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von Achim Wambach
Das Europäische Parlament sieht den Europäischen Binnenmarkt als „eine der größten Errungenschaften der EU”. Auch bei neutraler Betrachtung wird man zu der Erkenntnis kommen, dass mit dem Europäischen Binnenmarkt den Staaten der Europäischen Gemeinschaft etwas gelungen ist, um das sie viele Länder und Regionen in der Welt beneiden: die Bildung des größten Wirtschaftsraums der Welt, der Waren und Dienstleistungen für ca. 450 Millionen Menschen bereitstellt.
Der Binnenmarkt basiert auf der Prämisse, dass Unternehmen untereinander im fairen Wettbewerb stehen und sich nicht gegenseitig behindern (EU-Wettbewerbskontrolle) und dass die nationalen Staaten zwar nationale Regeln etwa hinsichtlich der Steuergesetzgebung oder Arbeitsmarktpolitik bestimmen, selektive Eingriffe zur Unterstützung einzelner Unternehmen aber weitgehend ausbleiben (EU-Beihilfenkontrolle). In diesem Wirtschaftsraum konkurrieren deshalb Unternehmen „auf Augenhöhe” und schaffen so Innovationen und Wohlstand.
In den vergangenen Jahren ist diese Wirtschaftsform unter Druck geraten, hauptsächlich aufgrund von zwei Entwicklungen: der zunehmenden Digitalisierung und der wachsenden Rolle Chinas auf den Weltmärkten. Mit der Digitalisierung ist das Aufkommen der U.S. Internetgiganten zu beobachten, die die Netzwerkeffekte der Plattformökonomie und die Skaleneffekte – Effizienzvorteile aus größerer Produktion und Kundenzahl – der Datenökonomie nutzen, um in ihren Märkten marktbeherrschende Positionen auszubauen. China hingegen verfolgt mit seiner „Sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen” ein Wirtschaftsmodell, das sowohl staatswirtschaftliche als auch marktwirtschaftliche Elemente enthält.
Der Europäische Binnenmarkt ist nicht ausreichend vorbereitet, um mit den Monopolen der Digitalökonomie und den staatlich subventionierten Unternehmen aus China angemessen umzugehen. So unterschiedlich die Problemstellungen sind, so unterschiedlich sind auch die richtigen Antworten darauf. Wie im Folgenden weiter ausgeführt wird, geht es bei der Digitalisierung darum, die Marktmacht und den Missbrauch derselbigen von Plattformunternehmen zu begrenzen, während es im Wettbewerb mit chinesischen Unternehmen um einheitliche Wettbewerbsbedingungen – ein „level playing field” – geht. In beiden Fällen steht aber der Schutz des Europäischen Binnenmarktes und des Wettbewerbs im Vordergrund.
Um angemessen auf die zunehmende Digitalisierung zu reagieren, haben viele Staaten und auch die Europäische Kommission Gutachten in Auftrag gegeben und Kommissionen eingesetzt, die Vorschläge zur Reform des Wettbewerbsrechts erarbeitet haben. Für das Europäische Wettbewerbsrecht sind insbesondere der Bericht der Sonderberater von EU-Kommissarin Margrethe Vestager sowie die Empfehlungen der vom Bundeswirtschaftsminister eingesetzten Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 relevant. Interessanterweise ist dem Themenkomplex „Wettbewerb mit drittstaatlich geförderten Unternehmen” weit weniger Aufmerksamkeit zugekommen. Kommissionen wurden bislang nicht eingesetzt, und Gutachten liegen nur wenige vor. Die Monopolkommission befasst sich in ihrem aktuellen Hauptgutachten „Wettbewerb 2020” intensiv mit den Wettbewerbsproblemen durch Chinas gesteuerte Wirtschaft.
Mittlerweile hat die Europäische Kommission zu beiden Problemfeldern Konsultationen gestartet. Die Bundesregierung sollte den Ball aufnehmen und während ihrer Ratspräsidentschaft die Gelegenheit nutzen, das Europäische Wettbewerbsrecht besser aufzustellen.
Digitalisierung
Die mit der Digitalisierung von Geschäftsmodellen einhergehenden Veränderungen sind für Verbraucher_innen in weiten Teilen vorteilhaft. Sie profitieren von der großen Zahl Nutzender, die auf derselben Plattform aktiv sind, und von einer Reihe aufeinander abgestimmter Produkte und Dienstleistungen aus einer Hand. Aus wettbewerblicher Sicht kann es indes problematisch sein, dass Plattformmärkte infolge von Netzwerkeffekten zur Konzentration neigen und dass sich vermehrt digitale „Ökosysteme” bilden, bei denen marktmächtige Unternehmen frühzeitig benachbarte Märkte besetzen. Zudem können Plattformbetreiber als Regelsetzer den Wettbewerb auf der Plattform steuern und als „Gatekeeper” den Zugang der Nutzer_innen zur Plattform kontrollieren. Das bestehende Kartellrecht ist grundsätzlich geeignet, gegen missbräuchliches Verhalten im Digitalkontext vorzugehen. Allerdings sind kartellbehördliche Interventionen häufig zeit- und ressourcenintensiv.
Die Europäische Kommission hat Anfang Juni 2020 öffentliche Konsultationen für eine Ergänzung des EU-Wettbewerbsrechts und bezüglich neuer Regeln für digitale Plattformen eingeleitet.
Die Vorschläge der Europäischen Kommission für eine „Ex-ante-Regulierung digitaler Plattformen” sehen besondere Regeln für solche Märkte vor, auf denen die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs bereits eingeschränkt ist. So könnten große Plattformökosysteme, denen eine Gatekeeper-Funktion zukommt, in einer Weise reguliert werden, die das allgemeine Wettbewerbsrecht ergänzt. Auch die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 hat vorgeschlagen, die Verhaltensregeln für Onlineplattformen zu konkretisieren. Hierzu hat sie die Einführung einer EU-Plattform-Verordnung empfohlen, die bestimmten Plattformen eine Selbstbegünstigung verbietet und Portabilitäts- sowie Interoperabilitätspflichten bei Daten auferlegt. Im Gegensatz zu dem Vorschlag der Europäischen Kommission sollte die Plattform-Verordnung an die aus dem Kartellrecht bekannte Kategorie der Marktbeherrschung anknüpfen. Das Abstellen auf eine Gatekeeper-Funktion dürfte dagegen zunächst für Rechtsunsicherheit sorgen.
Dass die neuen Regeln auf EU-Ebene eingeführt werden sollen, ist zu begrüßen. Die Bundesregierung sollte in ihrer Ratspräsidentschaft die Initiativen der Europäischen Kommission aufgreifen und sich für eine stärkere Regulierung der dominanten Plattformunternehmen einsetzen. Die Kommission Wettbewerbsrecht 4.0 hatte zusätzlich empfohlen, dass die Europäische Kommission ein freiwilliges Anmeldeverfahren für neuartige Formen der Kooperation in der Digitalwirtschaft anbietet. Allerdings ist die Europäische Kommission in ihren Vorschlägen nicht darauf eingegangen. Das sollte die Bundesregierung aber nicht davon abhalten, sich in Brüssel für eine solche Regelung einzusetzen.
Chinas Staatskapitalismus
Die Volksrepublik China hat seit der Einleitung der ersten marktwirtschaftlichen Reformen eine beeindruckende wirtschaftliche Entwicklung verzeichnet. Gemessen am kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt ist China heute die größte Volkswirtschaft der Welt. Nach den USA ist China derzeit der zweitgrößte Handelspartner der EU, und die EU wiederum ist der größte Handelspartner Chinas. Große und innovative chinesische Technologieunternehmen wie Alibaba, Huawei oder Tencent verdeutlichen zudem den stattfindenden Wandel Chinas von der verlängerten Werkbank der Welt hin zu einer produktiveren und innovativeren Wirtschaft.
Chinas Wirtschaft ist dabei eigenen Regeln unterworfen. Das chinesische Wirtschaftsmodell der „Sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Merkmalen” zeichnet sich dadurch aus, dass der chinesische Staat seine industriepolitischen Ziele durch direkte Eingriffe in das Wirtschaftsgeschehen verfolgt. Von besonderer Bedeutung sind in diesem Zusammenhang wirtschaftliche Vergünstigungen, also Subventionen, von denen sowohl staatliche als auch private Unternehmen profitieren. Im internationalen Kontext können derartige staatliche Eingriffe zu Wettbewerbsvorteilen für chinesische Unternehmen gegenüber nicht subventionierten Unternehmen führen.
Europäische Unternehmen stehen diesen Entwicklungen nicht hilflos gegenüber. Im grenzüberschreitenden Warenverkehr sind sie durch Antidumping- und Antisubventionsinstrumente geschützt. Davon abgesehen sind die EU-Wettbewerbsregeln zwar nicht unmittelbar auf Maßnahmen von Drittstaaten, aber immerhin auf das Verhalten von Unternehmen aus Drittstaaten anwendbar. Bei der Beurteilung der Marktstellung solcher Unternehmen in der Missbrauchs- und Fusionskontrolle kann auch berücksichtigt werden, dass dahinter ein Drittstaat steht. Unternehmenskäufe durch chinesische Unternehmen unterliegen der Investitionskontrolle, die bereits mehrfach angepasst und verschärft wurde. Die Investitionskontrolle ist allerdings primär auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ausgerichtet und sollte auch darauf beschränkt bleiben. Ein mancherorts diskutierter industriepolitischer Einsatz bedürfte einer ganz neuen institutionellen Anbindung und würde rechtliche Fragen aufwerfen.
Auch wenn schon eine Reihe von Instrumenten existiert, ist der Schutz europäischer Unternehmen und der europäischen Marktwirtschaft in bestimmten Situationen lückenhaft. Das ist dann der Fall, wenn Drittstaaten Unternehmen subventionieren, damit diese bei ihrer Tätigkeit in der EU einen Wettbewerbsvorteil gegenüber nicht subventionierten Unternehmen erhalten und in der Folge Marktanteile zulasten dieser Wettbewerber gewinnen können. Zwar profitiert die EU auch von Subventionen, die durch die chinesischen Steuerzahler_innen finanziert werden und zu niedrigpreisigen Vorprodukten oder Konsumgütern für die verarbeitende Industrie oder die europäischen Verbraucher_innen führen. Jedoch schließt das durch die europäischen Verträge geprägte Verständnis von Wettbewerb auch eine wettbewerbliche Chancengleichheit der im Binnenmarkt tätigen Unternehmen mit ein. Zu diesem Zweck besteht im Europäischen Binnenmarkt eine Beihilfenkontrolle. Allerdings ist sie auf drittstaatliche Unterstützungsmaßnahmen mit Auswirkungen auf den Binnenmarkt nicht anwendbar.
Zur Schließung der vorhandenen Lücken hat die Europäische Kommission das Weißbuch über die „Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen bei Subventionen aus Drittstaaten” vorgelegt. Darin hat sie drei Instrumente vorgeschlagen, die drittstaatliche Subventionen neutralisieren sollten. Eines der Instrumente soll die Überprüfung drittstaatlicher Subventionen ermöglichen, während die anderen beiden speziell die Überprüfung von Unternehmenserwerbs- und Beschaffungsvorgängen betreffen.
Die Monopolkommission befürwortet in ihrem aktuellen Hauptgutachten die Einführung eines Drittlandsbeihilfeinstruments, mit dem drittstaatliche Subventionen und mitgliedstaatliche Beihilfen möglichst weitgehend gleichgestellt würden. Dabei sollte es sich um ein einheitliches Instrument handeln, das an der Beihilfeordnung ausgerichtet wäre. Damit würde ein derartiges Drittlandsbeihilfeinstrument dafür sorgen, dass alle Unternehmen bei ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit im Europäischen Binnenmarkt gleich behandelt werden.
Über den Schutz des Binnenmarktes hinaus sollte aber durch internationale Verträge angestrebt werden, für faire Bedingungen im chinesischen Markt zu sorgen. Das seit Längerem diskutierte Internationale Vergabeinstrument (International Procurement Instrument) könnte einen Beitrag dazu leisten. Wichtiger ist allerdings ein EU-China-Investitionsabkommen, das in diesem Jahr zum Abschluss kommen sollte.
Die Verbesserung der Zusammenarbeit mit China, insbesondere im Hinblick auf den Wettbewerb zwischen europäischen und chinesischen Unternehmen, wird ein wesentlicher Bestandteil der Aufgaben der deutschen Ratspräsidentschaft sein. Mit einem EU-China-Investitionsabkommen für faire Wettbewerbsbedingungen in China und dem Drittlandsbeihilfeinstrument für fairen Wettbewerb im Europäischen Binnenmarkt stehen die Themen auf der Tagesordnung. Die Umsetzung wird nicht einfach werden.
Achim Wambach, Ph.D., ist Präsident des ZEW – Leibniz-Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung sowie ehemaliger Vorsitzender der Monopolkommission. 2018-2019 war er Ko-Vorsitzender der Kommission „Wettbewerbsrecht 4.0“ des Bundeswirtschaftsministeriums. Er gehört dem Wissenschaftlichen Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium an, dessen Vorsitz er von 2012-2015 innehatte.
Die im Beitrag zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bei dem Beitrag handelt es sich um eine gekürzte Vorabveröffentlichung. Die Langfassung des Textes ist als WISO direkt erschienen.
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