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Visionen benötigt

Die Mobilitätswende stellt alle Städte vor große Herausforderungen. Bottrop erprobt Konzepte in kleinen Schritten. Schon das erfordert Ideen und politischen Mut.

Mobilität  |   19. Oktober 2023   |   Bericht von Harff-Peter Schönherr |  Lesezeit: 5 Minuten

Bottrop ist nicht wie Kopenhagen. Das gilt in so gut wie jeder Hinsicht, vor allem aber für die Mobilitätswende. Die dänische Hauptstadt hat sich vor knapp 15 Jahren zum Ziel gesetzt, bis 2025 klimaneutral zu sein – wozu zählt, dass 2025 etwa 75 Prozent aller Wege zu Fuß, per Fahrrad oder mit dem öffentlichen Personen-Nahverkehr zurückgelegt werden können. Diese Zahl ist schon heute erreicht, Tendenz steigend. Der Anteil des Autoverkehrs dagegen sinkt und sinkt.

Auch Bottrop geht der Wende entgegen. Aber die Schritte der 118.000-Einwohner-Stadt im Ruhrgebiet sind verhalten – noch. Er habe „Sorge, dass der Bürger das Auto sehr liebgewonnen hat“, sagt SPD-Ratsmitglied Rüdiger Lehr, Vorsitzender des Bottroper Bau- und Verkehrsausschusses.

Wie die aktuellen Zahlen der Verkehrsmittelwahl (Modal Split) aussehen, erfährt die Stadt im Oktober. Dann sollen die Ergebnisse einer repräsentativen Befragung von 9.400 Haushalten vorliegen, von der sich die Stadtverwaltung Aufschluss über das gegenwärtige Verkehrsverhalten erhofft. Vor zehn Jahren hatte es eine ähnliche Mobilitäts-Befragung gegeben. Dabei kam heraus: Für 61 Prozent der Wege nahmen die Bottroper als Verkehrsmittel das Auto. Das Fahrrad kam, weit abgeschlagen, auf 13 Prozent, Bus und Bahn brachten es auf gerade mal acht Prozent.

Jetzt soll sich zeigen, „ob die gewünschten Verlagerungen hin zu umweltfreundlichen Verkehrsmitteln stattgefunden haben“, so die Sprecher der Stadt zum Ziel der diesjährigen Befragung, „oder ob besonderer Handlungsbedarf besteht, durch unterstützende Maßnahmen zu einer häufigeren Nutzung etwa von Bus oder Fahrrad zu motivieren“. Eine Datenerhebung, die es der Stadt Bottrop erlaubt, die Verkehrswende besser zu steuern.

Fünf neue Wasserstoffbusse geplant

Ein Element dabei: Wasserstoffbusse. Die bisherigen Versuche, die innovative Technik in Bottrop einzusetzen, waren zwar von Zuverlässigkeitsproblemen geprägt. Aber die Vestische Straßenbahnen GmbH aus Herten, die auch in Bottrop den öffentlichen Personen-Nahverkehr (ÖPNV) betreibt, plant einen Neustart:  Für Anfang 2024 hat sie fünf Wasserstoffbusse bestellt; sie werden im Bereich Herten/Recklinghausen getestet und eingesetzt. Die Bestellung von weiteren fünf ist geplant.

„Diese sollen dann perspektivisch auch in Bottrop eingesetzt werden, sofern zukünftig eine Möglichkeit der Betankung geschaffen wird“, erklärt Andreas Pläsken, Sprecher der Stadt Bottrop: „Gespräche dazu sind angelaufen. Die Technik ist grundsätzlich ausgereift.“ Die Regionalverkehr Köln GmbH stellt das bereits unter Beweis, mit Dutzenden Fahrzeugen, die nur noch Wasser emittieren, Wasserdampf. Auch die Wuppertaler Stadtwerke nutzen Wasserstoffbusse.

Noch sei Bottrop für Autofahrer „eine Insel der Seligen“, sagt Ratsmitglied Rüdiger Lehr. Vieles sei sehr auf den motorisierten Individualverkehr zugeschnitten. Mit Neuerungen halte man sich zurück, von der Fahrradstraße bis zur Ausweisung von Tempo-30-Zonen. Aus Lehrs Sicht sollte „die Politik da ruhig mutiger sein“.

„Das ist doch Absurdistan!“

Die SPD hat in Bottrop eine satte Vormachtstellung. Die Kommunalwahl 2020 brachte ihr im Rat mehr als 40 Prozent. Aber für Alleingänge reicht das nicht. Und selbst wenn es reichen würde: In Sachen Mobilität will die SPD zwar die Wende, aber, so Lehr, „nicht mit radikalem Umbau“. Und dann erzählt er: Wie schwer es ist, Exemplare des Verkehrszeichens 721 zu installieren, seit 2021 Teil der Straßenverkehrsordnung (StVO).

Das „Grünpfeilschild mit Beschränkung auf den Radverkehr“ erlaubt Radfahrern das Rechtsabbiegen trotz roter Ampel. In Bottrop sei das in einem 1-Kilometer-Radius um jede Schule verboten. Was dazu führt, dass es fast überall verboten ist. „An 89 Stellen haben wir das untersucht“, sagt Lehr. „An nur einer einzigen war es möglich. Das ist doch Absurdistan!“

Aber wo Schatten ist, ist immer auch Licht. Um das Bottroper Radwegenetz zu optimieren, können alte Zechenbahntrassen reaktiviert werden. „Das hat viele Vorteile“, sagt Lehr. „Die haben keine Steigungen, kein Gefälle. Außerdem sind sie weitgehend kreuzungsfrei.“ Bislang ist das aber nur eine Überlegung.

Mobil sein auf der „Letzen Meile“

Und dann sind da die „Mobilitätspunkte“, für die „Letzte Meile“, die Strecke zwischen dem eigenen Stand- oder Zielort und dem nächstgelegenen Zugang zum ÖPNV. „Aktuell ist geplant, in einem ersten Schritt vier Mobilstationen einzurichten“, sagt Pläsken. „Diese sollen den Umweltverbund stärken, die Multi- und Intermodalität verbessern und insbesondere Verknüpfungspunkte vom/zum ÖPNV schaffen.“ Alle Standorte haben eine dynamische Fahrgastinformation (DFI) für den ÖPNV. Für 2023 wurden dafür in den Haushalt Gelder eingestellt. Noch hat die konkrete Umsetzung dieser Pläne aber nicht begonnen.

Zudem seien Bike-and-Ride-Anlagen vorhanden oder geplant, an einigen Standorten auch ein Fahrradverleihsystem, am Hauptbahnhof zusätzlich Park-and-Ride. „Weitere Mobilitätsbausteine sind mit Einrichtung der Mobilstationen geplant.“ Man müsse „schauen, was alles möglich ist“, sagt Lehr.

„Masterplan“ nennt Burkhard Drescher das, Geschäftsführer der Innovation City Management GmbH (ICM), die das Projekt „InnovationCity Ruhr - Modellstadt Bottrop“ verantwortet. Er hofft für Bottrop auf „visionäre Lösungen“, sagt der einstige Kommunalpolitiker (SPD) und Oberbürgermeister von Oberhausen im Interview mit VORAN: „Die gesamte Verkehrspolitik muss vom Kopf auf die Füße gestellt werden, und das im wahrsten Sinne des Wortes.“

Rückkehr der Straßenbahn?

Drescher ist ein Freund des Fußverkehrs, des Radverkehrs. Und er propagiert einen ÖPNV, in dem man „schneller und komfortabler von A nach B kommt als mit dem Auto“. Und dann erzählt er, vorbildhaft, von Oberhausen. Wo er zunächst als Oberstadtdirektor, später als Oberbürgermeister, die Wiedereinführung der in den 1960ern und 1970ern vollständig rückgebauten Straßenbahn vorantrieb. Ob es auch in Bottrop zukünftig schienengebundenen ÖPNV geben wird? Drescher könnte es sich vorstellen.

Und er hat Grund dazu. Da ist zwar das Gutachten von 2019/2020, das die Potenziale für eine Straßenbahn Bottrop-Essen, Bottrop-Gelsenkirchen und Bottrop-Oberhausen untersucht hat, und die größten Potenziale für eine Verbindung zwischen Bottrop und Oberhausen ergab, erläutert Stadt-Sprecher Andreas Pläsken. Die Nutzen-Kosten-Berechnung des Gutachters sei für Bottrop-Oberhausen „deutlich negativ“ ausgefallen, unter anderem aufgrund der hohen Investitionskosten für Infrastruktur.

Trotzdem hat die Straßenbahn Chancen. Der Grund: Der interkommunale, 1.700 Hektar große Projektraum „Freiheit Emscher“ der Städte Bottrop und Essen wurde in der Studie aus 2019/2020 noch nicht berücksichtigt. „Damals waren die Planungen noch nicht konkret genug, um die Potenziale seriös einschätzen zu können“, sagt Pläsken.

Das Mobilitätskonzept von „Freiheit Emscher“, verheißt dessen Projektwebsite, „denkt die Mobilitätswende zugleich mit, indem es Verkehr reduziert, klimafreundliche Verkehrsmittel und Fußverkehr fördert“. „Wenn der Planungsfortschritt dies erlaubt, wird das Thema Straßenbahn für eine Verbindung Essen/Bottrop vor dem Hintergrund weiter geprüft werden“, blickt Pläsken in die Zukunft.

Veränderungen als Chance sehen

Auch im „Masterplan Klimastadt“ für Bottrop, an dem Dreschers ICM derzeit arbeitet, wird die Mobilität eines der Kernthemen sein. Die Politik müsse „vorangehen“ fordert Drescher. Viele Menschen hätten Angst vor Veränderung, vor dem Wandel. Drescher hat keine Angst davor. Er kann sich eine „Infrastruktur mit Priorität Fahrrad“ in Bottrop vorstellen, „durch die Stadt gezogen“. Eine Busflotte ganz ohne Fossiltreibstoff. Mehr E-Lade-Infrastruktur für den Individualverkehr, „vor allem auch, wo die Leute arbeiten“. Shared Space, bei dem alle Verkehrsteilnehmer_innen gleichberechtigt sind, der ohne Verkehrszeichen und Fahrbahnmarkierungen auskommt, der auf gegenseitige Rücksichtnahme setzt.

Die Mobilitätswende sei eine große Herausforderung für alle Kommunen, so Pläsken. Dessen sei sich die Stadt Bottrop bewusst. Die kommunale Finanznot schränke Investitionen in Infrastruktur und den Ausbau der Leistungen im ÖPNV ein, der Personalmangel in der öffentlichen Verwaltung sei ein „Hemmschuh“ beim Ausbau der Infrastruktur, und der Einfluss der Kommunen auf die freie Entscheidung der Verkehrsteilnehmer_innen bei der Verkehrsmittelwahl sei „begrenzt“.

Aber mit dem ICM, der „Freiheit Emscher“ und Instrumenten wie dem „Integrierten Städtebaulichen Entwicklungskonzept“ (ISEK) Innenstadt im Rücken ist Bottrop auf einem Weg, der zu großen Schritten verführt. Die Verantwortlichen erhoffen sich jedenfalls, dass Visionen Wirklichkeit werden.

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