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Wir sprechen mit IOM-Generaldirektor António Vitorino über die neuesten Migrationsdaten.
Die Internationale Organisation für Migration (IOM) veröffentlicht seit 2000 die richtungsweisende Reihe der Weltmigrationsberichte. Heute stellen Sie den elften Bericht vor. Welches Ziel verfolgt er?
Der erste Weltmigrationsbericht erschien vor über zwei Jahrzehnten. Er war ursprünglich als einmaliger Bericht gedacht, der bei Politikern und der breiten Öffentlichkeit ein besseres Verständnis für Migrationsfragen bewirken sollte. Er wurde zu einem Zeitpunkt konzipiert, als die Auswirkungen der Globalisierung in vielen Teilen der Welt spürbar wurden. Tatsächlich verweist der erste Weltmigrationsbericht darauf, dass er aus dem Bestreben entstanden ist, die Auswirkungen der Globalisierung auf die Migrationsmuster und ihre Veränderungen besser zu verstehen. Natürlich werden Migration und Mobilität auch weiterhin durch die Globalisierung geprägt. So stellen wir im vorliegenden Bericht das hochaktuelle Thema COVID-19 in den Zusammenhang der umfassenderen globalen Transformationen im Gefolge von Technologie, Geopolitik und Umweltveränderungen.
Wie hat sich die Arbeit während der letzten beiden Jahrzehnte entwickelt?
Es ist uns stärker bewusst geworden, dass Menschen überall auf der Welt Unterlagen und Informationsmaterial in ihren eigenen offiziellen Sprachen benötigen. Die Übersetzung in andere Sprachen ist eine sinnvolle, praktische und kostengünstige Möglichkeit, für diejenigen, die im Migrationsbereich tätig sind, Fortbildung und Aufbau technischer Kapazitäten zu fördern. Die Ausgabe 2020 des Weltmigrationsberichts wurde zum ersten Mal in allen sechs Sprachen der Vereinten Nationen (Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch) bereitgestellt. Zusätzlich wurden die wichtigsten Kapitel ins Deutsche, Portugiesische, Swahili und Türkische übersetzt. Das ist ein großer Sprung im Vergleich zur Ausgabe von 2005, die in nur einer einzigen Sprache erschienen war, und es ist eine erhebliche Verbesserung gegenüber der Ausgabe von 2015, die in fünf Sprachen herausgegeben wurde. Unser Ziel ist die weitere Ausdehnung unserer sprachlichen Reichweite für die aktuelle Ausgabe, mit Unterstützung durch Geber aus allen Sektoren. Wir sind der Friedrich-Ebert-Stiftung dankbar für ihre Finanzierung der Übersetzungen ins Deutsche.
In dem Bericht präsentieren Sie die wichtigsten Daten und Informationen über Migration sowie auch thematische Kapitel über hochaktuelle Migrationsfragen. Welche Schlüsselinformationen über Migration und Migrant_innen fallen in diesem Bericht besonders ins Auge?
Wie Sie sich denken können, konzentrieren wir uns in dieser Ausgabe vor allem auf die Auswirkungen von COVID-19. In dem Bewusstsein, dass COVID-19 uns noch viele Jahre beschäftigen wird, auch auf sozio-ökonomischem Gebiet, unternimmt der Bericht eine erste Untersuchung aktueller Daten und anderer Belege, um eine Antwort auf die Schlüsselfrage zu geben: „Wie hat COVID-19 Migration und Mobilität für Menschen auf der ganzen Welt verändert?“
Die Daten zeigen eindeutig enorme Auswirkungen in punkto Mobilität. Die Anzahl der Flugpassagiere fiel 2020 weltweit um 60 Prozent auf 1,8 Milliarden, während es im Jahr zuvor noch 4,5 Milliarden waren. Während des ersten Pandemiejahres wurden 108.000 internationale Reisebeschränkungen im Zusammenhang mit COVID-19 verhängt - eine völlig neue Datenkategorie, die 2019 noch gar nicht existierte.
Die COVID-19-Pandemie ist zweifelsohne „der große Störfaktor“. Welche anderen neu auftretenden Migrationsprobleme behandeln Sie im diesjährigen Bericht?
Wir können es uns nicht leisten, uns nur noch auf COVID-19 zu fokussieren, daher beantwortet der Bericht viele andere Fragen jenseits von COVID-19. Dazu gehören wichtige Themen wie etwa die Verbindungen zwischen Frieden und Migration, Falschinformationen zum Thema Migration, Bekämpfung des Menschenhandels und Auswirkungen des Klimawandels.
Der letzte Bericht untersuchte den Zusammenhang zwischen Umweltveränderungen und Migration. Der Bericht von 2022 betrachtet Migration im Kontext der langsam einsetzenden Auswirkungen des Klimawandels. Können Sie einige der Erkenntnisse nennen, die aus den neuen Daten hervorgehen?
Es ist interessant, dass Sie das so formulieren - die neuen Daten betreffend -, denn tatsächlich warnen wir die Leser vor dem Datenaspekt und der Gefahr, sich zu sehr auf die „hohen Zahlen“ zu fokussieren, die überwältigend wirken können. Wir verfügen über Daten, die aufzeigen, was geschehen könnte, wenn die Temperaturen weltweit ansteigen; jetzt geht es darum, die politischen Entscheidungsträger und Praktiker dazu anzuspornen, umgehend tätig zu werden. In dieser Hinsicht bietet das betreffende Kapitel Beispiele für wirksame politische Maßnahmen, aber auch Beispiele für internationale Zusammenarbeit zwischen Regierungen und anderen Partnern. Die entscheidende Botschaft lautet, dass die Hochrechnungen weitgehend auf den aktuellen globalen Ansätzen beruhen, dass jedoch auf lokaler Ebene sehr viel getan werden kann, um die langsam einsetzenden Auswirkungen zu verringern und die örtlichen Gemeinschaften auf die in den nächsten Jahren zu erwartenden Veränderungen vorzubereiten.
In der Diskussion über Migrationsfragen spielt der Zusammenhang zwischen Migration und Entwicklung eine wichtige Rolle. Wie geht der neue Bericht an diese Frage heran, und welche Ergebnisse würden Sie hier hervorheben?
Wir haben empirische Langzeitdaten herangezogen, um die Trends, die sich vor allem in den letzten 20 Jahren abzeichneten, genauer zu untersuchen. Dabei haben wir uns dafür entschieden, für die einzelnen Länder anstelle der Einkommensdaten den Index für menschliche Entwicklung der Vereinten Nationen heranzuziehen. Dieser stellt eine umfassendere Datenvariable dar, die nicht nur ökonomische Faktoren, sondern auch ein breites Spektrum weiterer Schlüsselindikatoren wie Gesundheit, Bildung usw. berücksichtigt.
Wir haben festgestellt, dass Migration zunehmend auch zwischen hoch entwickelten Ländern stattfindet, also nicht mehr nur zwischen am wenigsten entwickelten Ländern oder solchen mit niedriger Entwicklung in Richtung von Ländern mit hoher Entwicklung. Rechnet man Flüchtlingspopulationen heraus, die ja eher Vertriebene als Migranten sind, so waren 2020 von den obersten 20 Ländern in der Liste der Herkunftsländer von Migranten 18 auf einem hohen oder sehr hohen Rang des Indexes für menschliche Entwicklung eingestuft, während dies 1995 nur für sieben Länder zutraf. In der Spitzengruppe der Herkunftsländer befanden sich 2020 keine, die im Index als Länder mit niedriger Entwicklung eingestuft sind; 1995 waren es noch sechs.
Welche Schlüsse ziehen Sie aus diesen überraschenden Entwicklungen?
Diese Ergebnisse zeigen, dass Erhebung und Analyse von Daten unverzichtbar sind, um die Dynamiken und Entwicklungen im Kontext der Migration auszuleuchten. Sie heben außerdem hervor, dass ein Zusammenhang besteht zwischen Migrationsmustern und regionalen Freizügigkeitsabkommen, die Menschen machbare Optionen für Migration bieten. Natürlich muss die analytische Arbeit weitergehen, aber diese kritische Untersuchung, die auf empirischen Daten beruht, ist ein nützlicher Beitrag, weil sie eine neue Perspektive zu der Frage nach Veränderungen der Migrationsmuster bietet.
Herzlichen Glückwunsch zur heutigen Vorstellung des Weltmigrationsbericht 2022 und der interaktiven Datenplattform. Vielen Dank für das Interview.
Sechs Kapitel des Weltmigrationsberichtes 2022 werden auf Deutsch erscheinen. Die Übersetzungen werden im ersten Quartal von 2022 auf der IOM Seite erscheinen.
António Vitorino wurde 2018 von den Mitgliedstaaten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) zum Generaldirektor gewählt. Er verfügt über mehr als 27 Jahre beruflicher Erfahrungen auf internationaler und nationaler politischer und akademischer Ebene, in denen er immer wieder auch mit dem Thema Migration befasst war. Von 1999 bis 2004 war er Europäischer Kommissar für Justiz und Inneres. Vor seiner Tätigkeit für die Europäische Kommission war António Vitorino Stellvertretender Premierminister und Verteidigungsminister Portugals.
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