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Der Blick über den Tellerrand

Interview mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze über den Beitrag deutscher Entwicklungspolitik zu fairen und rechtsbasierten Migrationspartnerschaften


Interview mit Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze

 

Frau Ministerin, im Kontext der Zeitenwende wird derzeit viel über die Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens diskutiert. Sie selbst fordern, sich mehr mit den Interessen der Partnerländer zu beschäftigen und auf der Basis von Respekt und Gegenseitigkeit zusammenzuarbeiten. Was heißt das übersetzt für die migrationspolitische Zusammenarbeit?

Svenja Schulze: Deutschland sucht händeringend nach Fach- und Arbeitskräften. Viele unserer Partnerländer haben ein großes Interesse daran, ihrer Bevölkerung durch reguläre Migration zusätzliche Perspektiven zu bieten. Hier bieten sich große Chancen. Mehr reguläre Migration kann auch weniger gefährliche irreguläre Migration bedeuten. Fair und rechtsbasiert gestaltet, fördert sie außerdem nachhaltige Entwicklung. Wir müssen Partnerschaften aufbauen, die gemeinsame Interessen identifizieren und Bedenken unserer Partner, z.B. zur Abwanderung von gut ausgebildeten Menschen ernstnehmen. Gleichzeitig sollten wir aber auch unsere Interessen und Werte mutig vertreten und z.B. Rechte und Schutz für Migrant*innen einfordern. Entwicklungspolitik ist dabei kein Druckmittel, um Migration in unserem Sinne zu steuern, sondern ein Instrument um gemeinsame Interessen zu verfolgen.

 

Wie funktioniert das in der Zusammenarbeit mit autoritären Regierungen?

Die deutsche Entwicklungspolitik hat Ansätze, die es ermöglichen, Menschen vor Ort auch in fragilen und autoritären Kontexten weiter zu unterstützen und für nachhaltige Entwicklung zu arbeiten, ohne autoritäre Regime zu festigen. Wir arbeiten in solchen Fällen zum Beispiel direkt über Kommunen, internationale Organisationen oder mit zivilgesellschaftlichen Akteuren. Mit Blick auf Migrationszusammenarbeit und Auswahl von Partnern für diese Zusammenarbeit ist es wichtig, dass wir uns nicht nur von Ankunftszahlen von irregulären Migranten*innen in Europa leiten lassen und kurzfristig reagieren. Dann besteht das Risiko, dass Migrant*innen und Flüchtlinge von autoritären Regierungen instrumentalisiert werden, um Zusammenarbeit und Unterstützung zu erpressen.

 

Im Koalitionsvertrag ist die Rede von neuen partnerschaftlichen Abkommen mit wesentlichen Herkunftsstaaten, die Austausch und Kooperation in den Bereichen Arbeitsmarkt, Qualifizierung und Fachkräftezuzug in den Blick nehmen sollen. Bislang waren die Verhandlungen mit zwei Ländern (Indien und Georgien) erfolgreich. Weitere Länder stehen auf der Liste. Welche Rolle spielen entwicklungspolitische Kriterien und Instrumente bei der Auswahl von potenziellen Partnern?

Leitend für die Auswahl der Länder sind eher innen- und arbeitsmarktpolitische Kriterien. Ich fände es spannend, noch stärker aus entwicklungspolitischer Sicht auf diese Frage zu schauen: Wir können zum Beispiel gezielt mit Ländern zusammenarbeiten, die stark unter dem Klimawandel leiden und in denen Menschen dringend neue Perspektiven suchen.

 

Und wie sieht es bei der Aushandlung und Umsetzung aus?

Das BMZ bringt sich als entwicklungspolitische Stimme auch in die Aushandlungen und Umsetzung ein: Im Sinne der feministischen Entwicklungspolitik achten wir z.B. darauf, dass von den Abkommen alle Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht gleichermaßen profitieren. Mit vielen der Länder haben wir ja schon starke entwicklungspolitische Partnerschaften und können konkrete Angebote machen. Unsere Zentren für Migration und Entwicklung bieten z.B. einerseits ganz konkret Beratung für Menschen an, die für Arbeit oder Ausbildung ins Ausland gehen wollen und beraten andererseits Regierungen, wie sie Migrationspolitik nachhaltig gestalten können.

 

Chancen, Erfahrungen und Diskriminierungen, die mit Migration einhergehen, haben sehr oft mit dem Geschlecht zu tun. Mit der Strategie zur feministischen Entwicklungspolitik hat das BMZ 2023 Geschlechtergerechtigkeit zum neuen Leitbild erklärt. Welche Rolle spielen die Bedarfe und Interessen von Frauen und marginalisierten Gruppen in der migrationspolitischen Zusammenarbeit speziell auch in Migrationspartnerschaftsabkommen?

Wir bringen diesen Aspekt in die Abkommen und alle unsere Aktivitäten ein. Wir beraten zu den geschlechtsspezifischen Risiken von irregulärer wie regulärer Migration und unterstützen beispielsweise in Äthiopien von Ausbeutung und sexueller Gewalt betroffene, rückkehrende Migrantinnen, indem wir sie bei der wirtschaftlichen und sozialen Reintegration unterstützen. In Indien und Nepal stärkt das BMZ die Rechte und die Teilhabe von Migrantinnen, die als Hausangestellte arbeiten. Es muss aber noch viel mehr passieren. Insbesondere müssen wir mehr Mitsprachemöglichkeiten für Frauen und marginalisierte Gruppen und gleichberechtigten Zugang zu Teilhabe und Ressourcen schaffen. Hierfür setze ich mich ein!

 

In der aufgeheizten Debatte zu Migration in Deutschland plädieren Sie für eine Versachlichung und einen weiteren Blick: Was braucht es aus Ihrer Sicht, um diesen Perspektiven und den daraus folgenden Handlungsnotwendigkeiten noch mehr Gewicht zu verleihen, auch über die entwicklungspolitisch und international interessierten und engagierten Kreise hinaus?

Mehr als dreiviertel der Flüchtlinge weltweit leben in Entwicklungsländern. Das vergessen wir in unserer aufgeheizten Debatte, die sich auf Überforderungen an den europäischen Außengrenzen und in unseren Kommunen fokussiert. Ich möchte diese Herausforderungen keinesfalls relativieren. Wir brauchen aber auch den Blick über den Tellerrand. Wichtig sind erstens mehr Wissen und Bewusstsein für die globale Situation, zweites weniger Populismus in der Debatte und drittens ganz konkrete Lösungsvorschläge, die wirken. Hierzu zählen zum Beispiel unsere Zentren für Migration und Entwicklung.

 

Die Fragen stellte Annette Schlicht.

 


Svenja Schulze ist seit Dezember 2021 Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung und seit September 2021 Mitglied des Deutschen Bundestags. Von März 2018 bis Dezember 2021 war sie Bundesministerin für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit und von 2017 bis 2018 Generalsekretärin der SPD in Nordrhein-Westfalen. Ihre parlamentarische Laufbahn begann 2004 im Landtag Nordrhein-Westfalen dessen Mitglied sie bis 2018 war. Von 2010 bis 2017 war Svenja Schulze Ministerin für Innovation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen.

Die im Artikel zum Ausdruck gebrachten Meinungen und Äußerungen der Gastautor_innen spiegeln nicht notwendigerweise die Haltung der Friedrich-Ebert-Stiftung wider.


Redaktion

Annette Schlicht
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