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Der Weg zur Strategiefähigkeit

Elemente einer vorausschauenden Asyl- und Migrationspolitik



Die deutsche Asyl- und Migrationspolitik der vergangenen Jahre war vornehmlich reaktiv und stark vom Wanderungsgeschehen getrieben. Dabei stand die Reduzierung der Zahl von neuen Flüchtlingen und irregulären Migrantinnen und Migranten im Vordergrund, um eine Wiederholung der umfangreichen Zuwanderung der Jahre 2015/16 zu verhindern. Mit dieser Politikform waren und sind erhebliche außen-, europa- und sicherheitspolitische sowie menschenrechtliche Risiken und Kosten verbunden – etwa die Förderung der libyschen Küstenwache und ihrer menschenrechtsverletzenden Praktiken, die politische Stärkung von autoritären Regimen oder die Verstetigung der menschenunwürdigen Zustände in den Flüchtlingslagern an den Außengrenzen der Europäischen Union (EU). Vor allem wurde in den vergangenen Jahren die Chance verpasst, eine verlässliche und tragfähige europäische Flüchtlingspolitik zu gestalten. Insgesamt nährt eine nur auf kurzfristige Erfolge ausgerichtete Politik Zweifel an der Fähigkeit der Regierenden, die komplexen Herausforderungen dieses Politikfelds zu bewältigen, wenn versprochene Ergebnisse ausbleiben, etwa in der Rückkehrpolitik. Davon profitieren vor allem populistische Parteien und Bewegungen, die vermeintlich einfache Lösungen anbieten.  

Vor diesem Hintergrund sollte sich die neue Bundesregierung einer stärker vorausschauenden Asyl- und Migrationspolitik zuwenden und ihre Strategiefähigkeit in diesem Politikfeld stärken. Die Gelegenheit dafür ist günstig: Erstens ist die öffentliche Aufmerksamkeit für die Themen Flucht und Migration im Vergleich zu 2015/16 gesunken, was eine sachlichere innenpolitische Auseinandersetzung erlaubt. Zweitens ist das internationale asyl- und migrationspolitische Ansehen Deutschlands gewachsen. Deutschland ist eines der Hauptaufnahmeländer von Menschen auf der Flucht und ist aus demografischen und wirtschaftsstrukturellen Gründen auf Zuwanderung dringend angewiesen. Sein Ansehen geht andererseits mit gestiegenen Erwartungen an das internationale asyl- und migrationspolitische Engagement Deutschlands und an eine entsprechende Orientierung an grundsätzlichen und längerfristigen Fragen einher. Drittens bietet die Neubildung der Bundesregierung eine Chance, aus den bisherigen Pfadabhängigkeiten eines vorwiegend reaktiven Politikmodus auszubrechen.  


Der Weg zur Strategiefähigkeit 
 

Strategiefähigkeit bedeutet, Ziele und Prioritäten zu setzen, eigene Beiträge zu leisten und die Verantwortung für sie zu übernehmen. In der Asyl- und Migrationspolitik erfordert eine Stärkung der Strategiefähigkeit größere Anstrengungen in drei Bereichen: (1) bei der Identifizierung von mittel- und längerfristigen Wanderungstrends und der zu erwartenden Probleme, Herausforderungen und Chancen, (2) bei der Bestimmung von politischen Zielen, ihrer Priorisierung und beim Erkennen von Zielkonflikten sowie (3) beim Ausbau der politischen und praktischen Handlungskapazitäten. Dazu zählen insbesondere eine bessere Abstimmung und Kooperation zwischen den Ressorts und eine Mitgestaltung von europäischen und internationalen asyl- und migrationspolitischen Initiativen. 

 

Acht Wanderungstrends und wie wir Szenarien für die Zukunft entwickeln können 
 

Für wirksame Strategien braucht eine Regierung gerade in der Asyl- und Migrationspolitik zunächst solide Daten und Analysen, insbesondere zu den aktuellen Trends bei Flucht und Migration und zu den damit verbundenen Risiken und Chancen.  

Für die Flüchtlingspolitik sind derzeit fünf globale Trends besonders relevant: Erstens nimmt die Zahl der Flüchtlinge weltweit weiter zu und erreicht ständig neue historische Höchststände. Tatsächlich hat sich die Zahl der vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) betreuten Flüchtlinge im letzten Jahrzehnt verdoppelt, allerdings vor allem aufgrund einiger weniger großer Krisenherde: Syrien, Südsudan, Myanmar, Afghanistan und Venezuela. Dabei gelangen die meisten Flüchtlinge nicht in die EU, sondern bleiben in ihren Nachbarländern und -regionen. Die wichtigsten Aufnahmeländer sind derzeit die Türkei, Kolumbien, Pakistan, Uganda und Deutschland. Zweitens hat die Zahl der Binnenvertriebenen, also von Menschen, die innerhalb ihres Lands auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt oder allgemeinen Menschenrechtsverletzungen sind, im letzten Jahrzehnt deutlich zugenommen. Brennpunkte sind dabei Syrien, Kolumbien, die DR Kongo und der Jemen. Drittens unterlag die Zahl der Asylanträge in Deutschland im letzten Jahrzehnt deutlichen Schwankungen: 2015 waren es viermal so viele wie 2010, seitdem sind sie um ein Drittel zurückgegangen. Diese Schwankungen stellen für die politische Planung und für die Steuerung der Kapazitäten der damit befassten Institutionen erhebliche Herausforderungen dar. Viertens ist der Anteil der irregulären Einreisen an der Gesamtzahl der Einreisen in die EU seit 2015 auf ein Zehntel gesunken, nicht jedoch der Anteil der Todesfälle: Das Mittelmeer ist nach wie vor die tödlichste Grenze der Welt. Fünftens nimmt die Instrumentalisierung von Flüchtlingen zu außenpolitischen Zwecken zu – siehe die jüngsten Versuche Erdogans und Lukaschenkos, die EU durch die Lenkung von Fluchtbewegungen unter Druck zu setzen.  

Zudem muss sich die Bundesregierung mit den Merkmalen der Migration nach Deutschland befassen: Erstens wird die aktuelle Migration immer noch stark von der Covid-Pandemie beeinflusst. Viele Regierungen haben die inner- und die zwischenstaatliche Mobilität massiv eingeschränkt, und weltweit war und ist eine deutliche Abnahme der regulären Arbeitsmigration festzustellen – nicht zuletzt, weil die Anwerbung von Arbeitskräften im Kontext der Pandemie komplizierter und aufwändiger geworden ist, etwa durch zusätzliche Auskunftspflichten über den Reiseweg, medizinische Nachweise und erweiterte Gesundheitskontrollen. Insgesamt hat die Nettozuwanderung nach Deutschland in den vergangenen Jahren abgenommen. Zweitens ist das Migrationsgeschehen in Deutschland nach wie vor stark europäisch geprägt; beispielsweise stammten 2019 zwei Drittel aller Zugewanderten aus einem anderen EU-Land. Drittens zeigt sich im Hinblick auf die Erwerbsmigration aus Nicht-EU-Staaten – gegenläufig zu den beschriebenen Trends – seit einigen Jahren ein leichter Anstieg, der auch 2019 angehalten hat (5,5 Prozent gegenüber dem Vorjahr). Über 60 Prozent dieser Migrant_innen sind für eine qualifizierte oder hochqualifizierte Tätigkeit nach Deutschland gekommen, die wichtigsten Herkunftsländer sind weiterhin die Westbalkanstaaten, die USA, die Türkei und Indien. Gegen den allgemeinen Migrationstrend und trotz der Pandemie hat auch die Zahl der ausländischen Studierenden in den letzten Jahren leicht zugenommen 

Wir brauchen mehr Szenarien  

Für die Strategieentwicklung ist neben der Erfassung und Bewertung von aktuellen Trends entscheidend, wie sich bestehende Konflikte entwickeln, welche neuen Krisen und Konflikte entstehen und wo und warum Menschen ihre Heimatorte verlassen und anderswo nach besseren Lebensbedingungen suchen. Solche Prognosen sind methodisch und empirisch schwierig, vor allem wenn sie kleinräumig sein sollen. Hierfür gibt es mehrere Gründe:  

  • Wanderungsbewegungen werden von vielen Faktoren beeinflusst, die sich nur schwer in statistischen Modellen abbilden lassen. Denn mögliche Indikatoren dieser Faktoren – etwa politische Stabilität oder sozioökonomische Ungleichheit – sind mitunter nur schwer oder gar nicht quantifizierbar. 

  • Zwischen diesen Faktoren bestehen zahlreiche Wechselwirkungen, die sich oft nur schwer erfassen lassen. Einzelne Migrationstreiber beeinflussen bzw. verstärken sich häufig etwa gegenseitig.  

  • Die Wanderungsdaten sind oft unzureichend: Es fehlen nach Geschlecht, Alter und Bildung differenzierte Wanderungsdaten, die Zuverlässigkeit der Daten lässt zu wünschen übrig oder die unterschiedlichen Quellen sind nicht vergleichbar.  

  • Individuelle Wanderungsentscheidungen sind oft komplex, und es fehlt an Erkenntnissen über die Faktoren und Prozesse, die zu Wanderungsentscheidungen führen. Menschen beurteilen potenzielle Wanderungssituationen unterschiedlich, und häufig lässt sich nicht vorhersagen, ob Menschen sich angesichts von Gewalt, Not und fehlenden Zukunftschancen zur Wanderung entscheiden oder nicht. 

Im Gegensatz zu Prognosen, die möglichst präzise quantitative Vorhersagen zu Flucht- und Migrationsbewegungen treffen wollen, dienen Szenarien der längerfristigen Strategieentwicklung: Sie zielen darauf ab, ein tieferes Verständnis der Kräfte zu erlangen, die Wanderungen und Wanderungsentscheidungen vorantreiben oder verhindern. Szenarienmodelle stellen in der Regel mehrere Entwicklungsmöglichkeiten von Flucht- und Migrationsbewegungen nebeneinander und bieten so – trotz aller methodischer und empirischer Probleme – eine Möglichkeit, Handlungsmöglichkeiten zu erkennen und zu bewerten. Auch sie können nur bedingt dazu beitragen, die Unsicherheiten zu verkleinern, die ein Blick in die Zukunft mit sich bringt. Bei der Erstellung der Szenarien muss auf diese Unsicherheiten hingewiesen werden, um falsche oder verkürzte Annahmen und Narrative von Ursache und Wirkung im Migrationsgeschehen zu verhindern – etwa die These, dass Resettlement-Programme einen Pull-Faktor für Wanderungen darstellen würden. 

Gleichwohl sollte die neue Bundesregierung die Prognose- und Szenarienkapazitäten in den Ministerien, den Ressortforschungseinrichtungen sowie den Universitäten stärker vernetzen und intensiver nutzen, um besser auf internationale Migrationsbewegungen nach Deutschland vorbereitet zu sein. So können Situationen institutioneller Überforderung – die in den Jahren 2015 und 2016 den Eindruck von Chaos und Kontrollverlust genährt haben – vermieden und die positiven Potenziale von Migration genutzt werden. 


Ziele der Migrations- und Flüchtlingspolitik bestimmen  


Die Globalen Pakte für Migration und Flucht bilden den Rahmen  

Wie in anderen Politikbereichen sind auch in der Migrations- und Flüchtlingspolitik klare Zielbestimmungen unerlässlich, um von einem reaktiven in einen aktiv gestaltenden Politikmodus zu wechseln. Für die mittel- und längerfristige migrationspolitische Zielbestimmung kann die Bundesregierung auf den im Dezember 2018 von 152 Staaten angenommenen Globalen Pakt für sichere, geordnete und geregelte Migration zurückgreifen. Dieser bietet den Staaten einen gemeinsamen Rahmen, um ungeregelte und unfreiwillige Migration zu mindern, grenzüberschreitende Wanderungen besser zu steuern und deren Potenziale effektiver zu nutzen. Die Bundesregierung kann den Pakt nutzen, um mit Blick auf den Umsetzungsstand der 23 vereinbarten Migrationsziele weiteren Reformbedarf in Deutschland zu identifizieren und entsprechende politische Prioritäten zu setzen.  

Für eine Stärkung der Genfer Flüchtlingskonvention und der internationalen Kooperation in der Flüchtlingspolitik sollte die Bundesregierung auf den ebenfalls 2018 verabschiedeten Globalen Flüchtlingspakt zurückgreifen. Die Priorisierung der Ziele hängt einerseits von der aktuellen migrationspolitischen Schwerpunktsetzung ab, andererseits sind aber einige Handlungsfelder von zentraler Bedeutung und sollten von der neuen Bundesregierung vorrangig bearbeitet werden.  

Zuwanderung zwecks Arbeit und Ausbildung erleichtern 

Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz (FEG) muss effektiver umgesetzt werden, wenn der künftige Bedarf an ausländischen Arbeitskräften über legale Zuwanderungswege und unter fairen Arbeitsbedingungen gedeckt werden soll. Nötig wären unter anderem beschleunigte  Anerkennungsverfahren für berufliche Qualifikationen, verbesserte Angebote zum Spracherwerb im Ausland, verbesserte Beratung von Unternehmen bzgl. Zuwanderungsmöglichkeiten sowie Schulung und Weiterbildung der deutschen Auslandsvertretungen.  

Die Umsetzung des FEG mit den Partnerländern sollte im Rahmen einer entwicklungsorientierten Migrationspolitik erfolgen. Dabei darf die Politik nicht nur an den deutschen Interessen ausgerichtet werden, sondern muss die Belange der Partnerländer berücksichtigen, wenn sie erfolgreich sein soll. Mit der zunehmenden internationalen Konkurrenz um Fachkräfte droht vielen Herkunftsländern ein Braindrain, weil die Arbeitskräfte dort häufig selbst dringend gebraucht werden, beispielsweise im Gesundheitsbereich. Die Bundesregierung wird dies bei den entsprechenden Abkommen stärker berücksichtigen müssen, und sie wird nach neuen bilateralen Ansätzen für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit suchen müssen, wie etwa transnationale Ausbildungspartnerschaften, bei denen Fachkräfte im Ausland gezielt für eine Tätigkeit in Deutschland ausgebildet werden. Weitere Möglichkeiten wären eine Anpassungsqualifizierung oder eine komplette Ausbildung in Deutschland.  

Zusätzliche Zuwanderungsmöglichkeiten könnten für gering qualifizierte Tätigkeiten eröffnet werden, etwa im Rahmen der Westbalkanregelung oder bei Saisonarbeitskräften. Auch hierbei müssen die arbeitsmarktpolitischen und entwicklungspolitischen Effekte auf die Partnerländer stärker berücksichtigt werden. Die Zuwanderung von Studierenden und für Aus- und Weiterbildung sollte gefördert werden, da dieser Weg häufig in einen dauerhaften Aufenthalt mündet und die erworbenen Qualifikationen hierzulande eingesetzt werden.  

Schaffung von mehr legalen Zugängen zu Schutz 

Um der weltweiten Zunahme von Flüchtlingen zu entsprechen, sollte die Bundesregierung eine nationale Resettlement-Quote für die Aufnahme von besonders schutzbedürftigen Menschen beschließen und zusätzliche Sponsorenprogramme für Geflüchtete anregen, bei denen sich Privatpersonen und andere Akteure zu einer befristeten Unterstützung einzelner Geflüchteter verpflichten. Die auch derzeit schon vorliegenden Angebote von Städten zur Aufnahme und Versorgung von Flüchtlingen sollten genutzt werden. Ergänzend sollte sich die Bundesregierung für eine europäische und eine internationale Allianz für Resettlement einsetzen. Zudem könnte sie häufiger humanitäre Visa für Menschen in akuten Krisensituationen erteilen, zugleich aber prüfen, ob auch eine Asylantragstellung in Drittstaaten möglich wäre.  

Trotz aller Rückschläge sollte sich die neue Bundesregierung für eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) einsetzen, mit dem vordringlichen Ziel, die Zugangswege zu Asyl offenzuhalten und eine faire Verteilung von Asylsuchenden innerhalb der EU zu erreichen. Ein funktionierendes EU-Asylsystem wäre auch der beste Schutz gegen Versuche, die EU-Staaten durch die Instrumentalisierung von Fluchtbewegungen zu erpressen.  

In Hinblick auf die wachsende Zahl von Binnenvertriebenen muss das vordringliche Ziel sein, den humanitären Zugang zu den Vertriebenen zu gewährleisten. Gerade in einem fragilen politischen Umfeld kann die Hilfe oft nur durch internationale Organisationen erfolgen, etwa wenn – wie im aktuellen Beispiel Afghanistan – mit Machthabern kooperiert werden muss, die selbst Menschenrechtsverletzungen begehen.  

 

Politische und praktische Handlungskapazitäten ausbauen 


Gesamtregierungsansatz innerhalb der Bundesregierung 

Für eine strategisch ausgerichtete Flüchtlings- und Migrationspolitik muss die neue Bundesregierung ihre eigenen Handlungskapazitäten und – soweit möglich – die der Partner auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene stärken. In Deutschland erfordert dies das Zusammenspiel der Ressorts und ihrer nachgeordneten Behörden. Grundsätzlich agieren die beteiligten Ministerien selbstständig, wenn es um Asyl- und Migrationspolitik geht (ressortgebundener Ansatz). Das ist richtig, weil es sich um ein Querschnittsthema handelt, das sehr viele Politikbereiche betrifft. Aber gerade deshalb sollte ein Gesamtregierungsansatz verfolgt werden, bei dem sich die zuständigen Ressorts (Innen, Außen, Wirtschaft, Arbeit, Entwicklung) regelmäßig abstimmen und zivilgesellschaftliche, privatwirtschaftliche, regionale und lokale Akteure einbezogen werden. Das ist in der Praxis schwer zu erreichen, aber Deutschland hat während der starken Zuwanderung 2015/16 gute Erfahrungen mit einer stärkeren ressortübergreifenden Koordinierung gemacht.  

So wurden im Rahmen der Ressortabstimmung zu verschiedenen Themen Staatssekretär_innenrunden eingerichtet, zuletzt auch zu „kohärenter Fachkräfteeinwanderung“ mit mehreren Unterarbeitsgruppen. Zudem gab es auf Abteilungsleitungsebene die Koordinierungsgruppe „Krisenprävention, Konfliktbewältigung, Friedensförderung“ sowie die ressortübergreifende Arbeitsgruppe Krisenfrüherkennung. Im Auswärtigen Amt (AA) wurde 2015 eine Beauftragte für Flucht und Migration eingesetzt, eine ähnliche Position wurde auch im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) geschaffen. Im Hinblick auf Fluchtursachen teilen sich beide Ressorts die Verantwortung, wobei das AA für Stabilisierung, zivile Krisenprävention und humanitäre Hilfe zuständig ist, das BMZ für Übergangshilfe und Entwicklungszusammenarbeit. Die neue Bundesregierung sollte an diese Erfahrungen anknüpfen und einen Gesamtregierungsansatz verfolgen, in dem sich die Ministerien und die einschlägigen Behörden regelmäßig auch über die externen Dimensionen der deutschen Flüchtlings- und Migrationspolitik abstimmen. 

Gesamteuropäischer Ansatz und Koordinierung innerhalb der EU  

Auf europäischer Ebene fehlen solche Koordinierungsstrukturen weitgehend, was gerade bei der Abstimmung der externen Dimension der EU-Migrationspolitik mit anderen Politikfeldern deutlich wird. In den migrationspolitischen Konzepten der EU haben Partnerschaften mit Herkunfts- bzw. Drittstaaten außerhalb der EU zwar immer schon eine zentrale Rolle gespielt, in der Praxis zeigten sich dann aber immer wieder Abstimmungsprobleme und ein fehlender Umsetzungswille. An den bisherigen Migrations- und Mobilitätspartnerschaften ist vor allem zu kritisieren, dass sie in erster Linie den Interessen der EU-Staaten und der Migrationskontrolle dienen und dass oft die Rücknahme von Staatsangehörigen im Mittelpunkt steht, nicht aber die Interessen der Partnerländer und deren Handlungsfähigkeit. Dies bietet diesen Partnerländern zu wenige Anreize und zu wenige Möglichkeiten, die Vereinbarungen konsequent und dauerhaft umzusetzen. Der im September 2020 vorgelegte Vorschlag der EU-Kommission für ein neues Migrations- und Asylpaket bestätigt Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitländern zwar ausdrücklich als ein zentrales Handlungsfeld der EU, die Vorschläge sind aber auch diesmal wenig konkret und zudem nicht hinreichend zwischen den Mitgliedstaaten und innerhalb der Kommission abgestimmt, um eine realistische Chance auf Umsetzung zu haben. 

Einheitliche Positionierung im multilateralen System  

Ein weiteres Handlungsfeld ist die multilaterale Zusammenarbeit. Deutschland unterstützt internationale Organisationen wie den UNHCR, die Internationale Organisation für Migration (IOM) und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), und hat zahlreiche internationale Konventionen und Verträge unterzeichnet. Zudem tritt die Bundesregierung für die nachhaltigen Entwicklungsziele der Vereinten Nationen ein, setzt sich für die Umsetzung der Globalen Pakte für Migration und Flüchtlinge ein und fördert internationale migrationspolitische Abstimmungsprozesse wie das Global Forum on Migration and Development (GFMD) und das International Centre for Migration Policy Development (ICMPD). Angesichts der derzeitigen generellen Schwäche von multilateralen Prozessen sollte die Bundesregierung die Unterstützung dieser Organisationen und Initiativen ausweiten. Deutschland ist aufgrund seines finanziellen und politischen Engagements bezüglich der internationalen flüchtlings- und migrationspolitischen Kooperation ein angesehener Akteur, auf den sich große Erwartungen richten. Um diese zu erfüllen und die eigenen Interessen besser vertreten zu können, bedarf es aber einer einheitlichen Position der Bundesregierung und ausreichender finanzieller und personeller Ressourcen – gerade auch in den federführenden Ressorts, die personell stark unterbesetzt sind, wie etwa die entsprechenden Referate im Auswärtigen Amt.  


Fazit 


Zusammengefasst führt der Weg zu größerer Strategiefähigkeit und einer längerfristig orientierten Politik über Verbesserungen in den oben beschriebenen Bereichen: mehr Wissen über Wanderungstrends und bessere Szenarien, eine klare asyl- und migrationspolitische Zielbestimmung sowie wirksame Abstimmungsprozesse auf nationaler, europäischer und internationaler Ebene. Der letzte Punkt ist besonders wichtig: Die Bundesregierung sollte sich weiterhin um die europäischen und internationalen Abstimmungsprozesse bemühen, aber auch Fortschritte in Deutschland erreichen. Hierzu sollte sie eine dauerhafte asyl- und migrationspolitische Koordinierung aller relevanten Ressorts sicherstellen, die über die bisherige, in erster Linie auf Krisenbewältigung ausgerichtete Abstimmung im Ressortkreis hinausgeht und eine mittel- und längerfristige Strategieentwicklung im Bereich Flucht und Migration einschließlich der außen- und entwicklungspolitischen Dimensionen ermöglicht. Dieser Prozess sollte in einen jährlichen Asyl- und Migrationsgipfel münden. Hier sollten die Beteiligten die strategische Ausrichtung der externen Dimensionen der deutschen Asyl- und Migrationspolitik diskutieren. Als Teil dieses Prozesses sollte die Regierung einen regelmäßigen Austausch mit der Zivilgesellschaft organisieren und dabei die Diaspora, die Gewerkschaften, die Privatwirtschaft sowie die kommunalen Akteure einbeziehen, um damit die innenpolitischen Voraussetzungen für erfolgreiche Partnerschaften und eine strategisch ausgerichtete Politik zu schaffen. 

 

Über den Autor

Dr. Steffen Angenendt 

ist Senior Fellow der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP). Er arbeitet zu internationalen Aspekten von Flucht, Migration, Entwicklung, Demografie und Sicherheit.  


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