Als Konrad Adenauer am 27. September 1951, kurz vor dem jüdischen Neujahrsfest Rosch ha-Schana, im Bundestag eine Regierungserklärung zur Frage der Wiedergutmachung abgab, saß im Plenum auch der SPD-Abgeordnete Jakob Altmaier. Für den 61-Jährigen – neben Jeanette Wolff und Peter Blachstein einer von drei Parlamentariern mit jüdischer Herkunft in seiner Fraktion – war das offizielle Bekenntnis des Bundeskanzlers zu einer materiellen Wiedergutmachung für die Verbrechen des Nationalsozialismus an den europäischen Jüdinnen und Juden nicht nur deshalb so bedeutsam, weil Altmaier selbst ein Überlebender der Shoah war, sondern auch, weil er eine unverzichtbare Vermittlerrolle bei den geheim gehaltenen Vorgesprächen zu jener Regierungserklärung gespielt hatte.
Adenauer persönlich hatte Altmaier im März 1951 darum gebeten, Kontakt zu einem Vertreter des Staates Israel herzustellen, denn offizielle diplomatische Beziehungen gab es noch nicht. Für den in der kleinen jüdischen Community der jungen Bundesrepublik gut vernetzten Remigranten war das kein Problem: Über den israelischen Konsul Eliahu K. Livneh gelang es Altmaier, die Jerusalemer Regierung von direkten Gesprächen mit der Bundesregierung zu überzeugen. Wenige Wochen später kam es in Paris zu einem geheim gehaltenen Treffen Adenauers mit dem israelischen Botschafter in Frankreich und einem Vertreter des Jerusalemer Finanzministeriums, bald darauf zu einem Gespräch mit Nahum Goldmann, dem Präsidenten des Jüdischen Weltkongresses. Auf dessen Bitte erklärte sich Adenauer bereit, das Bekenntnis seiner Regierung zur Wiedergutmachung offiziell vor dem Bundestag zu verkünden. Als klar wurde, dass die Verhandlungspartner mit den zurückhaltenden Formulierungen des vorab übermittelten Redetexts von Adenauer nicht einverstanden waren, wurde Jakob Altmaier zur weiteren Abstimmung des Wortlauts nach Paris geschickt.
Der überarbeitete Text fand nun zwar die Zustimmung der Vertreter Israels und des Jüdischen Weltkongresses, nicht aber der SPD-Bundestagsfraktion. Kurt Schumacher, der Adenauer schon 1949 für seine viel zu „matten“ und „schwachen“ Äußerungen zu den Verbrechen an den europäischen Juden scharf kritisiert hatte, fand auch die nun geplante Regierungserklärung deutlich zu „lau“. Eigentlich sollte der Sozialdemokrat Paul Löbe als Alterspräsident des Bundestages im Anschluss an Adenauer eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen zur Wiedergutmachung verlesen, aber die SPD-Fraktion formulierte stattdessen aus Protest eine eigene Resolution. Darin brachte Löbe zum Ausdruck, dass die Initiative der Regierung zu einer Wiedergutmachung wesentlich früher hätte erfolgen müssen und Adenauers Verweis auf die zu erwartenden finanziellen Belastungen für die Deutschen angesichts der „furchtbare[n] Größe des Unrechts“ unangemessen sei. Auch an der Formulierung dieser Rede war Altmaier beteiligt.
Rastloses Exil und Entscheidung zur Rückkehr
Geboren wurde Jakob Altmaier am 23. November 1889 in Flörsheim am Main als eines von zehn Kindern einer alteingesessenen und frommen jüdischen Bäckersfamilie. Sein Vater Josef Altmaier war ehrenamtlicher Vorsteher und Kantor der örtlichen Synagoge. Zwar distanzierte sich Jakob im Laufe seines Lebens nie vom Judentum – anders als beispielsweise Peter Blachstein –, jedoch gibt es auch keine eindeutigen Belege dafür, dass er selbst religiös war.
Nach einer Kaufmannslehre volontierte Jakob Altmaier bei einer Zeitung und trat 1913 in die SPD ein, nachdem er August Bebel bei einer Kundgebung vor den Arbeiter_innen des nahegelegenen Opel-Werks gehört hatte. In einem Artikel von 1949 beschrieb er, wie nicht nur Bebel als Person ihn begeistert hatte, sondern auch dessen sozialistischen Grundüberzeugungen.
Er nahm als Freiwilliger am Ersten Weltkrieg teil, kehrte jedoch nach einer schweren Verwundung 1917 nach Hause zurück und schrieb fortan für die „Volksstimme“. In Frankfurt beteiligte er sich an der Novemberrevolution, berichtete für den „Vorwärts“ von den Versailler Friedensverhandlungen und war in den Jahren der Weimarer Republik als Auslandskorrespondent für verschiedene Zeitungen tätig. Am 1. April 1933, dem Tag des nationalsozialistischen „Judenboykotts“, floh Altmaier aus Deutschland: Als Jude, Sozialdemokrat und Homosexueller hatte er gleich aus mehreren Gründen mit seiner baldigen Verhaftung zu rechnen. Zu den Stationen seines ruhelosen Exils, in dem er weiterhin journalistisch und im Widerstand gegen das NS-Regime tätig war, zählten Frankreich, Jugoslawien, Spanien, Großbritannien, Griechenland und Ägypten.
Im Frühjahr 1946 besuchte Altmaier erstmals wieder seine Heimatstadt und trat in die wiedergegründete SPD ein. Sein familiäres Netzwerk war zerstört: Dreißig seiner Verwandten hatten das „Dritte Reich“ nicht überlebt, auch drei seiner Geschwister waren ermordet worden. Zu einer endgültigen Rückkehr nach Deutschland konnte er sich zu dieser Zeit noch nicht entschließen: In den ersten Nachkriegsjahren arbeitete er als Journalist und internationaler Kontaktmann der SPD hauptsächlich von Paris aus und beantragte im Frühjahr 1949 ein Visum für die USA. Erst als ihm im Vorfeld der ersten Bundestagswahl die Kandidatur für den sozialdemokratisch dominierten Wahlkreis Hanau angeboten wurde, entschloss sich Altmaier zu bleiben. Kurt Schumacher hatte nach der Erinnerung von Fritz Heine „besonderen Wert darauf gelegt, einen jüdischen Genossen in unserer Fraktion zu haben“. Heine und Ollenhauer kannten Altmaier aus London und hatten ihn vorgeschlagen. An Peter Blachstein schrieb Schumacher im November 1949, er ärgere sich über die „besorgten Biedermänner“ in der eigenen Partei, die auf die Kandidatur jüdischer Genoss_innen für politische Ämter und Mandate zurückhaltend reagierten und dabei vorgeblich besorgt auf die „politische Unerzogenheit des deutschen Volkes“ verwiesen, auf die potenziell „geringere Anziehungskraft“ solcher Kandidat_innen oder gar „die Gefahr einer Abstoßung der Wähler“. In Altmaier sah Schumacher einen idealen Vermittler und Kommunikator mit Blick auf die von ihm erhoffte „Aussöhnung zwischen Deutschland und dem Judentum“. Als es 1951 um die Anbahnung erster Kontakte zur Regierung des Staates Israel und den Beginn inoffizieller Verhandlungen über die Wiedergutmachung ging, war Altmaier der Mann der Stunde.