etwa strengere Zollkontrollen oder eine stärkere Verantwortung von Onlinemarktplätzen in der Kontrolle ihrer Händler und gegebenenfalls sogar eine Haftung des Marktplatzes anstelle des Händlers für nichtkonforme Produkte. Handelspolitik kann hier allerdings wichtige Anreize setzen, damit Staaten enger zusammenarbeiten und Regeln setzen, Verbraucher_innen auch faktisch besser zu schützen.
Wichtigster Ort für solche Regeln ist die Welthandelsorganisation (WTO), da ihre multilateralen Regeln für nahezu alle Staaten der Welt verbindlich sind. Vor diesem Hintergrund sind besonders die derzeit stattfindenden Verhandlungen über ein sogenanntes plurilaterales Abkommen zum e-Commerce von großer Bedeutung. Werden hier progressive Regeln für Verbraucherschutz im Onlinehandel gefunden, kann dies weitreichende Auswirkungen haben, um die Kooperation zwischen Behörden zu verbessern und die Produktsicherheit im globalen Onlinehandel zu stärken.
Einen verbraucherpolitischen Goldstandard schaffen
Für Verbraucher_innen sind globale und transnationale Märkte von Vorteil, aber nicht um jeden Preis. Zentral wird in den kommenden Jahren sein, die regelbasierte Ausrichtung des Welthandelssystems voranzutreiben und für die EU hohe Standards in ihren Lieferketten rechtsverbindlich um- und durchzusetzen. Die EU muss ein Treiber für eine nachhaltige Weltwirtschaftsordnung mit starken multilateralen Institutionen bleiben.
Aus verbraucherpolitischer Sicht sollten sich die EU-Kommission und die EU-Mitgliedstaaten noch stärker als bisher dafür einsetzen, dass den Verbraucher_innen die konkreten Vorteile durch Handelsabkommen auch zugute kommen. Denn: Gute Handelsabkommen können das Vertrauen von Verbraucher_innen in die Globalisierung stärken. Themenbereiche wie bezahlbare und transparente Roaminggebühren, eine Streitschlichtung für Probleme im Onlinehandel oder Fahr- und Fluggastrechte stehen oftmals gar nicht erst auf der Agenda, obwohl auch diese Themen den internationalen Markt prägen und einen fairen Wettbewerb befördern. Verbraucher_innen können von globalen Märkten profitieren, internationaler Handel kann das Zusammenwachsen und die ökonomische Entwicklung der Welt befördern. Das wird allerdings nur dann gelingen, wenn Verbraucher_innen auf die Sicherheit, Unbedenklichkeit und nachhaltige Herstellung von Produkten vertrauen können.
Dr. Linn Selle ist Referentin im Team Büro Brüssel des Verbraucherzentrale Bundesverbandes e.V. und beschäftigt sich schwerpunktmäßig mit Fragen der europäischen Außenhandelspolitik, Produktsicherheit in internationalen Märkten und E-Commerce. Sie ist ehrenamtliche Präsidentin der Europäischen Bewegung Deutschland
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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