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Zu Beginn der Pandemie war die Euphorie über die Digitalisierung der Politik riesig. Mittlerweile herrscht Katerstimmung.
Bild: von April-Mediengruppe
Bild: von Martin Fuchs, Autor des Artikels (privat)
Mein Berufsleben bestand bis vor wenigen Wochen aus langen ICE-Fahrten, mit vielen Kaffeepausen in der DB Lounge und meist kurzen Terminen in den Landeshauptstädten. Wie erholsam war es da, dass Ende Februar die ersten Konferenzen auf digitale Keynotes umstellten und anstelle analoger Meetings Videocalls stattfanden. Die gesparte Zeit ermöglichte mir, mich noch mehr um meine Familie zu kümmern. Und auch mal in Shorts mit Spitzenpolitiker_innen zu sprechen. Auch viele Abgeordnete berichteten mir fasziniert, wie gut die digitale Umstellung der Partei- und- Parlamentsarbeit auf Videokonferenzen, Webinare, Chatsysteme und andere digitale Tools funktionierte. Ein toller Nebeneffekt: Meetings wirkten auf einmal so viel effizienter. Diskussionen drehten sich nicht mehr im Kreis, ebenso entfielen Wortmeldungen, die nur gemacht werden, damit man auch was gesagt hat. Toll! Die Krisenzeit verlangte schnelle Entscheidungen, ohne viel Mikropolitik und Sitzungsmarathons.
Nach täglich unzähligen Videokonferenzen und Online-Abstimmungen hat sich nun aber nicht nur in der Politik die sogenannte „Zoom Fatigue“ breitgemacht. Gesichter frieren ein, Körpersprache, Mimik und Gestik sind schwer – oder gar nicht – zu deuten, das Video ruckelt, und dann sieht man sich auch noch ständig selbst in Kleinansicht im Bild – all das ermüdet. Fast wehmütig wünschen sich viele mitunter die langwierigen nervigen Runden am analogen Konferenztisch mit staubigem Gebäck zurück. Noch etwas fehlt: Streit, das langwierige Ringen um das beste Argument, Zeit für Monologe, Raum für Argumente, die man schon mal gehört, aber noch nicht durchdacht hat. Und auch die Möglichkeit, mal den mächtigsten Menschen in der Konferenz herauszufordern, detailliert die eigenen Entscheidungen zu erklären, bevor diese schnell abgenickt werden. Unsere Demokratie lebt davon, dass jeder gleichberechtigt seine Meinung offen sagen kann, dass diese angehört und diskutiert wird, dass sich im besten Fall das beste Argument und nicht der lauteste Sprecher durchsetzt. In der Praxis vieler Videokonferenzen dominierte das Chef_innen-Prinzip: Vieles, was der oder die Vorgesetzte referierte, wurde schnell verabschiedet, die leisen Stimmen, die zögerlichen, die Bedenken und Fragen wurden überhört – oder sie kamen gar nicht erst zu Wort. Dabei sind sie in jeder Diskussion sehr wertvoll.
Diese Art der Entscheidungsfindung mag für die Hochphase einer Krise angemessen sein, für den Normalbetrieb einer Gesellschaft wäre sie fatal. Auch wenn das Virus irgendwann einmal eingedämmt ist: Die Videokonferenz wird uns auch in Zukunft begleiten. Ich begrüße das außerordentlich, vielleicht ermöglicht dies die bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf, insbesondere in der Politik, und motiviert auch bisher unterrepräsentierte Gruppen, sich stärker in politische Arbeit einzubringen. Wir brauchen aber einen neuen Videokonferenz-Knigge, der es uns erlaubt, auch wieder mehr und konstruktiv am Bildschirm zu streiten, der nicht nur die Teilnehmer_innen mit klarer Ansage sichtbar macht, sondern auch die stilleren, der Zeit für Argumente lässt, der Emotionen so übersetzt, dass jeder sie auch versteht, ohne dass man die Halsadern des Tischnachbarn sehen muss, und der Mimik und Gestik sichtbarer macht, als es bisher möglich ist: das Zunicken etwa, das Kopfschütteln oder das Augenverdrehen. Denn so kann man nachfragen und weiterdiskutieren – bis die beste Lösung gefunden ist. Dazu gehört auch, dass zusätzlicher Raum für kleine Runden eingeplant wird, in denen sich die stilleren Teilnehmer_innen mit ihrem Feedback einbringen können, das sie in größeren Runden mit viel Macho-Gehabe nicht vorbringen würden. Vielleicht lachen wir in zehn Jahren darüber, dass wir mal so etwas wie eine „Videokonferenz-Etiquette“ erlernt haben, weil wir dann viel selbstverständlicher damit umgehen – aber für das Jahr 2020 würde ich mich im Namen der Demokratie sehr freuen, wenn sich in der Politik solch ein Regelwerk etablieren könnte.
Über den Autor:
Martin Fuchs ist Politik- und Digitalberater und doziert an verschiedenen Hochschulen. Weitere Informationen unter: http://martin-fuchs.org/
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