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Zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens mit der Türkei sprechen wir mit dem Historiker Stefan Zeppenfeld über Hintergründe und Entwicklungen.
Das Anwerbeabkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei feiert am 30. Oktober seinen 60. Geburtstag. Wie kam es 1961 zu diesem Abkommen und wer kam über diesen Weg nach Deutschland?
Das Abkommen zwischen der Bundesrepublik und der Türkei war das Ergebnis von längeren Verhandlungen. Die Türkei hatte schon seit 1960 auf solch ein Agreement gedrängt. Die Bundesrepublik, die ja schon 1955 Abkommen mit Italien sowie 1960 mit Spanien und Griechenland geschlossen hatte, war da aber zunächst zurückhaltend. Der Druck der Industrie im sogenannten „Wirtschaftswunder“ wuchs aber, es wurden immer weitere Arbeitskräfte benötigt. Die waren vor Ort einfach nicht mehr verfügbar, es herrschte faktisch Vollbeschäftigung. Aber auch außenpolitische Gründe spielten eine Rolle: Die Türkei war NATO-Partner und machte deutlich, dass sie ein Ablehnen eines Abkommens als Herabwürdigung hinter Griechenland verstehen würde.
Die Türkei war an Anwerbeabkommen mit europäischen Ländern unter anderem deshalb interessiert, um den eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten. Denn anders als in der Bundesrepublik stiegen in der Türkei die Arbeitslosenzahlen. Dass durch die „Gastarbeit“ aber ausschließlich ungebildete Männer aus dem ländlichen Anatolien nach Deutschland kamen, ist allerdings ein Vorurteil und historisch nicht zutreffend. Gerade aus den Metropolen wie Istanbul oder Ankara ließen sich viele junge Frauen anwerben, die einschlägige Berufsausbildungen durchlaufen hatten. Zu den „Gastarbeitern“ gehörte etwa auch Lehrer*innen, sogar Ärzte sollen sich darunter befunden haben. Arbeitslosigkeit war demnach nicht der einzige Grund, als Arbeitskraft ins ferne Deutschland zu gehen.
Welche Situation fanden dieMigrant*innen vor, als sie als „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik kamen? Wie haben sie gelebt, wo haben sie gearbeitet und inwiefern gab es hier Unterschiede zwischen Männern und Frauen?
Das Leben der „Gastarbeiter“, das legt diese Bezeichnung ja schon nahe, war eng an den anwerbenden Betrieb gebunden. Die großen Firmen stellten Wohnheime zur Verfügung, in denen sie ihre Arbeiter*innen in Mehrbettzimmern und mit Etagenküchen und -bädern unterbrachten. Diese Unterkünfte waren streng nach Geschlechtern getrennt, auch Besuche von Frauen in einem Wohnheim für Männer (und umgekehrt) waren verboten. Für Ehepaare gab es dann auch gesonderte Wohnheime. Viele Berichte aus der Zeit legen nahe, dass die großen Erwartungen an das Leben in Deutschland bitter enttäuscht wurden.
Die Männer waren vor allem in der Automobilproduktion, im Bergbau oder in der Stahlindustrie tätig. Bis zu jeder fünften Arbeitskraft aus der Türkei war eine Frau. Sie fanden zu Beginn vor allem in der Textil- und in der Elektroindustrie Beschäftigung. Die Männer gingen also den klassischen „Malocher“-Berufen nach, die Frauen führten eher filigrane Tätigkeiten aus, etwa das Verlöten von Platinen.
Im Lauf der Jahrzehnte änderten sich sowohl die Anforderungen des Arbeitsmarkts als auch die Zugangsmöglichkeiten zu Bildung. Welche Möglichkeiten der beruflichen Weiterentwicklung oder des sozialen Aufstiegs gab es?
In den 1970er Jahren endete der wirtschaftliche Boom in Westdeutschland. Eher als Vorsichtsmaßnahmen verhängte die Bundesregierung Ende 1973 abrupt den Anwerbestopp, der die „Gastarbeit“ beenden sollte. Viele Arbeitsmigrant*innen blieben trotz ihrer nun deutlich verschlechterten Ausgangslage in der Bundesrepublik. Das galt vor allem für diejenigen aus der Türkei, die nun verstärkt ihre Familien nachholten.
Möglichkeiten beruflicher Weiterbildung gab es zunächst aber nicht. Einer respektablen Zahl der „Gastarbeiter“, die schon gut ausgebildet nach Deutschland und dequalifiziert in der Industrie angefangen hatten, gelang es, in ihre einstigen Berufe zurückzukehren. Ich greife wieder die Lehrkräfte heraus: Das deutsche Bildungssystem stand angesichts der vielen migrierten Schulkinder ohne Deutschkenntnisse vor einem massiven Problem. Schulbehörden suchten unter den „Gastarbeitern“ mühsam diejenigen, die bereits in der Türkei im Lehrberuf gearbeitet hatten, um sie für den Schulbetrieb einzustellen.
So eine berufliche Entwicklung blieb aber eher die Ausnahme, den klassischen „Gastarbeitern“ der ersten Generation bot sich so eine Chance kaum. Für sie hatte es ja nicht einmal flächendeckend Sprachkurse gegeben. Beruflichen und damit sozialen Aufstieg erreichten dann vor allem ihre Kinder. Sie verfügten in wachsender Zahl über deutsche Schulabschlüsse und damit auch ganz andere Zugangsmöglichkeiten zum Arbeitsmarkt als ihre Eltern.
„Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen" formulierte der Schriftsteller Max Frisch 1965. Von heute aus betrachtet: Inwiefern hat das Anwerbeabkommen mit der Türkei diese Gesellschaft zu dem gemacht, was sie heute ist?
Das zeigen ja allein schon die nüchternen Zahlen: Etwa drei Millionen Türkeistämmige leben in Deutschland. In den meisten Fällen geht ihr Leben hier auf das Anwerbeabkommen zurück. Die Arbeitsmigration zählt zu den wichtigsten gesellschaftlichen Wandlungsprozessen der Nachkriegsgeschichte. Wir leben in einer post-migrantischen und vielfältigen Gesellschaft, die „Gastarbeit“ hat maßgeblich dazu beigetragen.
Es ist allerdings schon bemerkenswert, dass auch 2021 keine Rede zur türkischen Migration ohne diesen Satz von Max Frisch auskommt. Das zeigt, dass nicht nur während der Zeit der Anwerbeabkommen die soziale und menschliche Bedeutung der Arbeitsmigration unterschätzt wurde: für die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft, vielmehr aber natürlich noch für die Migrant*innen selbst. Aber auch in der Folgezeit waren die Lerneffekte offenbar gering. Deshalb fand ich die Reden von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zu diesem 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens sehr gelungen: „Wir sind ein Land mit Migrationshintergrund.“ Das ist ein Satz mit Wucht. Er hat damit ganz bewusst den Fokus verschoben: weg von den Menschen mit Einwanderungsgeschichte als Sonderfall unserer Gesellschaft, hin zur Migration als historischen Normalfall.
Welche Bedeutung hat dieser 60. Jahrestag im Jahr 2021?Wie hat sich die politische und gesellschaftliche Diskussion mit Blick auf Zuwanderung in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten verändert?
Die Bundesrepublik stritt ja bis in die 1990er Jahre vehement ab, ein Einwanderungsland zu sein. Das hatte schon Züge von Realitätsverweigerung. Seitdem hat sich eine Menge getan und verändert, allerdings nicht nur zum Guten. Ich denke, dass die große politische und mediale Aufmerksamkeit, die dem Anwerbeabkommen in diesem Jahr zuteilwird, auch ein gesellschaftspolitisches Statement ist. Denn seit dem runden 50. Jubiläum im Jahr 2011 hat sich die Debatte um Migration und um den Islam im Besonderen radikalisiert. Diese Radikalisierung hat gerade erst eine rassistische und in Teilen rechtsextreme Partei zum zweiten Mal in den Bundestag gebracht. Da scheint dieser Jahrestag im Jahr 2021 ein passender Anlass, um zu sagen: Natürlich gehört ihr dazu!
Stefan Zeppenfeld
studierte Geschichte, Politikwissenschaften und Public History in Münster, Istanbul und Berlin. 2020 wurde er mit einer Dissertationsschrift zur Geschichte türkischer Arbeitswelten in West-Berlin an der Universität Potsdam promoviert. Seit November 2020 arbeitet er als wissenschaftlicher Referent im Referat Public History des Archivs der sozialen Demokratie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Er ist Autor des Buches "Vom Gast zum Gastwirt? Türkische Arbeitswelten in West-Berlin", das 2021 im Wallstein-Verlag erschienen ist.
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