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Der rasante Aufstieg der deutschen Arbeiter_innenbewegung in den letzten Dekaden des 19. Jahrhunderts verlief parallel zur rapiden Integration und Assimilation deutscher Jüdinnen und Juden. Verbunden über den Anspruch auf Emanzipation, hatte dies auch eine überproportionale Beteiligung jüdischer Personen innerhalb der Sozialdemokratie zur Folge. Jüdische Sozialdemokrat_innen bildeten jedoch keine einheitliche Strömung in der Partei. Die Meinungsverschiedenheiten und die sich bekämpfenden ideologischen Strömungen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie spiegelten sich auch in der jüdischen Mitgliedschaft wider. Das breite Spektrum jüdischer Sozialdemokrat_innen dient so auch als Beweis für die erfolgreiche Assimilation deutscher Jüdinnen und Juden: Sie konnten innerhalb einer bestimmten Partei partizipieren, ohne dass ihre Herkunft dafür maßgeblich war; sie waren Teil eines Ganzen, ohne jedoch eine eigene Strömung oder eine Interessengemeinschaft zu bilden.
In diesem Beitrag können nicht alle relevanten Akteur_innen vorgestellt werden. Die Auswahl illustriert jedoch, wie vielfältig jüdische Positionen innerhalb der deutschen Sozialdemokratie waren.
Bild: Porträts sechs jüdischer Sozialist_innen; Rechte: Adsd.
„Der Kommunistenrabbi Moses“, wie Arnold Ruge Moses Hess nannte, ist für viele der Gründer der deutschen Sozialdemokratie. Diese Rolle ist fast in Vergessenheit geraten. Bekannter ist er dafür für seine frühen Überlegungen zu einer jüdischen Nation, die knapp 40 Jahre später vor allem die sozialistischen Zionisten beeinflussten: Hess, der in Bonn in einer orthodox-jüdische Familie aufwuchs, war der erste Sozialist, der behauptete, dass die Zukunft der Welt von einer harmonischen Synthese zwischen verschiedenen nationalen Kulturen abhängig sei. In dieser Zukunft sei auch die messianische Vision des Judentums – einschließlich eines jüdischen Nationalstaates – ein entscheidender Faktor.
Das Aufgreifen des „Antagonismus zwischen Reichtum und Armut, zwischen Demokratie und Aristokratie“ war das Originelle bei Hess (Jürgen Wilhelm). Als Frühsozialist formulierte er Vorschläge, um sich mit der Realität der aktuellen Lebensfragen auseinanderzusetzen. Sein Denken bildete die Basis des von Marx und Engels beschriebenen „wahren Sozialismus“. Die Idee Hess‘ und seiner Nachfolger_innen sollte als Ersatz zur gewaltsamen Revolution dienen: eine Alternative sowohl zum kapitalistisch-liberalen Individualismus als auch zum gewaltsamen revolutionären Aufstand. Seine Auslegung des Kommunismus war jedoch – anders als bei Marx und Engels – eine Frage der Ethik, nicht der Wirtschaft oder der Klassen. Seine ideale Gesellschaft solle auf „wesentlicher Harmonie“ beruhen, die mit dem Ziel einer „Gütergemeinschaft“ zu einer Auflösung der „alten Gegensätze der Niedern und Hohen“ führen könne.
Hess arbeitete eng mit seinem langjährigen Freund Ferdinand Lassalle zusammen. Lassalle, 1825 in Breslau in eine wohlhabende jüdische Familie geboren und 1864 infolge eines Duells verstorben, ist heutzutage mehr eine Ikone der deutschen Sozialdemokratie als eine ideologische Quelle. Lassalle verfolgte mit der Forderung eines allgemeinen Wahlrechts und der Unterstützung von Produktivgenossenschaften ein eigenständiges Sozialismuskonzept. Allerdings waren seine Ansichten nicht revolutionär im marxistischen Sinne, denn er scheute auch nicht davor zurück, taktisch mit Bismarck und dem preußischen Staat zu kooperieren. Dass Lassalles Ideen letztlich nicht umsetzbar waren, wurde schon im 19. Jahrhundert deutlich.
Die wichtigste Leistung des deutsch-jüdischen Arbeiterführers war jedoch nicht seine wirtschaftliche Lehre; diese hat er nie fertiggestellt. Sie blieb als Zukunftsplan zurück, als er mit 39 Jahren starb. Sein Verdienst war dagegen die Neuerfindung der deutschen Arbeiter_innenbewegung nach ihrer Niederlage in der Revolution von 1848, wie es Michael R. Krätke formulierte. Lassalle wurde und wird vor allem als Gründungsmythos aufgefasst, der in der Arbeiterbewegung und speziell in der Sozialdemokratie den Glauben daran erweckte, die Welt zu ändern und das kapitalistische System eines Tages zu erobern. Mit der Gründung des Allgemeinen Deutsche Arbeitervereins (ADAV) konnte er 1863 einen Grundstein dafür legen.
Paul Singer, der mit August Bebel fast zwei Jahrzehnte lang Ko-Vorsitzender der SPD war, ist ein gutes Beispiel für die Assimilation und Integration von Jüdinnen und Juden in den Mainstream der deutschen Sozialdemokratie. Auch wenn sein Name heute weitgehend unbekannt ist, war Singer von zentraler Bedeutung für die Bewegung. Der ehemalige Linksliberale und erfolgreiche Geschäftsmann wuchs in einer Berliner jüdischen Familie unter ärmlichen Verhältnissen auf. Später engagierte er sich in der 1869 von Bebel und Liebknecht gegründeten Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) und war in der Parteipresse der Sozialistischen Arbeiterpartei (SAP) aktiv, die aus der Vereinigung mit dem Lassalle‘schen ADAV entstanden war. Ab 1890, als die Partei nach der Aufhebung des Sozialistengesetzes wieder legal war, wurde Singer zum Ko-Vorsitzenden in den Parteivorstand gewählt. Er hatte dieses Amt bis 1909 inne und war der kompromisssuchende Kopf der Partei, der auch außerhalb der eigenen Reihen Freund_innen fand. Als er Ende Januar 1911 starb, begleiteten ihn hunderttausende Menschen auf seinem letzten Weg zum Berliner Zentralfriedhof Friedrichsfelde.
Singers Nachfolger als Ko-Vorsitzender wurde Hugo Haase. Nur wenige Jahre im Vorsitz der Partei, prägte der in Ostpreußen geborene Haase einen neuen Typus des assimilierten Judentums innerhalb der SPD. Er war jemand, der bis an die Spitze der Partei kam und sich auch traute, in grundsätzliche Polemiken inner- und außerhalb der Partei zu gehen, auch wenn es ihn in seinem Fall sogar das Leben gekostet hat. Haase war, genau wie der ebenfalls jüdische Eduard Bernstein, ein entschiedener Gegner des Ersten Weltkriegs. Die beiden veröffentlichten zusammen mit Karl Kautsky am 19. Juni 1915 in der Leipziger Volkszeitung das „Gebot der Stunde“. Es war zu diesem Zeitpunkt der wichtigste politische Text aus Deutschland gegen die Weiterführung des Weltkriegs. In der Folge fanden sich die drei Sozialdemokraten – zuvor auf unterschiedlichen Flügeln auftretend – in einer neuen oppositionellen Fraktion innerhalb der SPD wieder. 1917 erwuchs hieraus eine neue Partei – die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD). Haase nahm nach der Novemberrevolution und der Gründung der Republik 1918 an der Regierung Friedrich Eberts, dem Rat der Volksbeauftragten, teil, trat jedoch schnell aus Protest gegen die vermeintliche militärische Richtlinie zurück. Am 8. Oktober 1919 wurde er durch einen Rechtsextremen am Berliner Reichstag angeschossen, woran er einen Monat später verstarb. Hugo Haase war eines der vielen Opfer einer Serie rechter Gewalt in der Weimarer Republik.
Der Name der polnisch-deutschen revolutionären Sozialistin Rosa Luxemburgs (1871–1919) ist auch 150 Jahre nach ihrer Geburt allseits bekannt. Zusammen mit Eduard Bernstein (1850–1932) waren beide Beispiele für streitlustige jüdische Sozialdemokrat_innen, die für ihre Überzeugung und die Wahrheit lebhaft kämpften: „Zu sagen, was ist, bleibt die revolutionärste Tat“, bleibt eines der bekanntesten Zitate Luxemburgs. Beide waren jüdischer Abstammung. Politisch unterschieden sie sich stark voneinander und standen in langjährigem Streit um die Interpretation des Marxismus und den Weg zum Sozialismus.
Bernstein, der als Chefredakteur des „Sozialdemokraten“ in den 1880er-Jahren zusammen mit Karl Kautsky und der „Neuen Zeit“ die Partei „marxisierte“, galt ab Ende der 1890er-Jahre als ideologische Triebkraft des revisionistischen Flügels der Partei. Er bezweifelte, dass die Theorien von Marx und Engels noch zur sozialen Realität Ende des 19. Jahrhunderts passten und argumentierte, dass die sozialistischen Ziele allein mit einer Revolutionsstrategie nicht erreicht werden konnten. Bernsteins Hauptargument lag darin, wissenschaftliche Axiome nicht als eherne Wahrheiten zu betrachten.
Im Gegensatz zum revolutionären Drang Luxemburgs und ihrer Anhänger_innen, suchte Bernstein den Weg, die sozialistischen Ideen in das existierende System zu integrieren und so die bürgerliche Gesellschaft und den Kapitalismus zu überwinden. Luxemburg dagegen wollte diesem System ein Ende bereiten und ein neues sozialistisches System – demokratisch und keinesfalls elitär – schaffen. Wie Bernstein verstand sie sich als Marxistin, war aber, trotz ihrer Kompromisslosigkeit in vielen Bereichen, keinesfalls doktrinär. Sie wurde im Zuge des gescheiterten „Spartakus-Aufstands“ im Januar 1919 durch Freikorps in Berlin ermordet. Bernstein dagegen war vermutlich der größte Anhänger der Weimarer Republik. Sie war seine Hoffnungsträgerin für eine gerechtere Gesellschaft und sollte die Zukunft Deutschlands und der Welt sichern. Sein Verdienst war, die Partei parlamentarischer und weniger dogmatisch zu gestalten; das gelang ihm nur teilweise.
Yuval Rubovitch
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