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Eine Einschätzung von Johannes Moll, Mitarbeiter des Diakonischen Werkes Heidelberg im Ankunftszentrum.
Bild: Migrant_innen in Heidelberg von Radosław Drożdżewski lizenziert unter CC BY-SA 4.0
Aus Sicht des Innenministers von Baden-Württemberg, Thomas Strobl (CDU), soll aus dem Ankunftszentrum Heidelberg zwar kein ‚AnkERzentrum‘ werden. Es könne jedoch durchaus „Pate“ stehen für AnkERzentren. Das Gegenteil denkt Sascha Binder, stellvertretender Landesvorsitzender der SPD. Für ihn ist das Ankunftszentrum ein Drehkreuz zur weiteren Verteilung der Asylsuchenden – nicht aber geeignet zur „Kasernierung“ von Ausreisepflichtigen über längere Zeit.
Wo zwischen diesen beiden Zuschreibungen findet sich das Ankunftszentrum Heidelberg? Und: Können sich andere Länder ein Beispiel nehmen am Verfahren im Ländle?
Das Ankunftszentrum Heidelberg hat eine Aufnahmekapazität von 2.000 Plätzen, von denen im Schnitt zwei Drittel belegt sind. Das Gelände ist weitläufig, doch die Betten stehen dicht an dicht. Wo viele Menschen zusammenleben, treffen unterschiedliche Bedürfnisse aufeinander und entstehen Konflikte. Diese drohen in Lebensphasen, die von körperlicher Anstrengung, psychischer Belastung und unsicherer Lebensperspektive gezeichnet sind, aufzubrechen. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände sollten Flüchtlingseinrichtungen deshalb deutlich unter 1.000 Plätze haben.
Seit 2016 wird in Heidelberg ein beschleunigtes Asylverfahren durchgeführt. Ziel ist, die Erstunterbringung, Registrierung, medizinische Untersuchung und Aktenanlage beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) in nur fünf Tagen abzuschließen. Weitere fünf Tage später soll auch die Anhörung durchgeführt sein. Das klappt in 9 von 10 Fällen. Angehörte Personen werden schnellstmöglich weiterverlegt. Solche mit „guter Bleibewahrscheinlichkeit“ kommen direkt in die Kommunen. Solche mit „schlechter Bleibewahrscheinlichkeit“ in eine von vier Landeserstaufnahmeeinrichtungen (LEAs) in Baden-Württemberg.
Die Atmosphäre im Ankunftszentrum wird durch den zügigen Ablauf begünstigt. Die Bewohner_innen bleiben im Durchschnitt etwa sechs Wochen. Dafür verschieben sich Probleme an andere Orte. In den LEAs werden dauerhaft Menschen aus „sicheren Herkunftsländern“, Subsahara- und Maghreb-Ländern, mit als „unzulässig“ oder „offensichtlich unbegründet“ abgelehnten Anträgen untergebracht. So lange, bis sie möglicherweise ausreisen.
Sollte auch Baden-Württemberg von der Länderöffnungsklausel in § 47 (1b) des Asylgesetzes Gebrauch machen, kann die Aufenthaltsdauer in der Erstaufnahme für alle Asylsuchenden auf 24 Monate verlängert werden. Die Konsequenz wird ein absehbar steigendes Konfliktpotential sein. Wie hoch der Druck jetzt schon ist, zeigte kürzlich das Beispiel Ellwangen: Bewohner_innen rebellierten aus Angst vor Abschiebung; der Staat kämpfte um die Kontrolle.
In ‚AnkERzentren‘ oder vergleichbaren Einrichtungen besonders verletzliche Personen auf längere Zeit unterzubringen, ist unverantwortlich. Da sind sich alle Expert_innen einig. Kinder und Jugendliche, alleinreisende Frauen, Traumatisierte, Menschen mit schweren Erkrankungen, psychischen Störungen oder Behinderungen, Opfer von Menschenhandel und Überlebende psychischer, physischer und sexueller Gewalt haben Anspruch auf eine bedarfsgerechte Versorgung sowie auf Berücksichtigung ihrer individuellen Einschränkungen in der Anhörung zum Asylverfahren. Das ergibt sich aus den EU-Richtlinien, die seit Juli 2015 unmittelbar umgesetzt werden müssen. Dazu müssen besonderen Bedarfe aber zunächst einmal identifiziert werden.
Ein Konzept zur systematischen Erfassung besonderer Schutzbedarfe gibt es bislang weder in Heidelberg, noch in fast irgendeiner anderen Aufnahmeeinrichtung.
So fallen zwar einzelne Antragsteller_innen mit offensichtlichen physischen oder psychischen Leiden in der Registrierung oder der Anhörung auf und werden dann an Unterstützung leistende Stellen verwiesen. Für das behördliche Asylverfahren kommt die Erkennung jedoch oft nicht mehr rechtzeitig. Die Folge ist, dass in der Anhörung Erinnerungslücken oder Vermeidungsverhalten nicht als Symptome von Trauma-Folgestörungen, sondern als Unglaubwürdigkeitsmerkmal gedeutet werden.
Besondere Bedarfe bleiben häufig unbemerkt. Machen Betroffene nicht aus eigener Kraft auf sich aufmerksam (was gerade für verletzliche Personen oft schwierig ist), kann es passieren, dass keine adäquate Versorgung stattfindet oder sie bei der Verlegung von Familienangehörigen und wichtigen Unterstützungspersonen (Ärzten, Sozialarbeitern, Ehrenamtlich Engagierten) getrennt werden.
Rettend wirken im Einzelfall Hilfsstrukturen, die in Heidelberg auf Basis guter Vernetzung und bürgerschaftlichen Engagements entstanden sind. Eine von der freien Ärzteschaft und der Uniklinik organisierte Ambulanz im Ankunftszentrum, bietet wöchentlich Sprechstunden verschiedener Fachrichtungen. Dort können Diagnosen erstellt und Hilfen im Rahmen des Asylbewerberleistungsgesetzes geleistet werden. Psycholog_innen und Psychiater_innen bieten, neben Erstgesprächen, Stabilisierungsangebote an.
Die unabhängige Sozial- und Verfahrensberatung von Diakonie, Caritas und DRK erkennt Hilfebedarfe, zeigt Betroffenen Handlungsoptionen auf und unterstützt sie bei wichtigen Schritten. Die Verbände vermitteln und koordinieren auch das vielfältige ehrenamtliche Engagement in der Einrichtung. Diese Angebote dienen der Tagesstrukturierung, dem sportlichen Ausgleich und stärken wichtige Ressourcen – wie die Deutschkurse, die ein schnelleres Leben auf eigenen Füßen ermöglichen.
Als äußerst kritisch zu betrachten, ist, dass durch verschiedene Faktoren die Sicherheit von Bewohner_innen eingeschränkt werden oder sich auf ihre psychische Gesundheit auswirken kann: Sanitäranlagen sind in der Mehrzahl nicht abschließbar und nicht geschlechtergetrennt. Es gibt fast keine Rückzugsräume, wenig Privatsphäre und keine Gemeinschaftsräume. Wohn- bzw. Schlafräume sind nicht abschließbar, ebenso wenig Schränke für Wertsachen oder persönliche Gegenstände. Es darf nicht selbst gekocht werden, was bei längeren Aufenthalten zu Mangelernährung führen kann. Umgehungsversuche dieses Verbots, die trotz strenger Kontrollen stattfinden, gefährden den Brandschutz in den Wohnunterkünften.
Für Kinder und Jugendliche gibt es keine fachliche Betreuung oder Beschulung. Zum Unterstützungssystem für Alleinerziehende und Familien nach dem Kinder- und Jugendhilfegesetz besteht für die gesamte Dauer der Erstaufnahme kein Zugang. Das Jugendamt wird nur bei Verdacht auf akute Kindeswohlgefährdung aktiv.
Das Innenministerium Baden-Württembergs hat den Bedarf für grundlegende Schutzkonzepte in Erstaufnahmeeinrichtungen erkannt und plant, entsprechende Ansätze vorzustellen. Das ist ein erster wichtiger Schritt. Die Umsetzung ist der zweite.
Bei der Planung von neuen Aufnahmeeinrichtungen müssen diese Risikofaktoren berücksichtigt werden. „Die Aufnahme von Asylsuchenden muss schutzorientiert ausgerichtet sein. Dafür ist die konkrete Ausgestaltung der Unterbringung entscheidend“, fordern Diakonie und Caritas von der Innenministerkonferenz im Juni 2018. Die Arbeitsgemeinschaft für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) weist darauf hin, dass Risikofaktoren, wie die beschriebenen, sich auf den Gesundheitszustand von Traumatisierten in gravierendem Maße auswirken und sich dabei gegenseitig verstärken können.
Isolierende Formen der Unterbringung, die sich nicht in das örtliche Gemeinwesen einfügen, bringen Vorurteile, Stigmatisierung und Ausgrenzung, anstatt Integration durch Teilhabe zu fördern. Es ist wichtig, Bewohner_innen von Flüchtlingseinrichtungen engen Kontakt zum Umfeld zu ermöglichen.
In Heidelberg gibt es eine räumliche Trennung zum übrigen Stadtgebiet. Bedingt durch die Größe und Funktion des Areals, liegt das Ankunftszentrum am Rand der Stadt. Wer ein- und ausgeht, unterliegt Sicherheitskontrollen. Das Gelände ist durchgehend umzäunt und gesichert; eine Autobahn liegt zwischen ihm und der Stadt.
Um der räumlichen Trennung entgegenzuwirken, hat das Land einen Shuttleverkehr eingerichtet, mit dem die Bewohner_innen in die Stadt fahren können. Stadt- und Ankunftszentrumsbewohner_innen werden von Streetworker_innen der Diakonie und der Caritas und von Ehrenamtsinitiativen zusammengebracht. In der Universitätsstadt Heidelberg gehören Offenheit und Toleranz zum guten Ton. Es herrscht eine hohe Bereitschaft zu ehrenamtlichem Engagement; auch für seltene Sprachen lassen sich Dolmetscher_innen finden.
Die kommunalen Ämter haben einen Sonderstab für das Ankunftszentrum eingerichtet, in dem sie sich regelmäßig mit den Landesverantwortlichen austauschen und über Vorgänge rund um das Ankunftszentrum informieren. So können Probleme erkannt und gemeinsam Lösungen erarbeitet werden.
Richtungsweisend erweist sich Baden-Württemberg bei der Sozial- und Verfahrensberatung. Im Flüchtlingsaufnahmegesetz des Landes wird seit Januar 2014 die EU-Richtlinie umgesetzt, die besagt, dass Asylsuchende während des gesamten Verfahrens Zugang zu unabhängiger, qualifizierter Beratung haben müssen. Denn die allermeisten Asylsuchenden verfügen nicht über die notwendigen Informationen, um ihr Recht auf Schutz im Asylverfahren geltend machen zu können.
Mit einem Schlüssel von 1:100 (Sozialarbeiter_innen auf Bewohner_innen) sind in Heidelberg Diakonie, Caritas und DRK mit der Beratung beauftragt. Angesichts von 250 Anhörungen, die das BAMF jede Woche durchführt, deckt das jedoch nicht den Bedarf an Asylverfahrensberatung. Täglich stehen Bewohner_innen Schlange vor der Beratungsstelle der Verbände. Manchmal werden sie tagelang vertröstet, bevor sie Beratung erhalten. Im Fünftageverfahren kann das existenzielle Konsequenzen haben.
Wichtig sind für die Asylsuchenden oftmals Anliegen, die mit der Anhörung im Asylverfahren zunächst nichts zu tun haben, z.B. Zugang zu Gesundheitsversorgung, Herstellung der Familieneinheit, psychosoziale Beratungsthemen, Unterbringung und anderes. All diese Themen fordern aber die Kapazitäten der Berater_innen. Adäquate Anhörungsvorbereitung findet daher in zu wenigen Fällen statt.
In ‚AnkERzentren‘ kommt, mit Blick auf die Rückführungsfunktion derselben, dazu die Angst vor der Abschiebung. Ergänzt durch der Druck, ohne transparente Perspektive mehrere Monate bis Jahre in einer Sammeleinrichtung zu verbleiben. Bedarfsdeckende, unabhängige Sozial- und Verfahrensberatung wird in diesem Kontext wichtiger denn je.
Das Verfahren in Baden-Württemberg ähnelt dem, was die Bundesregierung in den ‚AnkERzentren‘ plant. Registrierung und Asylverfahren, einschließlich der Entscheidung, finden regelmäßig in kürzester Zeit statt. Abgelehnte Asylsuchende werden in der Erstaufnahme belassen und nicht auf die Kommunen verteilt.
Einzig Rückführung gehört nicht zu den Aufgaben des Ankunftszentrums. Das ist ein wesentlicher Unterschied. Die Aufnahme hier ist schutzorientiert ausgerichtet und geschieht getrennt von der „Kasernierung“ (vermeintlich) Ausreisepflichtiger.
Die schnelle Verteilung von Anerkannten ist eine wesentliche Verbesserung, verglichen mit herkömmlichen Asylverfahren. Schutzsuchende jedoch, die etwa aus sogenannten „sicheren Herkunftsstaaten“ kommen und von individueller Verfolgung bedroht sind, drohen im Schnellverfahren durchs Raster zu fallen.
Die erfolgreichen Abläufe verdankt das Ankunftszentrum Heidelberg einer engen, kontinuierlichen Abstimmung zwischen Landesbehörden, BAMF, Dienstleistern und freien Trägern (Diakonie, Caritas, etc.). Außerdem einem adäquaten Personaleinsatz und dem hohen Engagement der Mitarbeitenden sowie der engen Zusammenarbeit mit kommunalen Ämtern, Fachberatungsstellen und Unterstützungsangeboten im Stadtgebiet. Dieses Engagement kann als Beispiel dienen.
Kritisch zu sehen sind die Einrichtungsgröße, Verweildauer im System ‚Erstaufnahme‘ (Ankunftszentrum und LEAs) sowie noch zu entwickelnde Schutzkonzepte. Notwendig sind zudem eine systematische Ermittlung besonderer Schutzbedarfe und ein effektiver Zugang aller Schutzsuchenden zu unabhängiger Sozial- und Verfahrensberatung.
Das Konzept der ‚AnkERzentren‘ ist originär auf die Sicherstellung der Ausreise von abgelehnten Asylsuchenden ausgerichtet. Darunter aber werden auch diejenigen leiden müssen, die Anspruch auf Schutz in Deutschland haben – mit integrationshemmenden Folgen. Wo der Druck steigt, müssen Standards einer menschenrechtskonformen Aufnahme und rechtsstaatlicher Asylverfahren erfüllt sein. Ob Ankunfts- oder ‚AnkERzentren‘ – die Unterbringung in großen Sammelunterkünften ist grundsätzlich problematisch. Gelingende Integration verlangt nach dezentraler Unterbringung und mehr Teilhabe anstatt Ausgrenzung. Die konkrete Ausgestaltung der Unterbringung bleibt daher entscheidend.
Autor
Johannes Moll ist Mitarbeiter des Diakonischen Werkes Heidelberg im Ankunftszentrum. Das Diakonische Werk bietet dort gemeinsam mit dem Caritasverband und dem DRK unabhängige Sozial- und Verfahrensberatung für Geflüchtete an, sowie weitere Hilfsangebote im Einrichtungsumfeld.
Ein Beitrag von Miguel Vicente, Beauftragter für Migration und Integration der Landesregierung Rheinland-Pfalz.
Warum Massenunterkünfte Konflikte verschärfen und Integration erschweren. Ein Interview mit Professor Hannes Schammann.
Warum Transitlager abgeschafft werden müssen und nicht als Vorbilder für AnKER-Zentren taugen
Mona Wallraff vom ILS – Institut für Landes- und Stadtentwicklungsforschung zu möglichen Erfolgsfaktoren von Integration am Beispiel Dortmund.
Henrik Meyer von der FES in Tunis hält den Vorschlag, Auffangzentren für Flüchtlinge in Nordafrika einzurichten, für problematisch.
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