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„Schalter noch nicht richtig umgelegt“

Onlinezugangsgesetz 2.0: Malte Spitz, Mitglied des Nationalen Normenkontrollrats, plädiert für mehr Entschlossenheit bei der Verwaltungsdigitalisierung.

Digitalisierung  |  4. September 2023   |  Interview von Dietmar Kramer  |  Lesezeit: 5 Minuten

Herr Spitz, Estland gilt als europäisches Musterbeispiel für eine erfolgreiche Digitalisierung von Verwaltungsleistungen. Wären Sie gerne in Estland statt in Deutschland Mitglied des Nationalen Normenkontrollrates zur Beratung der Regierung?

Malte Spitz: Ich weiß nicht, ob es in Estland einen Normenkontrollrat gibt, aber ich finde die Arbeit in Deutschland im Grunde schön, weil wir ganz andere Grundlagenarbeit leisten können und ganz andere Anregungen haben. Die Situation in Estland mag in Bezug auf Digitalisierung angenehmer sein, aber man will ja immer auch etwas besser machen, und da ist die Aufgabe in Deutschland größer und spannender.

Hierzulande sollte das Onlinezugangsgesetz (OZG) von 2017 zwar eine flächendeckende Digitalisierung von Verwaltungsdienstleistungen auf der Ebene des Bundes und der Länder sowie der Kommunen bis Ende 2022 bewerkstelligen. Dieses Ziel ist deutlich verfehlt worden. Wie bewerten Sie diesen Misserfolg?

Die bis Ende vergangenen Jahres angestrebte Umsetzung hat tatsächlich nicht oder nur an ganz wenigen Stellen stattgefunden. Das kann man nicht schönreden, und ich würde auch davon abraten, das schönzureden. Aber man sollte wiederum auch nicht das ganze Verfahren schlechtreden, denn es sind auch Impulse entstanden und zumindest etwas Zug hineingekommen. Allerdings bestand an vielen Stellen eine falsche Konzeptionierung, was am Ende sowohl finanziell als auch an der geringen Anzahl von umgesetzten Anwendungen und Services teuer zu stehen gekommen ist. Da steht sehr viel erst noch an, weil man sich zu sehr mit Einzelanwendungen beschäftigt hat und weniger mit Grundlagenarbeit für Standards oder Basiskomponenten, worauf die unterschiedlichen Ebenen aufbauen könnten.

Aus welchen Gründen sind die Bemühungen zur Umsetzung des OZG gescheitert?

Man hätte schon vor drei Jahren nachsteuern müssen, weil schon damals klar wurde, dass es oft statt einzelner Prozesse starke Standardisierungen oder sogar einheitliche Komponenten braucht, die gut integriert werden können – Stichwort Interoperabilität. Das betrifft etwa Themen wie Schnittstellen oder Kontolösungen ebenso wie ganz praktische Fragen wie Bezahlsysteme und ähnliches. Doch obwohl schon in den vergangenen zwei, drei Jahren durch den fehlenden Kurswechsel Zeit verloren gegangen ist, hat man auch bei den derzeit umlaufenden Texten zum OZG-Änderungsgesetz den Schalter immer noch nicht richtig umgelegt. In der momentanen Form wird das jedenfalls nicht reichen.

Seit 2022 gehört Malte Spitz dem Normenkontrollrat an.

Er ist Mitgründer und Generalsekretär der NGO „Gesellschaft für Freiheitsrechte“ sowie freier Datenschutzbeauftragter. Viele Jahre war er Mitglied des Bundesvorstandes und des Parteirats von Bündnis 90/Die Grünen.

Kritiker beklagen mehrere strukturelle Ursachen für das verfehlte Ziel. Einer der Hauptvorwürfe lautet auf eine grundsätzliche Fehlplanung der angestrebten Digitalisierung auf der Bedarfsebene. Die einen monieren fehlende Schnittstellenstandards, andere einen föderalen Flickenteppich, während wiederum viele im Datenschutz einen Bremsfaktor sehen und weitere Gruppen sich zur Optimierung digitaler Prozesse auf behördlicher Ebene mehr Kooperation staatlicher Stellen mit Unternehmen der privaten Wirtschaft wünschen. Wie beurteilen Sie die Kritikpunkte?

Das Argument des Datenschutzes würde ich hintanstellen und nicht akzeptieren, das ist abgesehen von Einzelfällen kein systematisches Problem, denn wir bewegen uns bei diesem Thema in einem recht gut regulierten Umfeld. Dass Deutschland ein Föderalstaat ist, kann und soll gar nicht ausgehebelt werden, macht aber gewisse Abstimmungsprozesse aufwändiger und verändert die Steuerung. Im Zweifelsfall wird auch nicht die optimale Lösung gefunden, sondern nur ein Kompromiss.

Der IT-Planungsrat als Steuerungsgremium von Bund und Ländern hat sich in den letzten Jahren zu sehr auf kleinteilige Aspekte konzentriert und ist dadurch womöglich seinen Aufgaben auf der strategisch-planerischen Ebene nicht im ausreichenden Maße nachgekommen. Hier braucht es eine Neuaufstellung und Zuspitzung der Aufgaben. Zudem brauchen wir in Zukunft eine bessere föderale Arbeitsteilung. Es müssen Verantwortlichkeiten klarer gefasst werden, und wo der Bund alles regelt und die Kommunen letztendlich nur noch eine ausführende Serviceeinheit sind wie zum Beispiel beim Reisepass, sollte der Bund auch stärker in die Verantwortung gehen und schauen, dass vor Ort dadurch Kapazitäten frei werden für wichtige Dinge wie Beratung und dass technische Lösungen einheitlich angeboten werden.

Wie hoch ist der Digitalisierungsgrad bei Bund, Ländern und Kommunen wenige Monate nach Ablauf der entsprechenden OZG-Frist zur flächendeckenden Digitalisierung einzustufen?

Man muss sicher nicht für alles in der Verwaltung sofort digitale Abläufe entwickeln. Aber im Alltag der Menschen kommen Vorgänge wie eine Ummeldung, Anmeldung oder Anträge für Kita-Plätze viel häufiger vor, und für solche Themen existieren auch schon erste kleine Stufen des digitalen Angebots als Antragsformular im PDF-Format zum Download, um es auszufüllen, einzuscannen und abzuschicken, aber eigentlich geht es ja um die Ende-zu-Ende-Digitalisierung mit einem komplett digitalen Ablauf, damit die Formulare im Zweifel nicht wieder abgetippt und in eine Handakte übertragen werden müssen. Man will ja Vorteile durch die Digitalisierung für die Bürger_innen und die Verwaltung gleichermaßen, so dass für alle Vereinfachungen, Komfort und nicht zuletzt auch häufig Zeiteinsparungen entstehen.

An dieses Ziel muss man jetzt wirklich ran, auch um den sinkenden Zahlen der Mitarbeitenden in den Verwaltungen gegenzusteuern, denn sonst funktioniert das gesamte System eines Tages überhaupt nicht mehr, wir stehen da schon heute auf der Kippe. Mit einem immer kleineren Personalkörper kann man ansonsten schwer die gleichen oder sogar anwachsenden Aufgaben umsetzen, wenn die nicht an einer Stelle einfacher und schneller zu bearbeiten werden.

Als Reaktion auf das Negativergebnis des OZG arbeitet das Bundesinnenministerium derzeit am OZG-Änderungsgesetz. Sind Ihrer Meinung nach in dem bisher bekannten Entwurf für das OZG 2.0 die notwendigen Lehren aus dem Fehlschlag seines Vorgängers gezogen werden?

Es wurden Lehren gezogen, aber nicht in dem Umfang, dass man aus unserer Sicht sagen könnte, dass eine zielführende und erfolgsversprechende Ausrichtung vorgenommen wird. Es besteht aber weiter die Hoffnung, dass noch die Impulse der Länder oder auch unseres Gremiums in den Entwurf für das OZG 2.0 einfließen werden. Es braucht auch weitergehende Regulierung für die echte Verwaltungsdigitalisierung. Statt erneut zu scheitern, sollte man jetzt die Zeit nutzen, es richtig zu machen und gut zuzuhören bei den vielen wichtigen Rückmeldungen aus der Praxis.

Das Onlinezugangsgesetz (OZG)

Mit dem 2017 beschlossenen Onlinezugangsgesetz (OZG) sollten insgesamt 575 Verwaltungsleistungen bis Ende 2022 bundesweit online zur Verfügung stehen. Das sei bis zum Ende dieser Frist „nicht ansatzweise gelungen“, hat der Nationale Normenkontrollrat (NKR) im Februar 2023 resümiert und listet lediglich 33 Verwaltungsleistungen auf, die bis zu diesem Zeitpunkt bundeseinheitlich online verfügbar waren. Zu Verwaltungsdienstleistungen zählt beispielsweise: den neuen Personalausweis online beantragen, das Auto mit ein paar Mausklicks zulassen oder Familienleistungen automatisch erhalten, ohne umständliche Anträge stellen zu müssen.

Registermodernisierung: Daten digital verfügbar machen

Die Registermodernisierung ist ein wesentlicher Bestandteil der Digitalisierungsbestrebungen von Bund, Ländern und Kommunen. Moderne Register sind die Grundlage dafür, Verwaltungsleistungen für Bürger_innen und Unternehmen digital anzubieten und Verwaltungsprozesse effizienter zu gestalten. Unter dem Begriff sind meist elektronisch geführte Datenbestände der öffentlichen Verwaltung zu verstehen.

Aufgrund der föderalen staatlichen Strukturen und Zuständigkeiten in Deutschland ist auch die Datenhaltung oft dezentral organisiert. Die Register sind in der Regel nicht miteinander vernetzt.

Die Daten werden an verschiedenen Stellen in der Verwaltung vorgehalten; mit zum Teil abweichenden Datensätzen zu einer Person. Dies führt zu großem Mehraufwand, hohen Kosten, unzufriedenen Bürger_innen sowie zu überlasteten Behörden.

Schätzungen zufolge gibt es derzeit mehr als 375 zentrale und dezentrale Register. Diese zusammenzuführen ist ein aufwändiger Prozess. Dass Deutschland bei der Verwaltungsdigitalisierung so stark zurückliegt, hat vielfältige Ursachen. Die föderale Struktur macht es laut Normenkontrollrat schwierig und zeitraubend, die zahlreichen Verwaltungsleistungen von Bund, Ländern und Kommunen zu synchronisieren. Zudem hat Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern viel zu spät angefangen, sich um die Digitalisierung seiner Verwaltung zu kümmern. Die beim Thema Digitalisierung führenden Länder in Skandinavien und den baltischen Staaten haben bereits in den 2000er Jahren damit begonnen. Hinzu kommt oftmals fehlendes IT-Fachwissen in der Führungsebene im öffentlichen Dienst.

Knüpfen Sie und Ihre Kollegen im Normenkontrollrat weitere Erwartungen an das OZG-Änderungsgesetz?

Die Standardisierung und Etablierung von Basiskomponenten sind für uns zentral, wir erhoffen uns daraus einen innovationsfördernden Wettbewerb um die besten Lösungen. Es braucht diese architektonische Grundlagenarbeit, quasi das Fundament, auf dem aufgebaut werden kann. Auch für die Evaluation wäre ein stärkerer Grad der Nachvollzieh- und Überprüfbarkeit, inklusive qualitativer Maßstäbe, wichtig. Die kommunalen Verwaltungen brauchen außerdem eine Art App-Store oder IT-Marktplatz, um künftig digitale Dienste einfacher und sicher einbinden oder einkaufen zu können.

Umstritten erscheint vor allem der Verzicht auf eine neue Frist zur Umsetzung der Ziele des OZG 2.0.

Bedeutsam ist nicht die eine einzige Frist. Da vieles aufeinander aufbaut oder voneinander abhängig ist, braucht es mehrere Fristen. Vor allem benötigen wir eine bessere Verbindlichkeit, daher sollte ein Rechtsanspruch für Bürger_innen und Unternehmen auf digitale Verwaltungsdienstleistungen bestehen, entsprechende Konsequenzen könnten den Druck zur Umsetzung weiter erhöhen.

Gleichwohl halten Experten die Digitalisierung von Verwaltungsleistungen für eine Daueraufgabe. Lässt sich aber dennoch einschätzen, wann in Deutschland flächendeckend digitale Rathäuser funktionstüchtig eingerichtet sein werden?

Wenn es um die Digitalisierung aller Abläufe auch im Hintergrund und die Abschaffung von Papierakten geht, dann wird es noch einige Zeit brauchen – ich weiß nicht, ob acht, zehn oder 15 Jahre. Wenn es nur um die Digitalisierung etwa von Antragsverfahren geht und man für viele Vorgänge nicht mehr zum Rathaus muss, kann das eher noch in der 2020er Jahren passieren. Bei der Umsetzung von automatisierten Vorgängen wie Erinnerungen an ablaufende Reisepässe etwa lässt sich für mich der Zeitbedarf schwer einschätzen oder noch schwieriger für die Automatisierung von Sozialleistungen. Aber es gibt ja auch Unterschiede, wie einzelne Kommunen die Digitalisierung schon jetzt priorisieren, manche Kommunen sind ja noch fast im Jahr 2008. Gleichwertige Lebensbedingungen auch in diesem Bereich müssen aber unbedingt im Interesse unseres Landes sein, der Wohnort darf bei diesen Fragen für die Bürger_innen keinen Unterschied machen

Noch einmal zurück nach Estland: Was hat das Land anders und vor allem besser gemacht auf dem Weg in die digitale Zukunft?

Estland hat sich in den letzten 30 Jahren auch grundsätzlich als Land neu aufstellen und dabei zahlreiche Umbrüche meistern müssen, die Größe ist auch ein Unterschied. Ich glaube aber vor allem, dass man sehr früh die entsprechenden politischen Prioritätensetzungen sehr hoch gehangen hat. Die Digitalisierung war nicht nur eine technische Frage, sondern eine Frage des Selbstverständnisses an den Staat, ob er das will und bewerkstelligen kann. Dadurch hat sich auch ein ganz anderer Dialog zwischen dem Staat und den Bürger_innen entwickelt. Auch dadurch ist Estland über die technischen Umsetzungsfragen oder andere Rahmenbedingungen hinaus, durch die man Estlands Weg nicht einfach kopieren kann, ein sehr inspirierendes Beispiel.

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