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Wir sprachen mit Marie von Manteuffel von Ärzte ohne Grenzen über die drohende Gesundheitskatastrophe in den Flüchtlingslagern in Griechenland.
Bild: Marie von Manteuffel von Barbara Sigge
Bild: 2018_01_lesvos-chios_PedroMata (3) von Fotomovimiento lizenziert unter CC BY-NC-ND 2.0
FES: Vor kurzem noch gab es viel Aufmerksamkeit für die Situation auf den griechischen Inseln, v.a. im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos. Wie ist die Situation dort aktuell?
Marie von Manteuffel: Die Situation in den griechischen Hotspots ist aus medizinischer Sicht extrem fragil. Die tausenden Schutzsuchenden, die in Lagern wie Moria und Vathy leben, sind gleich mehreren Risikofaktoren ausgesetzt, die sie krank machen und die Verbreitung jeder übertragbaren Krankheit erleichtern können. Wie soll man sich regelmäßig die Hände waschen, wenn man kein fließendes Wasser oder keine Seife hat? Wie sollen Geflüchtete die "soziale Distanzierung" umsetzen, wenn Sie in einem Flüchtlingslager leben, dass an Slums erinnert, zusammengepfercht in Sommerzelten? Ohne ausreichend Trinkwasser, Duschen, Essen, medizinischer Versorgung?
Können Sie sagen, wie viele Menschen in den Flüchtlingslagern auf den griechischen Inseln zur Corona-Risikogruppe zählen?
In den Flüchtlingslagern leben zwar wenig alte Menschen, aber viele mit geschwächtem Immunsystem. Wir behandeln auch einige Patienten mit Vorerkrankungen. Sie alle wären bei einem Ausbruch des Coronavirus besonders gefährdet. Hinzukommt, dass bei einem unkontrollierbaren Ausbruch z.B. in Moria die Kapazität des örtlichen Krankenhauses auf Lesbos für intensivmedizinische Behandlung sofort erschöpft wäre. Wenn nicht sofort alternative Unterbringung geschaffen wird, die es den Menschen erlaubt, sich selbst zu schützen, müssen die Lager umgehend evakuiert werden. Nicht nur wegen des Coronavirus – sondern weil sich bei den katastrophalen Hygienebedingungen jederzeit alle möglichen Krankheiten ausbreiten können.
Die griechische Regierung hat kürzlich eine Ausgangssperre für das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos erlassen. Täglich darf nur noch ein Familienmitglied das Lager verlassen und muss vor der Sperrstunde zurückkehren. Kann so das Virus gestoppt werden?
Richtig ist sicher, das Coronavirus so lange wie möglich von den Flüchtlingslagern fernzuhalten. Das darf aber keinesfalls dazu führen, dass die ohnehin schon katastrophale Versorgungslage der Menschen in den Flüchtlingslagern noch verschärft wird. Vielmehr müsste die Zeit genutzt werden, um die administrativen Hürden abzubauen, die den Geflüchteten es aktuell extrem erschweren, geregelten Zugang zum griechischen Gesundheitssystem zu erhalten.
Wir müssen damit rechnen, dass das Coronavirus auch die Flüchtlingslager erreicht. Wenn das passiert, wird es kaum möglich sein, die rasante Verbreitung zu verhindern und die ohnehin gefährdeten Menschen zu schützen.
Unsere Teams unterstützen die Behörden bei der Verbesserung der Wasserversorgung, bei Gesundheitsaufklärung und Hygiene. Auch sind wir mit dem örtlichen Krankenhaus auf Lesbos in Austausch, um bei der Einrichtung einer Quarantänestation zu unterstützen, die der griechischen Bevölkerung wie Geflüchteten gleichermaßen zu Gute käme. Und wir werden so lange es nur irgendwie geht unsere eigenen Projekte aufrechterhalten und unsere Patient_innen versorgen. Das gilt für die Kinderklinik beim Lager Moria genauso wie für unsere ambulanten Kliniken für Überlebende von Folter und sexualisierter Gewalt auf Lesbos, auf Samos und in Athen.
Was gilt es aus Sicht von Ärzte ohne Grenzen nun besonders zu beachten? Welche Maßnahmen sind aus Ihrer Sicht am dringlichsten? Die seit langem überlasteten Lager auf den griechischen Inseln müssen evakuiert werden. Das bedeutet, einen politischen Weg zu finden, die Menschen in Aufnahmegesellschaften zu integrieren, in denen sie Zugang zu medizinischer Versorgung haben und überhaupt die Chance erhalten, sich selbst zu schützen.
Besonders sorgen wir uns natürlich weiterhin um unsere Kinderpatient_innen mit chronischen oder komplexen Krankheiten wie Epilepsie oder starkem Asthma, für die es auf Lesbos keine Möglichkeit der Behandlung gibt und auf deren Transfer auf das griechische Festland oder in andere europäische Staaten wir seit Monaten drängen.
Wie beurteilen Sie die die Initiative der europäischen „Koalition der Willigen“, bis zu 1.600 Kinder aus den Flüchtlingslagern zu evakuieren?
Die Initiative ist ein wichtiges Signal und ein richtiger erster Schritt, um die humanitäre Lage auf den Inseln abzumildern. Entscheidend ist, dass sie endlich umgesetzt wird.
Entsprechend enttäuscht waren wir darüber, dass die letzten Initiativen im deutschen Bundestag, eine Aufnahme von vulnerablen Gruppen wie z.B. unbegleiteten Minderjährigen auch nach Deutschland zu erreichen, von den Regierungsfraktionen nahezu ohne Gegenstimmen oder Enthaltungen in den eigenen Reihen abgelehnt wurden. Eine solche Blockade ist in Anbetracht der drohenden Katastrophe nicht nachzuvollziehen.
Umso dringender warten wir nun auf die angekündigten Relocation-Programme der Bundesregierung und anderer EU-Mitgliedstaaten. Die Chance, wenigstens die am stärksten gefährdeten Kinder noch von den Inseln zu holen, bevor das Virus auch in den Camps ausbricht, muss ergriffen werden. Alles andere wäre grob fahrlässig.
Was bedeutet Covid-19 für die Arbeit von Ärzte ohne Grenzen insgesamt?
Jeder ist von der Corona-Pandemie betroffen, aber einige Personengruppen werden die Auswirkungen noch sehr viel stärker spüren als andere. Wir sorgen uns insbesondere um die Menschen in Ländern mit ohnehin schwachen Gesundheitssystemen und um solche Menschen, die ohnehin in einem prekären Umfeld leben, wie Obdachlose oder von Konflikten betroffene Bevölkerungsgruppen oder eben Schutzsuchende in Flüchtlingslagern weltweit. Diese Menschen müssen ohnehin mit schwierigen und oft unhygienischen Lebensbedingungen zurechtkommen und ihr Zugang zur Gesundheitsversorgung ist bereits stark beeinträchtigt. Typischerweise haben diese vulnerablen Menschen größere Schwierigkeiten, die erforderlichen Präventivmaßnahmen überhaupt umsetzen zu können.
Zudem wissen wir wenig darüber, wie das Coronavirus in tropischen Gebieten übertragen wird und welche Auswirkungen beispielsweise Ko-Infektionen mit anderen Krankheiten wie beispielsweise Malaria, Tuberkulose, Dengue oder Masern haben, die dort enorm verbreitet sind.
Was kann Ärzte ohne Grenzen also tun?
Durch das Ausmaß der Corona-Pandemie sind unsere Möglichkeiten, angemessen zu reagieren, merklich eingeschränkt. In Italien, das jetzt am zweitstärksten vom Coronavirus betroffen ist, unterstützen wir seit kurzem vier Krankenhäuser im Zentrum des Ausbruchs bei der Infektionskontrolle und der Patient_innenversorgung. In Spanien unterstützen wir den Aufbau neuer Kliniken. In Frankreich und Belgien helfen wir dabei, besonders gefährdete Gruppen wie Obdachlose zu schützen. In Hongkong leisten wir Aufklärungsarbeit und psychosoziale Unterstützung für gefährdete Gruppen. Im Iran haben wir den Behörden angeboten, bei der Betreuung von Patient_innen mit COVID-19 zu helfen. In Afghanistan, Libyen und im Norden Syriens unterstützen wir Behörden und Kliniken bei den Vorbereitungen auf die Epidemie und schulen Gesundheitsmitarbeiter_innen. In diesen Staaten, in denen das Gesundheitsversorgung durch die andauernden Kriege und Konflikte massiv zerstört wurde, könnte COVID-19 besonders dramatische Folgen haben.
Neben der Bekämpfung der Pandemie und der Behandlung von Patienten geht es darum, die Bevölkerung aufzuklären und Gesundheitspersonal sowie vulnerable Gruppen vor dem Virus zu schützen. Gleichzeitig ist es wichtig, kontinuierlich die Behandlung und Versorgung von weit verbreiteten Erkrankungen wie Malaria, Masern oder Atemwegsinfektionen sicherzustellen. Unsere laufenden lebensrettenden Projekte trotz der zahlreichen Reise- und Exportbeschränkungen aufrechtzuerhalten, stellt uns vor gewaltige Herausforderungen.
Ein Beitrag von Peter Ruhenstroth-Bauer, Geschäftsführer der UNO-Flüchtlingshilfe, anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni.
Die Lage an der griechisch-türkischen Grenze spitzt sich immer weiter zu. Was ist nun zu tun aus griechischer und türkischer Perspektive?
Anlässlich des Weltflüchtlingstages am 20. Juni sprachen wir mit Marie von Manteuffel von Ärzte ohne Grenzen über die Lage im Mittelmeer.
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