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Ein Beitrag von Felix Braunsdorf, Referent für Migration und Entwicklung der Friedrich-Ebert-Stiftung.
Bild: Darfur refugees in Chad von ©2018 European Union / photo by Dominique Catton lizenziert unter CC BY-ND 2.0
**Der Beitrag erschien im Original im ifo schnelldienst Heft 23/2019.
Migration hat in der Menschheitsgeschichte immer zu gesellschaftlichen Wandel beigetragen. Dass Menschen in ein anderes Land ziehen, ist eine historische Konstante. Heute leben laut den Vereinten Nationen (VN) rund 270 Mio. Menschen in einem anderen Land und gelten als internationale Migrant_innen. Darunter fallen Personen, die vor Kriegen geflohen sind genauso wie Menschen, die für einen neuen Arbeitsplatz umziehen (vgl. United Nations 2019). Das Niveau der grenzüberschreitenden Migration ist in den vergangenen Jahrzehnten nicht angewachsen, sondern auf einem recht niedrigen Niveau stabil geblieben. Nämlich bei rund drei Prozent der Weltbevölkerung. Die meisten internationalen Migrant_innen bleiben in ihrer Herkunftsregion oder nutzen die Mobilitätsmöglichkeiten in Räumen der Personenfreizügigkeit, um zwischen Ländern zu pendeln. Auch wenn Migration etwas ganz gewöhnliches ist, macht es Sinn, sie politisch zu steuern, um ihre positiven Entwicklungseffekte für Herkunfts- und Zielländer und für die Migrant_innen selbst zu nutzen.
Damit Migration eine freie Entscheidung bleibt und keine Notwendigkeit ist, sollten laut Globalem Migrationspakt der Vereinten Nationen die nachteiligen Triebkräfte, die Menschen dazu zwingen ihre Heimat zu verlassen, minimiert werden (Ziel 2). Und zwar sollte diese durch die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der VN erreicht werden, die von Bekämpfung von Armut und Ungleichheit, Einsatz für den Klimaschutz bis hin zur Schaffung von menschenwürdiger Arbeit einen detaillierten Arbeitsplan bis zum Jahr 2030 und darüber hinaus vorgeben. Die Debatte um die Fluchtursachenbekämpfung der letzten Jahre ging jedoch in eine andere Richtung.
In Folge des Syrienkrieges, des massiven Anstiegs der weltweiten Flüchtlingszahlen und der anhaltend hohen irregulären Migration über das Mittelmeer verschob sich in vielen europäischen Ländern der Fokus darauf, Flucht und irreguläre Migration nach Europa einzudämmen. Rechtspopulistische Parteien entdeckten die – häufig durch Ressentiments geprägte – Angst vor »den Fremden« als Kernthema. Hoch emotional wurde und wird darüber diskutiert, wie verhindert werden kann, dass Menschen nach Europa kommen – und damit sind in der Regel Menschen aus afrikanischen Ländern gemeint.
Aber entgegen landläufiger Meinung wird Europa nicht von den Armen der Welt überrannt (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2019). Zudem ist Europa bei weitem nicht die Weltregion, die die meisten Kriegsflüchtlinge aufnimmt. Irreguläre Migration aus Afrika macht tatsächlich nur einen sehr kleinen Teil der Migration nach Europa aus. [1] stieg die Zahl laut einer Studie der Europäischen Union in den letzten Jahren an, gleichzeitig erhielten seit 2008 immer weniger afrikanische Migrant_innen legale Aufenthaltstitel von EU-Staaten (vgl. Europäische Kommission 2018). Tendenziell wurde es schwieriger für Menschen aus afrikanischen Staaten, auf regulären Wegen zu Arbeits- oder Bildungszwecken in europäische Staaten einzureisen. Nichtsdestotrotz reagierten einige europäische Staaten auf den innereuropäischen Dissens in der Flüchtlings- und Migrationspolitik und den großen innenpolitischen Druck: Sie erteilten der Entwicklungszusammenarbeit den Auftrag, die Fluchtursachen in den Herkunftsländern der Migrant_innen zu bekämpfen.
Fluchtursachenbekämpfung ist ein Begriff ohne allgemein anerkannte wissenschaftliche Definition und wird abhängig vom politischen Lager sehr unterschiedlich interpretiert (vgl. Schraven 2019). Für die einen werden Fluchtursachen beispielsweise bekämpft, indem man die Lebensbedingungen von bereits geflüchteten Menschen in Aufnahmeländern wie dem Libanon stabilisiert. Oder, indem afrikanische Staaten bei der Überwachung ihrer Grenzen unterstützt werden, um Menschen frühzeitig auf ihrem Weg nach Europa aufzuhalten. Fluchtursachenbekämpfung meint hier die Eindämmung von (sekundären) Flucht- und Migrationsbewegungen. Für die anderen geht es bei der Bekämpfung von Fluchtursachen um tieferliegende Probleme, für die europäische Staaten teilweise eine Mitverantwortung tragen, etwa hinsichtlich der Auswirkungen der europäischen Handelspolitik, der Rüstungsexporte oder des Klimawandels. Was mit Fluchtursachenbekämpfung konkret gemeint ist oder ob der Begriff nur als Worthülse verwendet wird, hängt daher stark von Kontext und Sprecher_in ab.
Nichtsdestotrotz ist es seit den 1980er Jahren eine wiederkehrende Idee, dass die Entwicklungszusammenarbeit Fluchtursachenbekämpfung betreiben kann. Schon damals wurde eine simple Wirkungslogik suggeriert, wonach Entwicklungszusammenarbeit maßgeblich zum wirtschaftlichem Wachstum und Beschäftigung beitrage und damit so genannte Bleibeperspektiven im Herkunftsland schaffe. Auch wenn die Migrationsforschung von einer wesentlich komplexeren Wechselwirkung von Migration und wirtschaftlicher Entwicklung ausgeht, folgt der politische Auftrag der letzten Jahre weiterhin dieser Maxime. [2]
So stockte die deutsche Bundesregierung die Mittel für entwicklungspolitische Maßnahmen kontinuierlich auf, sofern diese zumindest auf dem Papier darauf ausgerichtet waren, Fluchtursachen zu bekämpfen. Die Europäische Kommission setzte einen Notfall-Treuhandfonds für Stabilität und zur Bewältigung der grundlegenden Ursachen irregulärer Migration in Afrika (EU Emergency Trust Fund for Africa) auf. Diese Maßnahmen signalisieren, dass die Politik das »Problem« tatkräftig angehen will, dass sie es an seinen Wurzeln zu »bekämpfen« gedenkt. Aber was kann Europa überhaupt erreichen?
Bei den europäischen und deutschen Maßnahmen zur Fluchtursachenbekämpfung geht es um Menschen, die versuchen, ohne gültige Papiere nach Europa zukommen, unabhängig davon, ob sie dort einen Anspruch auf Asyl haben oder nicht. Es geht um Menschen, die ihre Heimat verlassen, weil sie auf ein sicheres, besseres Leben in einem fremden Land hoffen. Bei ihnen vermischen sich Migrationsmotive wie das Streben nach einer wirtschaftlichen Perspektive mit klassischen Fluchtgründen wie politische Verfolgung, staatliche Repression, Gewaltkonflikte und Bürgerkriege. Die Wissenschaft spricht von gemischter Wanderungen (Mixed Migration), auch weil die Menschen unabhängig von ihren jeweiligen persönlichen Motiven den gleichen Gefahren auf dem Weg ausgesetzt sind. Für viele ist die Entscheidung, ihr Zuhause zu verlassen, eine Anpassungsstrategie an sich verschlechternde Lebensbedingungen und hat tiefliegende politische, ökologische und wirtschaftliche Ursachen, die sogenannten strukturellen Fluchtursachen. Dazu gehören auch schlechte Regierungsführung, Marginalisierung und Diskriminierung von Minderheiten, sowie Armut, Ungleichheit und Umweltzerstörung. Im Extremfall ist die Entscheidung zu gehen eine Überlebensstrategie, wenn die Existenz einer Person gefährdet ist. Verfolgung und Gewalt zählen zu den akuten Fluchtursachen. Klar ist: Die Gründe zu fliehen oder auszuwandern sind sehr komplex und multidimensional.
Tieferliegende strukturelle Probleme in Ländern des Globalen Südens wird die deutsche Entwicklungspolitik nicht lösen können. Auch deshalb hat sich die Strategie, Entwicklungszusammenarbeit als wirksame »Fluchtursachenbekämpfung« zu verkaufen, mittlerweile weitgehend erschöpft.
Die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit wirken zudem sehr bescheiden, wenn man sie mit den finanziellen Beiträgen vergleicht, die Migrant_innen selbst leisten. Ausländische Direktinvestitionen oder die Rücküberweisungen (remittances) von Migrant_innen, die in Entwicklungs- und Schwellenländer fließen, übersteigen das Budget der Entwicklungszusammenarbeit um ein vielfaches. Im Jahr 2018 beliefen sich die remittances in Länder in Subsahara-Afrika auf insgesamt 46 Mrd. US-Dollar. Laut der kürzlich veröffentlichten Studie Scaling fances des UN-Entwicklungsprogramm (UNDP), gelingt es immerhin 78% der in der EU arbeitenden Migranten ohne Aufenthaltsstatus ihre Familien in den afrikanischen Herkunftsstaaten mit Geld zu unterstützen, und sie schicken dabei fast so viel Geld nach Hause, wie sie vorher im Schnitt in ihren Heimatländern verdient haben (vgl. United Nations Development Programme 2019). Neben der saisonalen Arbeitsmigration sind die Rücküberweisungen ein entscheidender und stabilisierender Faktor in Krisenzeiten. Nicht selten helfen sie den zurückbleibenden Familienmitgliedern ihre Lebensbedingung zu verbessern und ermöglichen Bildungsperspektiven (vgl. Abdalla 2019).
Unabhängig von ihrer finanziellen Ausstattung hat die Entwicklungszusammenarbeit auf akute Fluchtursachen wie Kriege und Gewalt nur sehr begrenzten Einfluss. Hier sind Instrumente der Diplomatie, der Sicherheitspolitik sowie des europäischen und internationalen Krisenmanagements gefragt. Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe können lediglich die in der Nachbarschaft von Kriegsgebieten liegenden Erstaufnahmeländer unterstützen, die bereits heute eine unverhältnismäßig hohe Zahl geflüchteter Menschen beherbergen. Dies ändert wenig an der Fluchtursache, z.B. dem Bürgerkrieg Syrien, kann aber die Symptome lindern. Die Hauptaufgabe der Entwicklungszusammenarbeit ist es, die Lebensverhältnisse in den Partnerländern nachhaltig zu verbessen. Entwicklungspolitische Programme zugunsten von Gesundheit, Bildung, Rohstoff-Governance oder Korruptionsbekämpfung können strukturelle Fluchtursachen reduzieren, wenn sie auf einer sorgfältigen Analyse der Konfliktund Fluchtursachen beruhen und dem Do-no-harm-Ansatz folgen. Zunehmend wichtiger wird es werden, die Partnerländer bei der Anpassung an den Klimawandel zu unterstützen und die Resilienz von betroffenen Bevölkerungsgruppen zu stärken. In Anbetracht von shrinking spaces für zivilgesellschaftliche Akteure ist es außerdem wichtig, gerade mit ihnen zusammenzuarbeiten.
Sicherlich müssen die entscheidenden Impulse für mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder nachhaltige Entwicklung aus den Ländern selbst kommen. Die Entwicklungszusammenarbeit kann dennoch einen Beitrag zu besseren politischen, sozialen, wirtschaftlichen und ökologischen Verhältnissen im globalen Süden leisten. Das sind jedoch langfristige Prozesse, die sich darüber hinaus in sehr unterschiedlicher Weise auf die Migration auswirken.
Eine verantwortungsbewusste Politik der Fluchtursachenbekämpfung sollte nicht dabei stehen bleiben, die Lebensverhältnisse in ärmeren Ländern mit entwicklungspolitischen Projekten zu verbessern. Sie sollte auch die Auswirkungen europäischer Politik unter die Lupe nehmen – denn hier sind die politischen Hebel wesentlich länger (vgl. Braunsdorf 2016).
Für die Außen- und Sicherheitspolitik bedeutet das beispielsweise, die Folgen einer ambivalenten Interventionspraxis auszuwerten und die Zusammenarbeit mit fragwürdigen Regimen zu überdenken. Wenn Deutschland und Europa Waffen an Länder verkaufen, die diese gegen ihre eigene Bevölkerung einsetzen, dann beschädigt das nicht nur die außen- und entwicklungspolitische Glaubwürdigkeit, sondern konterkariert auch alle Versuche, Fluchtursachen zu reduzieren.
Auch Kapitalflucht und Steuervermeidung befeuern, dass Menschen ihre Heimat verlassen. Denn sie führen in vielen Ländern des globalen Südens dazu, dass Geld fehlt für den Aufbau und Erhalt elementarer Infrastrukturen wie Krankenhäuser, Bildungseinrichtungen und Straßen. Wo sie fehlen, ist die Lebensperspektive von Menschen gefährdet. Deswegen brauchen alle Länder effektive Steuersysteme und international muss Steuervermeidung bekämpft werden, zum Beispiel durch ein globales Steuerregister.
Ein weiteres Beispiel für hausgemachte Fluchtursachen ist die großzügige Subventionierung europäischer Agrarprodukte, die deren Export in Entwicklungsländer zu äußerst günstigen Preisen ermöglicht. Dort können die lokal angebotenen Waren häufig nicht mit den Importen konkurrieren. Lokale Märkte werden zerstört, Arbeitsplätze und Einkommensmöglichkeiten gehen verloren.
Diese Schlaglichter verdeutlichen, dass eine ambitionierte Fluchtursachenbekämpfung bedeuten muss, sämtliche politischen Praxen auch auf ihre Auswirkungen auf ärmere Länder und vermeintlich unbeteiligte Dritte hin zu überprüfen. Wenn Europa seiner globalen Verantwortung gerecht werden will, muss es die komplexen Zusammenhänge zwischen seiner Politik und Fluchtursachen verstehen und an den großen Hebeln ansetzen.
Vor diesem Hintergrund sollten die bisherigen Ansätze in der Fluchtursachenbekämpfung grundlegend überdacht werden. Dazu beitragen kann die neu eingesetzte Fachkommission Fluchtursachen, die bis Ende 2020 einen Bericht an die Bundesregierung liefern soll. Die Kommission sollte Impulse für eine faktenbasierte gesellschaftliche Debatte über die Ursachen von Flucht und irregulärer Migration geben, die der Komplexität des Themas gerecht wird. Ein weiter, differenzierter Blick auf viele Politikfelder, auf Lebens- und Konsumweise im globalen Norden sowie auf bestehende entwicklungspolitische Ansätze ist dabei wichtig.
[1] Der Anteil der Menschen, die in Afrika geboren wurden, an der Gesamtbevölkerung in der EU liegt bei nicht einmal 1%. Sie leben meist in den europäischen Ländern mit ausgeprägter kolonialer Vergangenheit, in Frankreich, dem Vereinigten Königreich, Belgien und Portugal (vgl. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung 2019).
[2] Laut der »Migration-Hump«-These nehmen die Auswanderungsrate aus einem Land erst einmal zu, wenn dort Wirtschaftswachstum und steigende Pro-Kopf-Einkommen bis zu einem bestimmten Punkt steigen. Erst in Ländern mit gehobenen mittleren Einkommen (upper middle income countries) sinkt demnach die Auswanderungsrate. Jedoch beruht diese These auf Querschnittsdaten und kann wenig darüber sagen, wie wirtschaftliche Entwicklung über Zeit sich auf die Migrationszahlen eines Landes auswirkt. Neuere Studien weisen darüber hinaus auch auf andere Faktoren hin: z.B. Bevölkerungsentwicklung, wirtschaftlicher Strukturwandel, Nachahmungseffekte bei Migrationsprozessen, steigende Ungleichheit, Kreditrestriktionen und sinkende Migrationsbarrieren (vgl. Angenendt, Martin-Shields und Schraven 2017).
LITERATUR
Abdalla, A. (2019), African Voices From the Ground: Motives, benefits and managing risk of migration towards Europe, Friedrich-Ebert-Stiftung (FES), Institute for Peace and Security Studies (IPSS), Addis Ababa.
Angenendt, St., Ch. Martin-Shields und B. Schraven (2017), Mehr Entwicklung – mehr Migration?, SWP-Aktuell 69, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin. Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung (2019), Europa als Ziel? Die Zukunft der globalen Migration, Berlin.
Braunsdorf, F. (2016), Fluchtursachen »Made in Europe«, Über europäische Politik und ihren Zusammenhang mit Migration und Flucht, Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin Europäische Kommission (2018), Many more to come? Migration from and within Africa, Joint Research Centre, Luxemburg.
Schraven, B. (2019), Fluchtursachenbekämpfung: Die deutsche Debatte, Notes du Cerfa Nr.146, Ifri, März.
United Nations (2019), International Migration 2019.
United Nations Development Programme (2019), Scaling Fences, Voices of Irregular African Migrants to Europe, New York.
Der Autor
Felix Braunsdorf ist Referent für Migration und Entwicklung bei der Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin.
Ein Interview mit Claas Schneiderheinze über neue Forschungsergebnisse zum Zusammenhang zwischen Entwicklung und Migration.
Ansprechpersonen
Alle FES-Expert_innen für Weltwirtschaft und Unternehmensverantwortung
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