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"Holzschnittartige Vorstellungen von Heimat und Gesellschaft funktionieren in der globalen Welt nicht mehr"

Wir sprachen mit Dr. Lale Akgün über ihr Buch "Hüzün.. das heißt Sehnsucht: wie wir Deutsche wurden und Türken blieben".

Bild: Dr. Lale Akgün von spdfraktion.de

Bild: Ein undatiertes, privates Foto aus den siebziger Jahren zeigt eine türkische Gastarbeiterfamilie vor ihrem Auto. von picture alliance / dpa | Privat

2021 jährt sich das Anwerbeabkommen mit der Türkei zum 60sten mal. Deutschland ist in der Realität eines Einwanderungslandes angekommen. Menschen türkischer Abstammung sind heute fester Bestandteil der Gesellschaft. Im Buch "Hüzün.. das heißt Sehnsucht: wie wir Deutsche wurden und Türken blieben", gehen die türkisch-deutsche Politikerin Dr. Lale Akgün und der Journalist Baha Güngör der Frage der Zugehörigkeiten und Identitäten nach.

FES: "Hüzün... das heißt Sehnsucht: Wie wir Deutsche wurden und Türken blieben“ so heißt Ihr Buch, welches im März 2020 erschienen ist. Wie ist die Idee dieses Buches entstanden?

Dr. Lale Akgün: Die Idee zu diesem Buch stammt von meinem verstorbenen Freund, dem Journalisten Baha Güngör. Er wollte mit diesem Buch seine Biographie mit der Zuwanderungsgeschichte der Türken nach Deutschland verbinden. Zu unserer aller Trauer ist er während des Schreibens verstorben und konnte das Buch leider nicht zu Ende bringen. Daraufhin bat mich der Verlag, als seine alte Freundin, das Buch zu Ende zu schreiben. Ich habe es sehr gern gemacht, weil ich es als eine Art Vermächtnis gesehen habe.

Wie lange kannten Sie Baha Güngör und wie würden Sie ihn als Person beschreiben?

Baha und ich haben uns als Kinder kennengelernt. Baha ist Oktober 1961 nach Deutschland gekommen, ich September 1962. Als er November 2018 starb, kannten wir uns 56 Jahre. Sein Stiefvater war Zahnarzt und mein Vater war es auch; zwei Kollegen, die sich in Deutschland begegneten und sich sympathisch fanden. Da lag es nahe, dass sie sich häufig sahen und wir Kinder natürlich auch.

Was kann man über einen Menschen sagen, den man so lange gekannt hat? Er war wie ein Bruder für mich, mit allem, was ihn ausgemacht hat. Er war ein durch und durch extrovertierter Mensch mit viel Lebensfreude und Humor.

Heißt "Hüzün" tatsächlich Sehnsucht? Und warum werden die Themen wie Identität und Heimat oft mit der Sehnsucht oder Melancholie verbunden?

Tatsächlich heißt Hüzün nicht Sehnsucht, das türkische Wort für Sehnsucht heißt „hasret“. Hüzün würde ich mit Melancholie oder mit unbestimmter Trauer übersetzen. Aber Baha bestand darauf, das Buch Hüzün… das heißt Sehnsucht zu betiteln. Wir hatten lange vor seinem Tod, als niemand ahnen konnte, dass ich das Buch zu Ende schreiben würde, über diesen Titel diskutiert. Er beharrte darauf und da war es eine Ehrensache für mich, diesen Titel zu behalten. „Heimat“, schreibt Ernst Bloch in seinem Werk Prinzip Hoffnung, „ist, was allen in der Kindheit erscheint und worin noch niemand war“. Da ist es doch nachvollziehbar, dass „Heimat“, der wir uns in unseren Vorstellungen nur annähern können durch Symbole und bestimmte Augenblicke, immer ein Sehnsuchtsort bleibt. Gerade, wenn man dem Ort entrissen ist, in dem man als Kind gelebt hat. Und bei Baha war dieser Verlust eben mit Trauer verbunden.

Wie würden Sie das Gefühl der Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft beschreiben? Kann man mehrere Herzen gleichzeitig in der Brust haben?

Selbstverständlich. Gerade, wenn Sie Heimat als Sehnsuchtsort definieren, dann können Sie auch mehrere Sehnsuchtsorte haben und sie auch lieben. Und die Zugehörigkeit zur Gesellschaft? Da wir immer zu mehreren gesellschaftlichen Gruppierungen angehören, können wir auch zu verschiedenen Gruppierungen loyal sein. Holzschnittartige Vorstellungen von Heimat und Gesellschaft, die den Einzelnen zwingen wollen, sich für eine Seite zu entscheiden, funktionieren in der globalen Welt nicht mehr.


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