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Abteilung
Archiv der sozialen Demokratie
„Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich Dienst sein für das Gemeine Beste. Diese Sätze der Verfassung sind von besonderer Wichtigkeit.“
So zitiert das Protokoll der Nationalversammlung in Weimar vom 21. Juli 1919 aus einer Rede von Hugo Sinzheimer. Er prägte als jüdischer Sozialdemokrat und Jurist zwei Kernsätze der Weimarer Verfassung, die später von seinem Schüler Carlo Schmid ins Grundgesetz eingebracht wurden.
Bild: Hugo Sinzheimer zwischen 1925 und 1945, Quelle: Wikimedia Commons; Rechte: gemeinfrei.
Mit diesen Sätzen wird erstmals in einer Verfassung der Anspruch auf soziale Gerechtigkeit als staatliche und gesellschaftliche Aufgabe formuliert. Sinzheimer folgt damit einer der Grundlinien des Judentums, mit Geboten der Tora (Fünf Bücher Moses) für soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Das ist auch das Grundanliegen von sozialdemokratischen Juden und Jüdinnen, die sich in der SPD seit ihrer Gründung und auch in ihren Vorgängerparteien engagieren: soziale Gerechtigkeit als politische Aufgabe zu verwirklichen. Dabei geht es, wie schon Moses Hess in seiner ersten sozialistischen Schrift verdeutlichte, nicht um die Abschaffung des Eigentums, auch nicht an „Produktionsmitteln“, sondern um die soziale Verpflichtung des Eigentums und der Eigentümer als Grundlage für eine gerechte Gesellschaft. Jüdische Sozialdemokrat_innen waren und sind vom jüdischen Gesetzesdenken geprägt, das nicht Herrschaft und die bestehende Gesellschaftsordnung statisch forciert, sondern die Gesellschaft und den Menschen progressiv verbessern soll. Entgegen der allgemeinen Meinung, sind jüdische Sozialdemokrat_innen ideengeschichtlich von jüdischen Grundwerten beeinflusst, unabhängig davon, ob sie Religionsvorschriften folgten oder nicht. Hugo Sinzheimer und Eduard Bernstein sind dafür prägende Beispiele.
Es geht hier um eine soziale Gerechtigkeit, die es ermöglicht, die Freiheit, die in jedem Menschen steckt und den Kern der Menschenwürde ausmacht, als Selbstverwirklichung zu erleben, als Weg zur persönlichen und gesellschaftlichen Emanzipation. Die Freiheit zur Selbstverwirklichung muss nach dieser Auffassung allen in der Gesellschaft ermöglicht werden. Die rein liberale Auffassung der Freiheit ignoriert jedoch die sozialen Umstände. Das Judentum tut dies nicht, ebenso wenig wie die Sozialdemokratie. Soziale Gerechtigkeit bedeutet demnach, gesellschaftliche Hindernisse der Freiheit zu beseitigen. Sinzheimers Hauptwerk aus dem Jahr 1916 greift diesen Grundgedanken schon im Titel auf: „Ein Arbeitstarifgesetz. Die Idee der sozialen Selbstbestimmung im Recht“. Es war die Grundlage des Mitbestimmungsrechts auf dem Weg zu einer Wirtschaftsdemokratie. Unter Wirtschaftsdemokratie verstand Sinzheimer rechtliche Möglichkeiten für Arbeiter_innen, den Arbeitsalltag als Verwirklichung des Anspruchs auf Selbstbestimmung mitzubestimmen. Demokratie sollte nicht auf die Parlamente beschränkt werden. Durch Betriebsräte und Gewerkschaften sollte auch auf wirtschaftliche Rahmenbedingungen der Industrie und auf nationaler Ebene rechtlich verbindlich Einfluss genommen werden. Dieser umfassende Demokratieanspruch ist leider zunehmend in Vergessenheit geraten.
Hugo Sinzheimer (1875–1945) ist zu Unrecht in der SPD vergessen. Sein Name ist wie der von vielen deutschen Juden durch die Nazis aus dem politischen, kulturellen und wissenschaftlichen Bewusstsein gelöscht worden. Lediglich die Hans-Böckler-Stiftung hält mit ihrem „Hugo Sinzheimer Institut für Arbeits- und Sozialrecht“ die Erinnerung an sein bahnbrechendes Denken für die Wirtschaftsdemokratie noch wach.
Hugo Sinzheimer, am 12. April 1875 in Worms in einer reform-jüdischen Familie geboren, war auf sein Judentum stolz. In seinen Lebenslauf für die Doktorprüfung in Heidelberg 1898 schrieb er: „Ich bin Israelitischer Religion“. Bereits als etablierter Rechtsanwalt in Frankfurt tätig, nahm er die aus Würzburg stammende junge jüdische Witwe Paula Selig zur Frau. Das Paar bekam drei Töchter, von denen alle Religionsunterricht in der liberal eingestellten Frankfurter Westend Synagoge erhielten. Sinzheimers Vater war Textilfabrikant, der maschinell Herrenanzüge herstellte; er kam also aus einem Haus der oberen Mittelschicht. Immer wieder berichteten Zeitzeugen, wie modisch er sich kleidete, aber ebenso, wie er mühelos aus dem Kopf Goethe-Gedichte rezitieren konnte. Während des Studiums der Rechtswissenschaft in München, Berlin und Marburg wurde Sinzheimer eingeladen, in der Arbeiterbildung tätig zu werden. Aus dieser Erfahrung heraus wurde er 1903 in Frankfurt Rechtsanwalt für die Vorläufergewerkschaft der heutigen IG Metall, dem Deutschen Metallarbeiterverband.
1917 trat er in die SPD ein; 1919 wurde er in die Nationalversammlung gewählt. Hier gehörte er als Mitglied des Verfassungsausschusses zu den Autoren der Weimarer Reichsverfassung, der ersten demokratischen Verfassung Deutschlands. 1920 berief ihn die Universität Frankfurt zum ersten Professor für Arbeitsrecht in Deutschland. Er blieb gleichzeitig Rechtsanwalt für die Metallgewerkschaft und wurde Mitgründer sowie Dozent der „Akademie der Arbeit“, die Betriebsräte und Gewerkschafter für ihre Aufgaben ausbildete, eine Institution, die bis heute besteht.
Aufgrund der rechtsradikalen Morde zu Beginn der Weimarer Republik kandidierte Sinzheimer nicht noch einmal für ein Mandat; seine Frau befürchtete ein Attentat, nachdem er 1919 im Zusammenhang mit der „Dolchstoßlegende“ eine persönlich gegen ihn gerichtete antisemitische Hetzkampagne in der bürgerlichen Presse erleben musste.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 kam er zunächst in „Schutzhaft“; nachdem er freikam, floh er Stunden später in die Niederlande, gerade rechtzeitig, bevor am nächsten Morgen die SA vor der Tür stand, um ihn erneut festzunehmen. Die Universität in Amsterdam ernannte ihn daraufhin zum Professor für Rechtssoziologie.
Nach der deutschen Besetzung entkamen er und Paula Sinzheimer knapp der Deportation in den sicheren Tod. Zusammen mit der jüngsten Tochter tauchten sie unter. Eine andere Tochter wurde ins KZ Theresienstadt deportiert, die älteste mit ihren zwei kleinen Kindern nach Bergen-Belsen. Alle Kinder und Enkel von Sinzheimer überlebten das KZ. Sinzheimer selbst starb am 16. September 1945 in Bloemendaal bei Amsterdam an Entkräftung.
Soziale Gerechtigkeit als politische Aufgabe geht nicht unbedingt nur vom Staat aus, wie Hugo Sinzheimer als Verfechter einer Wirtschaftsdemokratie klarmachte. Auch gesellschaftliche Kräfte können Recht schaffen. Mit diesem Grundgedanken, der das Konzept der Tarifautonomie bestimmte, begründete Sinzheimer die rechtliche Bindung des Tarifvertrags zugleich auch als Ausdruck einer sozialen Selbstbestimmung (der gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft). Bis heute folgt das Bundesarbeitsgericht seiner Argumentation von 1916 über den Tarifvertrag als verbindliches Recht. Deshalb gilt er gemeinhin als Vater des modernen deutschen Arbeitsrechts. Sinzheimer sah in den Betriebsräten unabdingbare Akteure in einer Wirtschaftsdemokratie. Diese Sicht wurde im Betriebsrätegesetz und nach dem Krieg in der Montanmitbestimmung zumindest ansatzweise verwirklicht. Auch hatte er die Gewerkschaften und ihre Arbeit ausdrücklich in der Weimarer Verfassung geschützt, was im Grundgesetz übernommen wurde.
Aus Sinzheimers Sicht bestand nicht nur eine Pflicht, gerechte Steuern und Sozialabgaben zu zahlen. Seine Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen seiner Zeit ging viel tiefer. Sie richtete sich auf das sehr ungleiche Verhältnis zwischen den Eigentümern der Fabriken und den Arbeitern und Arbeiterinnen. Jene hatten nur ihre Arbeitskraft als Einsatz, um zu leben, und waren deshalb vom Wohlwollen der Fabrikeigentümer abhängig. Die Fabrikeigentümer dagegen konnten sich ihre Arbeiter und Arbeiterinnen aussuchen und nach ihrem Willen den Lohn kürzen oder ohne Grund kündigen. Diese existenzielle Abhängigkeit galt es für Sinzheimer durch das Recht einzuschränken, so dass, wie er schrieb, „der Arbeiter nicht mehr Untertan [war], sondern Bürger“ wurde. Damit stellte er sich gegen die Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft und des Industriekapitalismus: die Vertragsfreiheit. Diese sah beide Vertragsseiten – Fabrikeigentümer und Arbeiter – als gleiche Partner, was aber nicht der sozialen Wirklichkeit entsprach. Das liberale Vertragsrecht erlaubte es dem Starken, den Schwachen auszubeuten oder auszunutzen. Mit der Vertragsfreiheit des Bürgerlichen Gesetzbuches wurde bis dahin die Ausbeutung der Schwachen legitimiert. Auf dem Weg zu einem modernen Arbeitsrecht wollte Sinzheimer die Freiheit der Starken einschränken:
„Menschliche Würde zu erhalten, ist die besondere Aufgabe des Arbeitsrechts. Seine Bestimmung besteht darin, zu verhüten, dass Menschen gleich Sachen behandelt werden. Es verwirklicht die ‚reale Humanität‘, die viel mehr ist als ein nur ideologischer Humanismus.“ (1927 aus seinem Lehrbuch des Arbeitsrechts)
Abraham de Wolf
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