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Cornelius Adebahr arbeitet als Politikberater und Analyst unter anderem zur Bürger_innenbeteiligung in der Außenpolitik. Entlang von drei Faktoren – der globalen „Multikrise“, der Rolle von Technologie in der Mediennutzung sowie der Ampel-Außenpolitik selbst – seziert dieser Gastbeitrag im Folgenden die deutsche Debatte zum Weltgeschehen.
Wer nach den vielen Krisen der letzten Jahre immer noch dachte, Außenpolitik finde fern des eigenen Landes statt, ist nach den jüngsten bundesweiten Demonstrationen zum Krieg in Gaza eines Besseren belehrt. Das Weltgeschehen hat die Menschen in Deutschland erreicht – und verändert damit auch die außenpolitische Debatte.
Während die einen noch nach Orientierung in einer aus den Fugen geratenen Welt suchen, sehen andere sich schlicht in ihren Ansichten bestätigt. Was wiederum viel mit dem technologischen Wandel der Medienlandschaft zu tun hat: Die „Echokammern“ der Sozialen Medien wurden binnen kurzem vom Fachbegriff zum realen Phänomen. Schließlich beeinflusst auch das Handeln der Bundesregierung den Debattenverlauf: Angetreten als eine Fortschrittskoalition, die mit den nötigen politischen Neuerungen die sich bietenden Chancen des Umbruchs nutzen wollte, scheint sie den bereits im Koalitionsvertrag Ende 2021 skizzierten und seitdem neu hinzugekommenen Herausforderungen nicht gewachsen.
Entlang dieser drei Faktoren – der globalen „Multikrise“, der Rolle von Technologie in der Mediennutzung sowie der Ampel-Außenpolitik selbst – seziert dieser Beitrag im Folgenden die deutsche Debatte zum Weltgeschehen. Dabei fragt er auch, welche Akteure an diesen Diskussionen teilnehmen, sie bestimmen oder zumindest Gehör finden – und welche nicht. Dabei wird deutlich: Eine im demokratischen Sinne ausreichende Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger des Landes ist nicht zu erkennen.
Die vergangenen 15 Jahre waren von scheinbar nicht enden wollenden Krisen geprägt: Auf die globale Finanzkrise 2008 folgte die Staatsschuldenkrise in Europa, die den Zusammenhalt der EU bedrohte, gefolgt von der sogenannten Flüchtlingskrise mit ihren anhaltenden gesellschaftlichen Verwerfungen. In noch kürzerem Abstand standen seit 2020 die Covid-Pandemie, der Einmarsch Russlands in der Ukraine, die Gaskrise in Europa und nun das Aufflammen des Kriegs in Nahost auf dem Programm. Und während diese prominenten Krisen und Konflikte zumindest scheinbar einen Anfang und ein mögliches Ende haben, baut sich dahinter, beunruhigend kontinuierlich, die Klimakrise zu einer veritablen Menschheitsbedrohung auf.
Auch wenn die Bundesrepublik diese jeweiligen Notlagen zumindest oberflächlich besser überstanden hat als manch anderes Land, so schlägt der permanente Krisenmodus der Politik dennoch auf die Menschen im Land durch. Das bezieht sich mehr auf die emotionalen als auf die materiellen Folgen, denn tatsächlich oszillierte die Einkommensungleichheit in Deutschland in den Krisenjahren nur, während sie nach der Wende und vor allem in den frühen 2000ern stark angestiegen war. Dennoch: Das Trommelfeuer äußerer Krisen hinterlässt ein Gefühl von Verunsicherung mit erkennbaren Folgen im Abstimmungsverhalten. Was bislang oft als Ausdruck politischen Protests an der Wahlurne gesehen wurde, kann auch als Versuch der Abschottung vor den Problemen der Welt gelesen werden.
Spätestens seit der „Rückkehr des Krieges nach Europa“ Anfang 2022 kann Deutschland jedoch nicht mehr die Augen vor den Herausforderungen der Welt verschließen. Im ersten Moment brachte Russlands Angriff auf die Ukraine eine engagierte Auseinandersetzung mit sich, als eine breite Öffentlichkeit immer mehr über die Hintergründe des Konflikts erfuhr – und in Teilen erkannte, wie sträflich sie die Ukraine in all den Jahren seit dem Fall des Eisernen Vorhangs vernachlässigt hatte. Die Talkshows waren plötzlich voll von Sicherheits_expertinnen und Kenner_innen des Konflikts, sodass sich das Publikum schon bald mit den Details von Panzerhaubitzen so vertraut fühlen konnte wie ein, zwei Jahre zuvor mit den Feinheiten von PCR-Tests.
Doch war die Anteilnahme für die Ukraine bald schon überlagert von der Sehnsucht nach Normalität, nach einem schnellen Ende des Krieges, das bis heute nicht in Sicht ist. Mit dem Fortdauern der Kämpfe wich auch die relative Klarheit der Ausgangslage – hier Angreifer, dort Angegriffene. Eine besondere Herausforderung für die öffentliche Debatte stellt der Terrorangriff der Hamas auf Israel, das am 7. Oktober den blutigsten Tag seit seiner Staatsgründung erlebte, und der daraufhin folgende und bis heute andauernden Krieg in Gaza mit seinen vielen zivilen Opfern dar. Das gilt nicht nur für Deutschland mit seiner historischen Verantwortung für den Holocaust und der hierauf aufbauenden „Staatsräson“ im Sinne der damaligen Bundeskanzlerin, sondern für alle demokratischen, pluralistischen Länder, die ihre Positionierung in dem Nahostkonflikt neu aushandeln.
Was mit der proklamierten „Zeitenwende“ also tatsächlich zu Ende geht, ist die ‘89er Ära: Der Glaube zumal der Deutschen an das Ende der Geschichte. Anders als damals viele hierzulande annehmen oder doch zumindest hoffen wollten, gibt es keinen garantierten Fortschritt hin zu Freiheit und Demokratie – nicht im eigenen Land und schon gar nicht im Weltmaßstab. Die lange angenommene Friedensdividende ist aufgebraucht, und das Mantra, Konflikte dürften nicht militärisch gelöst werden, zieht nicht mehr. Gleichzeitig ist die Realität oftmals sehr viel komplexer, als es vereinfachende Narrative von Gut und Böse, vom Unterdrücker und vom Unterdrückten glauben, machen wollen.
Diese gestiegene Komplexität steht jedoch in direktem Gegensatz zu der Vereinfachung, die vor allem in den Sozialen Medien betrieben und bedient wird. Vielschichtige, mitunter widersprüchliche Zusammenhänge sind in diesen auf emotionale Bilder oder kurze Texte beschränkten Formaten schwer zu vermitteln. Das anschwellende Twitterrauschen und wirbelnde Instaflimmern tragen ihrerseits zum Hysterisieren der klassischen Medien bei.
Die Dauerschleife der Erregung findet ihre Fortsetzung in den täglichen Talkshows, mit immer wiederkehrenden Protagonistinnen und Protagonisten. Ja, die Fernsehdebatten sind erfreulicherweise weiblicher geworden, gerade auch zu sicherheitspolitischen Themen. Doch was im Sinne der Diversität begrüßenswert ist, führt nicht gleich zu einer Versachlichung der Diskussion. Auch sind migrantische Stimmen weiterhin stark unterrepräsentiert, zumal wenn sie nicht zu Konflikten ihrer Ursprungsregion befragt werden. Am Ende steigen immer mehr Menschen aus dieser News-Spirale aus, weil sie – gefühlt – sowieso ohne Einfluss sind.
Zukünftig wird der Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) die Debatten noch stärker verändern, wie dieses Jahr bereits fernab der Krisen der Welt aufgezeigt hat. Ein Papst in weißer Rapperjacke oder ein ehemaliger US-Präsident in Handschellen mögen (für manche) noch humorvoll sein, sind aber zugleich Zeugnisse der Macht der – falschen, weil KI-generierten – Bilder. Noch deutlicher wurde das Potenzial dieser Manipulationen mit vermeintlichen Fotos eines Angriffs auf das Pentagon sowie dem Fake-Video einer Ansprache des ukrainischen Präsidenten, der seine Landsleute zur Aufgabe aufforderte. Im ersten Fall brach die New Yorker Börse kurz ein, bevor die Fälschung aufgedeckt wurde; auf den zweiten Fall war die Kommunikationsabteilung der ukrainischen Regierung vorbereitet und konnte die Desinformation kontern, bevor sie Verunsicherung in der Bevölkerung ausgelöst hatte.
Diese beiden Beispiele verdeutlichen den bereits im Bild der Twitterblasen enthaltenen und in der geopolitischen Konfrontation verstärkten Trend zu unterschiedlichen „Wahrheiten“. Gab es bislang in einer pluralistischen Medienlandschaft einen Kern weithin akzeptierter Fakten, droht in der postfaktischen, KI-erweiterten Gesellschaft jegliche Möglichkeit zur Einigung auf „das, was ist“ verloren zu gehen. Wenn Wahrheit und Lüge, Fakten und Fälschung verwechselbar (gemacht) werden, wenn nicht Evidenz, sondern Macht über wahr und falsch bestimmen soll, dann erodiert das Fundament demokratischer Deliberation.
Das gilt selbstredend für alle Politikbereiche, bekommt aber vor dem Hintergrund einer globalen machtpolitischen Konfrontation eine dezidiert außen- und sogar sicherheitspolitische Bedeutung: Denn im Gegensatz zu autoritären Staaten sind die offenen Gesellschaften des Westens per Definition gegenüber Desinformation verwundbar. Umso entscheidender wird also das internationale Vorgehen der eigenen Regierung.
Gerade einmal zwei Jahre im Amt, hat diese Regierung schon mehr Krisen – und bedrohlichere – erlebt als normalerweise in eine Legislaturperiode passen. Und es ist auch nicht der Koalition anzulasten, dass einige ihrer Ankündigungen vom Dezember 2021 heute nicht nur überholt, sondern hohl klingen. Das damals beschworene ‚Besiegen‘ der Pandemie ist veritablen Sorgen um Krieg, Energieversorgung und gesellschaftlichen Zusammenhalt gewichen. Mit dem Urteil des Verfassungsgerichts zu den Schattenhaushalten der Bundesregierung ist darüber hinaus die Handlungsfähigkeit der Regierung, national und international, in Frage gestellt.
Doch geht es hier nicht um eine Halbzeitbilanz der Ampelkoalition, sondern um den Stand der außenpolitischen Debatte. Was deutlich wird und für diese relevant ist, ist die Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit der Regierung im Umgang mit den immensen Herausforderungen, vor denen das Land steht.
Diese ist evident bei der ausgerufenen „Zeitenwende“, die viele Beobachter im In- und Ausland mit mehr Fragen als Antworten zurücklässt. Auf vollmundige Ankündigungen des Bundeskanzlers nur drei Tage nach dem russischen Einmarsch folgten quälende Debatten über eine inkrementelle Steigerung der Waffenlieferungen an die Ukraine. Das anfänglich beachtliche Engagement für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge ist der allgemeinen Planlosigkeit der Migrationsdebatte gewichen, in der die Regierung – zumal auf europäischer Ebene – an einer Begrenzung der Zuwanderung arbeitet, während die Kommunen ihre Überlastung beklagen.
Gleichzeitig offenbaren die angestrengte rhetorische Akrobatik zu einen möglichen „Sieg“ Kiews in den ersten Monaten sowie das Sich-Verweigern einer Diskussion über mögliche Wege zur Beendigung des Krieges auch in seinem zweiten Jahr, dass die Regierung keine echte Strategie für diesen Konflikt hat. Über allem steht die anhaltende Ungewissheit, ob die Bundeswehr die ihr per ‚Sondervermögen‘ zur Verfügung gestellten 100 Milliarden Euro überhaupt sinnvoll absorbieren kann, geschweige denn woher, nach dem Aufbrauchen dieser Summe, die zukünftig für Verteidigung nötigen Mittel kommen sollen. Schließlich lässt das Ausbleiben einer systematischen Aufarbeitung der deutschen Russlandpolitik der letzten Jahrzehnte am ernsthaften Willen zu grundlegendem Wandel zweifeln.
Dabei steht die „Zeitenwende“ nur pars pro toto für die Außenpolitik der Ampel insgesamt. Zwar kann diese eine Reihe verabschiedeter Strategien vorweisen – zu China, feministischer Außenpolitik und Nationaler Sicherheit –, doch fragt sich auch der Teil der Bevölkerung, der hiervon überhaupt Notiz nimmt, was davon im politischen Alltag übrigbleibt. Dass die Regierung erheblichen Zwängen unterworfen ist, die schnelle Ergebnisse unmöglich machen, ist unbestritten. Es ist gleichwohl eine Aufgabe politischer Kommunikation, Bürgerinnen und Bürger gerade in Krisenzeiten über Ziele, Mittel und Hindernisse aufzuklären. Sonst wirkt das eigene Handeln schnell kraft- und ideenlos.
Die außenpolitische Debatte spiegelt nicht zuletzt das Handeln der Bundesregierung wider. Dabei ist festzustellen: Es scheint hüben wie drüben nur ein punktuelles, kein grundlegendes Interesse an „der Welt da draußen“ zu geben. Und dass, obwohl außenpolitische Faktoren – vom Umgang mit China über die Einbindung des Globalen Südens in die sich wandelnde Weltordnung bis hin zu den Auswirkungen der US-Wahl in weniger als einem Jahr – entscheidend für Frieden und Wohlstand in Deutschland sind.
Auch sind übertriebene Meinungsstärke zur Kompensation mangelnder Kompetenz in der Sache kein Privileg der politische Klasse, sondern finden sich ebenso unter den Dauergästen der Talkshows. Es ist ein Paradox: Gerade, weil der Bedarf an Erklärung so groß ist, suchen die Medien auch fachfremd nach vermeintlichen Erklärern, während manch tatsächliche Expertinnen und Experten die Reduktion auf Statements und Soundbites scheuen.
Für eine strukturierte Bürgerbeteiligung in der Außenpolitik sind die Hürden naturgemäß hoch, da in diesem Bereich die Exekutive überwiegt und keine klassischen Interessenvertretungen wie in der Innenpolitik existieren. Daran konnte auch der vom Bundestag in der letzten Legislatur initiierte Bürgerrat „Deutschlands Rolle in der Welt“ nichts ändern, unabhängig davon, dass seine Ergebnisse von der Wirklichkeit – namentlich dem Krieg in der Ukraine – überholt wurden.
Doch ein Mangel an Mitwirkungsmöglichkeiten ist keine Entschuldigung, die Bürgerinnen und Bürger nicht in grundlegenden internationalen Fragen mit direkten Auswirkungen auf die Zukunft des Landes zu informieren und „mitzunehmen“, wie es oft heißt. Schlimmer noch, gerade die aktuelle Debatte zum Nahostkonflikt mit ihren transportierten Anforderungen, was gesagt werden muss und was nicht ausgesprochen werden darf, wirkt in erster Linie einschüchternd. Dabei wird gerade hier die Vermengung von Innen- und Außenpolitik deutlich, wenn sich ferne Konflikte auch auf den Straßen der Republik entladen.
Das Fehlen einer strategischer Kultur in Deutschland ist hinreichend beklagt, und auf lange Sicht kann politische Kommunikation auch nicht viel besser sein als das dahinterstehende Regierungshandeln. Gleichwohl lässt sich die Darstellung von Politik gegenüber der eigenen Bevölkerung schneller verändern als die interministerielle Abstimmung zu sicherheitsrelevanten und globalen Fragen. Umgekehrt kann erfolgreiches Kommunizieren die Richtung für Veränderungen innerhalb der Regierung vorgeben.
Wechselnde Bundesregierungen haben die vergangenen Jahre weltpolitischer Umbrüche mehr mit beschwichtigendem „Merkeln“ und „Scholzen“ verbracht als damit, eine eigene, deutsche Erzählung des Wandels zu entwickeln. Dabei ist die Frage, wie sich das Land den aktuellen Veränderungen – global, technologisch, demographisch – stellen will, von grundlegender Bedeutung. Höchste Zeit, ein Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern zu beginnen, das anhand klarer Ziele die zu erwartenden schmerzhaften Schritte rechtfertigt, statt am Status Quo festzuhalten, nur um scheibchenweise immer stärkere, notwendige Einschnitte vorzunehmen.
Die in diesem Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen sind die des Autors und geben nicht unbedingt die Haltung der Redaktion oder der Friedrich-Ebert-Stiftung wieder.
Dr. Cornelius Adebahr ist selbstständiger Politikberater und Analyst in Berlin, wo er zu europäischen und globalen Fragestellungen arbeitet und den Bürgerdialog über Außenpolitik fördert. Er ist seit Anfang 2006 am Forschungsinstitut der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) tätig und lebte zwischen 2011 und 2016 erst in Teheran, anschließend in Washington, D.C.
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