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Blogbeitrag von Paul Tang
Dieser Beitrag ist Teil der Blogreihe zum #DigiCap-Kongress vom 15. bis 19. November 2021 Digitale Agenda für Europas Wirtschaft: – demokratisch • nachhaltig • gerecht.
Auf der ganzen Welt verschwinden Zeitungsverlage vom Markt. Der Anteil der Nachrichtenmedien am Werbemarkt sank innerhalb von 20 Jahren von 93 Prozent auf gerade einmal 8,34 Prozent. Die Gesetzgeber_innen schauen bisher einfach weg und treiben die Medienvielfalt mit ihrer Untätigkeit in den Ruin. Paul Tang, Mitglied des Europäischen Parlaments, spricht sich dafür aus, den Wettbewerb auf dem Werbemarkt zu erneuern und zu stärken.
Anfang 2019 brachte The Economistdie Schlagzeile: „Competition, not break-up, is the cure for tech giants’ dominance“ – Die Vorherrschaft der Tech-Riesen lässt sich nicht durch Zerstörung, sondern nur durch Wettbewerb beenden. Eine Ansicht, die man von einer liberalen Zeitung erwarten würde. Da eine Auflösung der Tech-Riesen noch keine Option ist, wäre es eine gute Alternative, sie zu einer Öffnung zu zwingen. Ein stärkerer Wettbewerb würde ihre Vorherrschaft und unsere Abhängigkeit von den großen „social media“ Plattformen auf jeden Fall verringern. Wenn wir unseren Medien zum Erfolg verhelfen wollen, müssen wir den Wert der Medienvielfalt in all unseren Gesetzgebungsbemühungen rund um die digitale Welt fest verankern. Und das beginnt beim Wettbewerb.
In den letzten 20 Jahren haben einige wenige Technologieunternehmen ihre Marktmacht stark ausgebaut. Die Abkürzung GAFAM bezieht sich auf fünf der sechs hinsichtlich der Marktkapitalisierung weltweit größten Unternehmen. Google, Apple, Facebook (Meta), Amazon und Microsoft sind nicht nur jungen, sondern auch älteren Menschen ein Begriff. Mittlerweile informiert sich die Hälfte aller Amerikaner_innen in sozialen Medien über Nachrichten.
In den USA ist die Auflagenhöhe von Zeitungen (sowohl Print- als auch digitale Ausgaben) von ihrem Höchstwert 1990 um ganze 39 Prozent gesunken. Seit ungefähr 2004 ist ein Viertel aller Zeitungen, die es damals in den USA gab, verschwunden. Die meisten davon waren Lokalzeitungen. In Europa sieht es ähnlich aus. Diese Zahlen verdeutlichen, dass sich die Zeitungslandschaft drastisch verändert hat.
Es geht aus meiner Sicht nicht nur darum, dass viele neue soziale Medien ein widersinniges Geschäftsmodell verfolgen: Sie säen Zwietracht und entfachen Streitigkeiten, um die Aufmerksamkeit der Menschen zu fesseln, und führen so den öffentlichen Diskurs ins Verderben. Es geht mir auch darum zu zeigen, dass die traditionellen Medien mit ihrer Redaktionsfreiheit und Vielfalt am meisten unter diesem Geschäftsmodell zu leiden haben.
Nachdem Google 2000 seinen AdWords-Dienst einführte und Marc Zuckerberg 2007 mit Facebook Ads nachzog, überboten sich die beiden Unternehmen gegenseitig mit interessanten Angeboten für Marketing-Fachleute, die von dem Aufstieg der Online-Plattformen zu Beginn der 2000er profitieren wollten. AdWords und Facebook Ads boten ihren Kunden nicht nur die Möglichkeit, Anzeigenflächen auf ihren Plattformen und auf Seiten Dritter zu kaufen, sondern versprachen auch, die Anzeigen an die Interessen der Nutzer_innen, denen die Anzeigen präsentiert wurden, anzupassen.
Tracking-Anzeigen versprachen wesentlich bessere Ergebnisse als ihre nicht so ausgeklügelten Vorgänger und wurden in der Marketing-Welt schnell zum Standard. Die Ausgaben für digitale Werbung in Europa stiegen von 7,7 Milliarden Euro 2006 auf 69,4 Milliarden Euro 2020 und machen inzwischen 56,5 Prozent der gesamten Werbeausgaben aus. All dies geschah zu Lasten der Zeitungsverlage, an die 2003 noch 93 Prozent der Werbeausgaben gingen . 2020 war ihr Umsatz und Marktanteil auf gerade einmal 8,34 Prozent gesunken.
Wie konnte das passieren? Hatten sich die Verlage zu sehr an ihre traditionellen Vorgehensweisen zum Produzieren und Präsentieren von Nachrichten geklammert und waren einfach zu altmodisch, um sich an der Internet-Blase Anfang der 2000er zu beteiligen? Das kann durchaus sein. Hatten sie eine faire Chance, mit den Technologieunternehmen zu konkurrieren? Ich glaube nicht. Google und Facebook haben mit ihren neuen Werbemethoden ein perfides Geschäftsmodell geschaffen, das darauf basiert, Aufmerksamkeit zu gewinnen. Gleichzeitig konnten sich die beiden Unternehmen mithilfe dieses Geschäftsmodells eine Vormachtstellung auf dem Markt für personalisierte Anzeigen sichern und bewahren.
Um mehr Anzeigen zu verkaufen, überzeugten sie sowohl kleinere Händler_innen als auch große Konzerne, dass ihre Instrumente in der Lage seien, die maximale Aufmerksamkeit der Plattformnutzer_innen zu ködern, indem sie äußerst persönliche Daten der Nutzer_innen erfassen und die Anzeigen anhand dieser Daten auf die Nutzer_innen zuschneiden. Die berühmte Harvard-Professorin Zuboff bezeichnet dies als den Ursprung der „Überwachungswerbung“. Facebook und Google überwachen ihre Nutzer_innen nicht nur auf ihren eigenen, sondern auch auf externen Seiten und gehen damit weiter, als Orwell sich je hätte träumen lassen. Diese Methoden verstoßen gegen unsere Rechte auf Privatsphäre und Datenschutz.
Tracking-Anzeigen werden über intransparente, automatisierte Echtzeit-Ausschreibungssysteme verkauft. Mit diesen Systemen können Marketing-Fachleute, die ihre Produkte bewerben wollen, auf eine „leere“ digitale Anzeigefläche und auf die Nutzer_innen, die das Produkt sehen sollen, bieten. Klingt spannend, aber die Ergebnisse sind eher unbefriedigend. Die Marketing-Expert_innen wissen oft gar nicht, wo ihre Anzeige letzten Endes landet. Dank dieser undurchsichtigen Systeme werden diese Werbemärkte gar nicht überprüft. Nur die, die die Daten besitzen, können auf die Datensätze zugreifen, die zeigen, wie wirksam die Werbung ist. Facebook und Google gelingt es mit ihren stark überzeichneten Berichten und Verkaufsargumenten, die Marketing-Welt von der Überlegenheit ihrer Produkte zu überzeugen. Auch Nachrichtenverlage sind auf diese Versprechen hereingefallen und haben damit nicht nur ihre Konkurrenz finanziell unterstützt, sondern auch ihre exklusive Zielgruppe verraten. Ein Aufruf der Website des Guardianführt zu 159 Tracking-Anfragen, die meisten davon für Google und Facebook. Damit ist der Guardian nicht die einzige Zeitung, die nicht mehr in der Lage ist, ihren eigenen Leser_innen Anzeigen zu verkaufen.
Außerdem fanden Forscher_innen der Universitäten von Minnesota und Kalifornien heraus, dass die finanziellen Vorteile von Tracking-Anzeigen im Vergleich zu neutralen Anzeigen stark übertrieben dargestellt worden waren. Einige Konzerne wie P&G oder Ebay stellten daraufhin ihre Ausgaben für digitale Anzeigen ein. Ihnen war aufgefallen, dass sich ihre Verkaufszahlen nicht änderten. Die sogenannte kontextbezogene Werbung, die sich nicht auf den Betrachtenden der Anzeige, sondern vielmehr auf den Präsentationsort konzentriert, scheint wesentlich bessere Ergebnisse zu liefern. Die niederländische staatliche Stiftung für digitale Werbung STER verzeichnete einen Anstieg der Werbeeinnahmen von 149 Prozent, nachdem Tracking-basierte durch kontextbezogene Anzeigen ersetzt wurden. Eine norwegische Verlagsgruppe steigerte ihre Einnahmen um 391 Prozent, indem sie kontextbezogene statt Tracking-basierte Werbung verwendete.
Warum also verwenden die meisten Unternehmen und Nachrichtenmedien weiterhin Tracking-Anzeigen? Die Antwort ist ganz einfach: Sie sind in den Systemen von Facebook und Google gefangen. Sie geben die Daten ihrer Kund_innen an die Tech-Riesen weiter und werden im Gegenzug von den Mitarbeiter_innen der Silicon Valley-Unternehmen bei der Nutzung ihrer Dienste „unterstützt“. Wenn sie das gegenwärtige System nicht mehr nutzen, machen sie sich ihren bisherigen Verbündeten zum Feind.
Diese Abhängigkeit kommt sie teuer zu stehen. Google und Facebook als „Mittelsmänner“ behalten 50 bis 70 Cent von jedem ausgegebenen Euro für sich selbst. Gleichzeitig ermöglichen ihre Systeme Betrug durch Werbung. Letztes Jahr verdienten gefälschte Websites und gefälschte Werbe-Konten insgesamt 45 Milliarden Dollar. Laut dem Dachverband der Werbebranche wird dieser Betrag 2023 einen Höchstwert von 100 Milliarden Dollar erreichen. Damit wäre Anzeigenbetrug die zweitgrößte Form der Kriminalität weltweit.
Aus diesem Grund ist ein stärkerer Wettbewerb dringend notwendig. Die 50 bis 70 Prozent Marktanteil von Google und Facebook am Markt für digitale Werbung verschaffen den beiden Konzernen ein Duopol. Sie besitzen gigantische Mengen illegal erhobener persönlicher Daten, und kein Zeitungsverlag kann in einem fairen Wettbewerb gegen sie bestehen. Die einzige Möglichkeit zur Herbeiführung eines Wettbewerbs besteht darin, die Nutzung persönlicher Daten zu Werbezwecken einzuschränken. Ein Verbot von Tracking-Anzeigen wäre die Lösung.
Mit dem Gesetz über digitale Märkte (Digital Markets Act, DMA) von 2020 will Europa die Marktmacht der größten Technologiekonzerne eindämmen. Das DMA konzentriert sich auf die ausufernde Marktdominanz einiger weniger Plattformen. Die größten und bedeutendsten Konzerne wie Meta (Facebook), Alphabet (Google), Apple und Amazon werden diesem Gesetz unterliegen. Diese sogenannten Gatekeeper müssen 17 Verpflichtungen und Verbote einhalten. Alle Vorgaben basieren auf früheren Wettbewerbsfällen und sollen den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung verhindern.
Derzeit verpassen das EU-Parlament und der Rat ihren Positionen den letzten Schliff, bevor die gemeinsamen Verhandlungen aufgenommen werden. Eine eindeutige Haltung zu Tracking-Anzeigen und Medienvielfalt ist jedoch unerlässlich. Wenn wir wirklich wieder Lokalzeitungen und unabhängige Medien haben wollen, müssen wir spezielle Bestimmungen ausarbeiten, um ihnen zu helfen.
Nicht nur gewerbliche Einrichtungen werden von dem zunehmenden Wettbewerb profitieren. Zeitungsverlage auf der ganzen Welt sind auf höhere Einnahmen angewiesen, um zu überleben. Wenn wir zulassen, dass die sozialen Medien ins Unermessliche wachsen und zur einzigen verfügbaren Nachrichtenquelle werden, gefährden wir unsere Demokratie und Kultur. Wenn es uns gelingt, das gezielte Werbe-Tracking und Targeting von Internetnutzer_innen einzuschränken oder sogar zu verbieten, schaffen wir faire Wettbewerbsbedingungen für alle Beteiligten auf dem Werbemarkt.
Zum Autor
Paul Tang ist Mitglied des Europäischen Parlaments.
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