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Dr. Cihan Sinanoglu vom Deutschen Institut für Integrations- und Migrationsforschung über Vielfalt in der Politik.
Bild: Dr. Cihan Sinanoglu von DeZim
Bild: Die Abgeordneten debattieren im Bundestag. von picture alliance/dpa/dpa-Zentralbild | Britta Pedersen
FES: Der Anteil von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an der deutschen Bevölkerung liegt derzeit bei ungefähr 25 Prozent. Gleichzeitig haben weniger als 10 Prozent der Abgeordneten im Deutschen Bundestag einen Migrationshintergrund. Wie optimistisch sind Sie, dass sich dieses Missverhältnis bei den anstehenden Bundestagswahlen 2021 zum Besseren ändert?
Dr. Cihan Sinanoglu: Die gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen tun sich noch sehr schwer damit, die gesellschaftliche Pluralität und Vielheit anzuerkennen. Das gilt auch für Parteien. Keine Partei bildet diese gesellschaftlichen Realitäten derzeit in ihren Reihen ab. Parlamentarische Demokratien sind zudem sozial selektiv, d.h. je höher der soziale Status einer Person ist, desto höher auch die Wahrscheinlichkeit, in politische Ämter gewählt zu werden. Wenn die Parteien also die politische Repräsentation von marginalisierten Gruppen erhöhen wollen, müssen sie sich zu allererst mit der existierenden sozialen Ungleichheit auseinandersetzen.
Die Geschichte hat immer wieder gezeigt, dass es anti-rassistische und migrantische Bewegungen waren, die einen institutionellen Wandel herbeigeführt haben. Mich ermutigen die neuen sozialen Bewegungen, die gegen Rassismus und Ausbeutungsverhältnisse auf die Straße gehen. Hier entsteht ein Transformationsdruck, an dem die Parteien nicht mehr vorbeikommen werden.
Im Vergleich zur Situation vor zehn Jahren gibt es aktuell einige sehr bekannte Politiker_innen mit Einwanderungsgeschichte, die in verschiedenen Politikfeldern auf unterschiedlichen Ebenen wirken. Haben Menschen wie Sawsan Chebli, Cem Özdemir, Omid Nouripour oder Serpil Midyatli eine Vorbildfunktion und können verstärkt gerade auch junge Menschen für ein Engagement in Parteien gewinnen?
Die Abgeordneten mit Migrationshintergrund sind nicht nur Politiker_innen und Aushängeschilder ihrer Parteien. Sie sind die Gesichter und Symbole der Gesellschaft, in der sie leben und die sie repräsentieren. Sie stehen für einen Wandel, in dem Menschen mit Einwanderungsbiographien nicht mehr nur Objekte politischer Auseinandersetzungen sind, sondern Subjekte, die politische Willensbildungsprozesse mitgestalten.
Dennoch möchte ich die Rolle des „Vorbildes“ an dieser Stelle gerne problematisieren, denn sie ist in diesem Fall eng verknüpft mit der Rolle von Aufsteiger_innen. Die Erzählung von den Schwierigkeiten, aber auch den Möglichkeiten des Aufstiegs in einer meritokratischen Gesellschaft ist eines der klassischen Legitimierungsnarrative westlicher Demokratien, das in der Erzählung vom American Dream seine wahrscheinlich prominenteste Gestalt gefunden hat.
Dieses Narrativ lebt einerseits von der Annahme, gesellschaftliche Differenz und Ungleichheit (Klasse, Ethnizität usw.) wären Hürden, die es einer Person erschweren, in die höheren Ränge aufzusteigen. Gleichzeitig versinnbildlicht es aber auch, dass ein Aufstieg für diejenigen möglich ist, die sich genügend anstrengen. Dieses Leistungsprinzip bzw. meritokratische Leitbild wird von der Gesellschaft honoriert und ist im öffentlichen Diskurs erwünscht.
Die Hervorhebung von Erfolgsgeschichten bestätigen in letzter Instanz, dass strukturelle Probleme vermeintlich gelöst und überwunden werden könnten. Insofern sind die per definitionem erfolgreichen Abgeordneten mit Migrationshintergrund für das System der parlamentarischen Demokratien legitimierend, das den Anspruch haben muss, die Probleme bestehender Ungleichheiten hinsichtlich Klasse, Geschlecht und Ethnizität in der Gesellschaft lösen zu können.
Doch es stellt sich hier die Frage, ob die Parteien durch das Narrativ der „Aufsteiger_innen“ nicht gerade davon befreit werden, über strukturelle Ungleichheiten nachzudenken, weil sie immer auf die Einzelfälle, die Vorbilder verweisen können. Das Repräsentationsdefizit ist allerdings ein strukturelles Problem.
Wie und was können Parteien dafür tun, um Menschen mit Einwanderungsgeschichte für politische Ämter oder eine Mitarbeit zu gewinnen? Gibt es Erfolgsbeispiele, vielleicht auch auf kommunaler Ebene?
Alle Parteien könnten sich für eine diskriminierungskritische und diversitätsorientierte Organisationsentwicklung entscheiden. Die Frage müsste also lauten: Wo und wie produzieren Parteien Ausschlüsse und welche strukturellen Veränderungen sind notwendig, um diese Ausschlüsse zu verhindern? Das bedeutet, die etablierten Machtstrukturen zu hinterfragen und das politische Handeln in den Parteien neu zu denken. Die Parteien könnten beispielsweise den Quereinstieg erleichtern, um etablierte und gewachsene Netzwerke aufzubrechen.
Eine andere Möglichkeit wäre eine Quotierung. Die Gleichstellungspolitik zeigt, dass es verbindliche Maßnahmen braucht, um Systeme zu verändern, in denen bestehende Eliten ihre Machtstrukturen immer wieder versuchen zu stabilisieren – teils bewusst, teils unbewusst. Aber auch eine Quote allein wird nicht reichen. Viel wichtiger ist die Frage, welche politischen Themen in den Parteien verhandelt werden. Viele PoC, Schwarze Menschen und Menschen mit Einwanderungsbiographien fühlen sich von den Themen der Parteien nicht angesprochen.
Welche Rolle spielen Hass und Hetze im Internet, aber auch ein struktureller Rassismus in politischen Institutionen bei der Entscheidung von Einzelpersonen, trotz Interesse nicht politisch aktiv zu werden oder/und sich lieber anderweitig zu engagieren?
Struktureller Rassismus verhindert, dass viele Menschen in den Parteien politisch aktiv werden oder in wichtige politische Ämter kommen. Gleichzeitig haben die Black Lives Matter Proteste und die Proteste nach Halle und Hanau gezeigt, dass viele Menschen und vor allem junge Menschen gegen Rassismus und Antisemitismus auf die Straße gehen. Es ist wichtig, dass Parteien die politischen Forderungen dieser sozialen Bewegungen immer wieder in die Parlamente tragen. Die Transnationalisierung der Proteste, die auch durch die Digitalisierung verstärkt werden, machen neue Formen der Solidarisierung und politischen Mobilisierung sichtbar. Parteien, so wie wir sie kennen, haben ein Problem damit, diese gesellschaftlichen Veränderungen abzubilden. Hier braucht es einen radikalen Paradigmenwechsel.
Dr. Cihan Sinanoglu ist Sozialwissenschaftler. Seit Oktober 2020 leitet er am Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) die Geschäftsstelle des Nationalen Diskriminierungs- und Rassismusmonitors (NaDiRa).
Noch mehr zum Thema Vielfalt in der Politik gibt es in unserem Podcast "Hörgut - Auf Stimmenfang für Vielfalt". Hier erzählen Politiker_innen mit Migrationsgeschichte, warum es sich lohnt für eine vielfältige Gesellschaft zu streiten.
Wir sprachen mit Serpil Midyatli über Maßnahmen zur Förderung von Vielfalt und Rassismusprävention in Deutschland.
Eine Bilanz in Sachen Integration: Vieles scheitert an fehlenden Sprachkenntnissen – aber das ist nicht nur ein Problem für die Geflüchteten.
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