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Es wird wieder geerntet. Der Krieg in der Ukraine hat auch Auswirkungen auf die deutsche Landwirtschaft, sagen Katharina Varelmann vom Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen und Tobias Seitz vom Peco Institut. Beide Organisationen sind Mitglied der Initiative Faire Landarbeit.
FES: Welche Rolle haben ukrainische Saisonarbeitskräfte in der deutschen Landwirtschaft in den letzten Jahren gespielt?
Varelmann/Seitz: Ukrainische Saisonbeschäftigte waren bisher meistens Studierende. Sie sind als Ferienjobber_innen oder als Praktikant_innen nach Deutschland gekommen. Weder Ferienjob, noch ein Praktikum bis zu 90 Tagen sind eine Beschäftigung im rechtlichen Sinn. Deshalb benötigen Studierende auch keine Arbeitserlaubnis dafür. Die Bundesagentur für Arbeit muss lediglich ihr „Einvernehmen“ dafür geben, was in der Praxis ein sehr schneller und unkomplizierter Vorgang ist. Es gibt keine genauen Statistiken darüber, wie viele Personen über diese beiden Beschäftigungsformen pro Jahr gearbeitet haben, da Ukrainer_innen visumsfrei einreisen können. Diese sehr niedrigen Voraussetzungen haben für Vermittlungsagenturen Tür und Tor geöffnet, Nicht-Studierenden gefälschte Immatrikulationsbescheinigungen zu geben und sie nach Deutschland zu vermitteln, auch zum Beispiel in Schlachthöfe.
Eigentlich sind die Voraussetzungen für ein Praktikum sehr eng. Denn ein Praktikum muss einen Fachbezug zum Studium haben und darf ausdrücklich nicht nur zur Erfüllung von Erntetätigkeiten dienen. In der Praxis wird das aber nicht geprüft. Ferienjobs dürfen nur während der Semesterferien des Herkunftslands ausgeübt werden, dies scheint häufiger überprüft zu werden.
Die Initiative Faire Landarbeit berichtet, dass insbesondere in den nordöstlichen Bundesländern ukrainische Studierende eine sehr bedeutende Gruppe geworden sind. In einem Interview erzählte uns eine ehemalige ukrainische Studierende davon, dass sie bereits in der Saison 2014 zusammen mit 400 weiteren Studierenden auf einem Erdbeerhof bei Rostock arbeitete. Ein Landwirt aus Niedersachsen berichtete kürzlich in einem Artikel in „die Welt“, dass ca. 7000 ukrainische Studierende jedes Jahr für die Beerenernte ins Bundesland kamen. Auch wenn keine verlässlichen Zahlen vorliegen, kann anhand dieser Hinweise davon ausgegangen werden, dass in den letzten Jahren immer mehr Menschen aus der Ukraine in der deutschen Landwirtschaft gearbeitet haben. Diese Entwicklungen waren auch der Anlass für uns einen Bericht über ukrainische Studierende als Saisonbeschäftigte in der Landwirtschaft zu schreiben, den wir im Frühjahr 2022 auf der Webseite des PECO-Instituts veröffentlichen.
Neben den Studierenden gab es seit einigen Jahren bereits Verhandlungen mit der Ukraine, um ein Vermittlungsabkommen für Saisonarbeit in der Landwirtschaft abzuschließen. So, wie es inzwischen mit Georgien und der Republik Moldau geschehen ist. Doch die Verhandlungen wurden nicht abgeschlossen. Angesichts dessen, dass die deutsche Saisonarbeit in Polen und Rumänien mittlerweile wohl einen sehr schlechten Ruf hat, gewann die Ukraine für Arbeitgeber_innen immer mehr an Bedeutung, um die Versorgung mit Arbeitskräften, die zu niedrigen Löhnen arbeiten, in der Landwirtschaft sicherzustellen. Viele dieser Arbeitskräfte dürften jetzt erst einmal fehlen.
Am 15. März 2022 organisierten die Friedrich-Ebert-Stiftung, Faire Mobilität, der DGB und die IGBAU eine öffentliche Fachtagung zu den Arbeitsbedingungen für Saisonarbeitskräften in der Landwirtschaft. Hier äußerten verschiedene Referent_innen die Sorge, dass die Menschen, die bisher nach Deutschland geflohen sind, auf der Suche nach Arbeit in diesen Bereich gedrängt werden könnten und hier Opfer von Ausbeutung werden könnten. Wie schätzen Sie diese Wahrscheinlichkeit ein?
Es ist sehr schwierig vorherzusagen, wie viele der ukrainischen Geflüchteten in der Landwirtschaft arbeiten werden. Die Menschen, die hier Schutz beantragen, besitzen einen ganz anderen Rechtsstatus als die Studierenden, die in den letzten Jahren zur Saisonarbeit gekommen sind.
Durch die erstmalige Aktivierung der sogenannten EU-Massenzustrom-Richtlinie, müssen ukrainische Geflüchtete nicht das Asylverfahren durchlaufen, sondern erhalten direkt einen Aufenthaltstitel. Dieser Aufenthaltstitel berechtigt sie zur Teilnahme an Integrationskursen, zu Sozialleistungen und gewährt ihnen auch uneingeschränkten Arbeitsmarktzugang. Angesichts dieser Möglichkeiten könnte die Saisonarbeit unattraktiv sein. Anderseits beobachten wir bereits, dass Arbeitgeber in der Landwirtschaft damit werben, dass sie Unterkunft bereitstellen könnten.
Auch haben viele Ukrainer_innen möglicherweise persönliche Kontakte zu Landwirt_innen aus der Vergangenheit, auf die sie nun zurückgreifen. Es ist im Moment einfach schwierig vorherzusagen, welchen Weg in den Arbeitsmarkt die Menschen aus der Ukraine suchen werden.
Gewerkschaften weisen schon seit Jahren darauf hin, dass ausländische Saisonarbeitskräfte in der Landwirtschaft besonders vulnerabel sind. Welche typischen Problemlagen sind in diesem Bereich anzutreffen?
Die zum Teil sehr prekären Lebens- und Arbeitsverhältnisse von mobilen Beschäftigten in der Landwirtschaft sind erst seit der Corona-Pandemie verstärkt in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Die Mitgliedsorganisationen der Initiative Faire Landarbeit beobachten jedoch schon seit Jahren massive Probleme wie Lohnbetrug, überlange Arbeitszeiten und schlechte Unterkünfte in der Branche. Ein kurzer Aufenthalt, hohe Flexibilität und Mobilität, sowie eine fehlende Integration in soziale Sicherungssysteme führen zu besonders prekären und unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und Ausbeutung.
Lohnbetrug und die Umgehung des Mindestlohns ist ein Problem, auf das wir bei Feldbesuchen und in der Beratung besonders häufig stoßen. Es kommt immer wieder vor, dass Arbeitszeitbögen als Blanco-Dokument unterschrieben werden müssen und später werden durch die Betriebe weniger Stunden eingetragen als real gearbeitet wurden oder die Zusammensetzung des Lohnes ist aufgrund von intransparenten Aufzeichnungsmethoden für Beschäftigte nicht nachvollziehbar und ermöglicht Lohnbetrug. Eine weitere Methode, die Löhne niedrig zu halten, ist es, hohe Abzüge für Unterkunft und Verpflegung zu berechnen.
Viele mobile Beschäftigte arbeiten in der Landwirtschaft als kurzfristig Beschäftigte. Diese Beschäftigungsform ermöglicht es unter bestimmten Umständen, dass weder Arbeitnehmer_innen noch Arbeitgeber_innen Sozialabgaben zahlen müssen. Dieses kann dazu führen, dass die mobilen Beschäftigten ohne soziale Sicherung arbeiten. So kommt es immer wieder vor, dass Kolleg_innen aus Osteuropa weder in Deutschland, noch in ihrem Wohnland krankenversichert sind. Im Falle einer Erkrankung müssen so Kosten für die Behandlung im Zweifel aus eigener Tasche bezahlt werden. Um die Beschäftigten gegen solche Risiken abzusichern, schließen manche Arbeitgeber_innen private Gruppen-Krankenversicherungen ab. Diese umfassen allerdings nicht den vollen Leistungsumfang der gesetzlichen Pflichtversicherung und sind für die Saisonarbeiter_innen sehr intransparent, da die Versicherung von Arbeitgeber_innen-Seite abgeschlossen wird.
Was kann und sollte die Politik tun, um die Interessen der Saisonarbeitskräfte besser zu schützen und um hier insbesondere der Ausbeutung der aus der Ukraine Geflüchteten vorzubeugen?
Die kurzfristige Beschäftigung in der Landwirtschaft stellt keine Ausnahme dar, sondern wird systematisch im Bereich der Sonderkulturen, wie dem Anbau von Spargel und Erdbeeren genutzt. Hier muss genauer hingeschaut werden.
Diese besonders verletzliche Beschäftigungsgruppe benötigt einen Krankenversicherungsschutz auf dem Niveau der gesetzlichen Krankenversicherung ab dem Tag der Arbeitsaufnahme. Durch die privaten Erntehelferversicherungen ist dies nicht gewährleistet. Die Versprechungen aus dem Koalitionsvertrag wurden bis jetzt noch nicht umgesetzt, obwohl es dort auf Seite 70 heißt: „Für Saisonbeschäftigte sorgen wir für den vollen Krankenversicherungsschutz ab dem ersten Tag“.
Wir fordern Mobile Beschäftigte in der Landwirtschaft bei gesundheitlichen Problemen und Krankheiten gleichwertig abzusichern und einen diskriminierungsfreien Zugang zum Gesundheitssystem zu gewähren. Dazu hat sich Deutschland auch im UN Sozialpakt §12 völkerrechtlich verbindlich verpflichtet.
Darüber hinaus muss über eine Integration in die Rentensysteme nachgedacht werden, die den Bedürfnissen und der Lebenssituation von mobilen und prekär Beschäftigten Rechnung trägt. Eine Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer, die eine leichte Übertragung von Rentenansprüchen sicherstellt, wäre ein Ansatz, der auf europäischer Ebene weiterentwickelt und endlich umgesetzt werden sollte.
Ukrainische Studierende waren in der Vergangenheit mit denselben Problemen wie andere Saisonbeschäftigte konfrontiert. Hierzu zählt vor allem Lohnbetrug. Um die Kolleg_innen vor Lohnbetrug aufgrund von Intransparenz zu schützen, wäre die Einführung eines manipulationssicheren, digitalen Zeiterfassungssystems sehr zu begrüßen.
Ein Ausbau der Beratungskapazitäten der Beratungsstellen für EU-Bürger_innen, sowie der Beratungsstellen für Drittstaatler_innen ist weiterhin dringend notwendig. Und mit Blick auf die Geflüchteten aus der Ukraine sollte gerade hier das Angebot an muttersprachliche Beratung erweitert werden und auf die Zielgruppe angepasste Unterstützungsmöglichkeiten entwickelt und bereitgestellt werden. Hierfür braucht es eine umfassende Finanzierung.
Vielen Dank für dieses Interview!
Katharina Varelmann
ist Koordinatorin Initiative Faire Landarbeit und arbeitet bei den arbeitsrechtlichen Beratungstellen dem Europäischer Verein für Wanderarbeiterfragen e.V. und der Fairen Mobilität.
katharina.varelmann(at)emwu.org, www.emwu.org, www.faire-mobilitaet.de
Tobias Seitz
arbeitet beim PECO-Institut für nachhaltige Regionalentwicklung in Europa e.V. und hat den Bericht „Ukrainische Studierende als Saisonbeschäftigte in der Landwirtschaft – Eine Recherche über Vermittlungswege und Arbeitsbedngunen“ mitverfasst.
tobias.seitz(at)peco-ev.de, www.peco-ev.de
Die Initiative Faire Landarbeit ist ein Bündnis von gewerkschaftsnahen Beratungsstellen (Beratungsnetzwerk Gute Arbeit, EVW, Faire Mobilität, Faire Integration), der Gewerkschaft IG BAU sowie weiteren Organisationen, wie Arbeitsnehmerseelsorge Einrichtungen und dem PECO-Istitut. Unser Ziel ist die Verbesserung der Situation von Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft. Dazu führen wir koordinierte Feldaktionen durch, bei denen wir Informationen zu Arbeitsrechten in verschiedenen Sprachen verteilen und mit den Kolleg*innen aus Südost- und Osteuropa in Kontakt treten. Bei Bedarf bieten wir ihnen Rechtsberatung und weitere Unterstützung an. Darüber hinaus leisten wir Recherche- und Öffentlichkeitsarbeit, um die Situation von Saisonarbeiter*innen in der Landwirtschaft öffentlich besser sichtbar zu machen. Die Initiative Faire Landarbeit wurde 2016 gegründet. Durch ein neues Mitgliedschaftsmodell für mobile Beschäftigte versucht die IG BAU seit 2020, auch die gewerkschaftliche Organisierung von Saisonarbeiter*innen stärker zu fördern.
Das PECO-Instut engagiert sich gemeinsam mit der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) für eine nachhaltige Bildung. In enger Zusammenarbeit führen wir Projekte, Seminare und Veranstaltungen zu den Themen Nachhaltige Entwicklung, Demokratie und Toleranz, Entwicklung der Arbeit und Ländlicher Raum auf nationaler und europäischer Ebene durch. Als gewerkschaftsnahe Einrichtung ist PECO die soziale Dimension von Nachhaltigkeit besonders wichtig. Soziale Nachhaltigkeit betrifft zum Beispiel den Arbeitsschutz und die Arbeitsplatzgesundheit. Nachhaltige Arbeitsplätze müssen den Beschäftigten ein gesundes Arbeitsleben bis zur Rente ermöglichen. Dafür möchte das PECO-Institut mit den durchgeführten Projekten die Gestaltungs- und Handlungskompetenz der Beschäftigten in Bau, Landwirtschaft und Gebäudereinigung stärken.
Ansprechpartnerin in der FES: Susan Javad
Interview mit Fritz Heil, Leiter "Internationales" bei der IG BAU
Fokus Migration und COVID-19: Wie der Lockdown die Gefährdung von Migrantinnen in informellen Siedlungen in Spanien verstärkt.
Godesberger Allee 149 53175 Bonn Tel.: 0228 / 883 - 7202 Fax: 0228 / 883 - 9208
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