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Arbeit | 4. September 2023 | Interview von Claudia Euen | Lesezeit: 5 Minuten
FRAGE: Ihr Großstadtmenschen habt beide in Berlin gewohnt. Was hat euch dazu bewogen, nach Herzberg zu kommen?
ANNA: Ich war gerade für drei Monate in Mexiko und hatte vorher meine Wohnung in Berlin gekündigt, weil ich auf der Suche nach einem neuen Lebensmittelpunkt war. Als ich wieder in Deutschland war, habe ich alle meine Sachen in ein Auto gepackt und bin nach Herzberg gefahren. Das hat sich ganz organisch angefühlt, obwohl ich niemanden kannte. Mit meiner WG-Mitbewohnerin habe ich mich gleich gut verstanden.
JOCHEN: Ich bin auf dem Land groß geworden und ich habe es immer gemocht, in einer Gemeinschaft zu leben. Nach dem Studium lebte ich für neun Jahre in Berlin. Dort war es sehr schwer, eine Gemeinschaft aufzubauen. Da war viel Fluktuation, alles war sehr weitläufig und unverbindlich. Mir fehlten spontane Begegnungen im Alltag. Deshalb konnte ich Berlin oft nicht so genießen, wie ich es erhofft hatte. Genau deswegen habe ich immer nach Orten gesucht, die kleiner sind und wo es eine Gemeinschaft gibt.
Wie war das Ankommen in Herzberg und was habt ihr dort gemacht?
ANNA: Es gab einen Coworking Space, den wir von Anfang an nutzen konnten. Und wir hatten einmal die Woche einen Jour fixe, um uns zusammen zu überlegen, was wir hier machen können. Anfang Juli organisierten wir ein kleines Bahnhofsfest mit den Herzbergern, um uns vorzustellen und ins Gespräch zu kommen.
Danach kam aber schnell die Frage, was eigentlich unser konkretes Ziel ist. Das war komplett offen und auch toll für uns. Aber wir fühlten uns auch ein bisschen verloren. Wir haben dann versucht, mit den Leuten vor Ort in Austausch zu gehen und einen Marktstand organisiert, wo wir die Leute gefragt haben, was sie sich eigentlich vorstellen, nach Motto: Was wird hier gebraucht?
JOCHEN: Genau, das war wie eine Art Experimentierraum. Wir haben ja alle unsere Jobs und nebenbei auch uneigennützig versucht, Angebote zu schaffen, über die wir uns selber auch freuen würden. Es gab zum Beispiel einen Musiker in der Gruppe, Sergey, der Konzerte vor Ort organisiert hat. Es gab auch eine kleine Gruppe, die eine Fahrradwerkstatt eröffnet haben. Dafür haben wir eine Garage zur Verfügung gestellt bekommen, wo jeder einfach hingehen konnte, niedrigschwellig, um auch gemeinsam zu werkeln. Unser Ziel war immer, Projekte zu initiieren, die den Gemeinschaftssinn fördern.
Wie haben die Menschen vor Ort darauf reagiert?
ANNA: Das war sehr unterschiedlich. Manche haben sich richtig gefreut, dass wir nach Herzberg gekommen sind und sind auch proaktiv auf uns zugekommen, um uns kennenzulernen. Andere waren sehr skeptisch und haben gesagt: „Menschen aus der Stadt brauchen nicht herkommen, um uns zu erklären, wie es richtig geht.“ Der Bürgermeister Karsten Eule-Prütz und seine Stellvertreterin Stephanie Kuntze haben uns sehr unterstützt und uns gleich am ersten Abend auf das Pfingstrock-Festival im Botanischen Garten mitgenommen.
Nach sechs Monaten seid ihr mit sechs weiteren Pionier_innen in Herzberg geblieben. Was hat euch dazu bewogen?
JOCHEN: Für mich war das ein niedrigschwelliger Ausstieg aus Berlin. Meine Freundin ist auch gerade nachgezogen. Für uns war das eine Möglichkeit, etwas Neues aufzubauen, sich auch beruflich weiterzuentwickeln. Ich wollte wieder mehr in Präsenz mit Menschen arbeiten. Hier in Herzberg gibt es viel Macherspirit und die Stadtoberen versuchen, sehr viel anzuschieben.
ANNA: Für mich stand schnell fest, dass ich bleibe. Gegen Ende haben einige aus der Gruppe überlegt, wie es weitergehen könnte. Irgendwann kam die Frage auf, warum nicht einen neuen Ort gründen, an dem wir Projekte umsetzen können. Wir haben ein Haus in der Innenstadt gefunden, ein Konzept geschrieben und uns bei der Förderung Digitale Orte Brandenburg beworben. Der Titel: 3Horizonte.
Summer of Pioneers heißt ein Projekt, das die Digitalisierung ländlicher Regionen vorantreiben will. Es ermöglicht Kreativen und Digitalarbeiter_innen, Landleben auf Zeit zu testen. 2022 kamen 20 Interessierte nach Herzberg (Elster), einer Kreisstadt mit 9000 Einwohner_innen im Landkreis Elbe-Elster in Südbrandenburg. Sechs Monate lebten und arbeiteten die überwiegend jungen Menschen hier, tauschten Ideen aus und stießen gemeinschaftlich Projekte an.
Die Pioneers, die im Rahmen einer Ausschreibung ausgewählt wurden, bekamen sechs Monate lang vergünstigte möblierte Wohnungen, Internet sowie kostenlosen Zugang zu einem Coworking Space inklusive. Ausgerichtet wird das Projekt von Neulandia, einer Unternehmergesellschaft, die sich zu gleichen Teilen soziales Unternehmen, Bewegung und Netzwerk versteht.
Der erste Summer of Pioneers startete 2019/2020 im brandenburgischen Wittenberge. Im Jahr 2023 findet das Neulandia-Projekt in Mittweida und dem schweizerischen Lichtensteig statt.
Was ist das für ein Konzept?
JOCHEN: 3Horizonte ist ein offener Treffpunkt in einem 300 Quadratmeter großen Haus mit drei Stockwerken in der Herzberger Innenstadt. Im Erdgeschoss gibt es einen multifunktionalen Veranstaltungsraum mit hybrider Medientechnik, flexiblen Möbeln, Ausstattung für Seminare und einen Showroom, der aussieht wie ein kleines, gemütliches Wohnzimmer. Dort sollen regionale Produkte gezeigt werden. Im ersten Stock gibt es einen Co-Working-Bereich, Platz für Seminare, einen Werkstattraum, wo man auch einfach Dinge bauen und basteln oder reparieren kann. Im zweiten Stock sind Wohnräume geplant, in denen Gäste unterkommen können, die bei uns Veranstaltungen anbieten möchten. Das Haus ist ein Zukunftsort, wo Lebens- und Arbeitsmodelle neu gedacht und ausprobiert werden können
Ihr seid ja nicht auf eigene Faust hergekommen, sondern durch das Projekt „Summer of Pioneers“. Macht so ein Landleben auf Probe Sinn?
JOCHEN: Also ich persönlich habe das Gefühl, dass meine Zeit für Großstädte sowieso vorbei war. Ich fühle mich hier in einer Kleinstadt schon sehr wohl, vor allem, wenn ich weiß, dass ich mich einbringen kann. Aber alleine wäre ich sicher nicht hierhergekommen.
ANNA: Ich finde auch, dass das solche Projekte enorm wichtig sind und dass sie Menschen anziehen, die sich engagieren und einsetzen. Ob das funktionieren wird, wissen wir auch noch nicht. Wir stehen ja noch am Anfang mit 3Horizonte. Ich glaube, dass sich das aber generell lohnt, Kleinstädte einfach lebenswerter zu machen.
Welche Voraussetzungen hat Herzberg geboten, um attraktiv für euch zu sein? Was können andere Orte daraus lernen?
ANNA: Es braucht eine offene Stadtverwaltung. Schon allein, dass wir im alten Bahnhof arbeiten konnten, war ein Riesenvorteil. Man hat gemerkt, dass wir hier willkommen sind. Das muss man fühlen. Sonst ist so ein Start eher schwierig.
JOCHEN: Die Angebote müssen niedrigschwellig sein. Ein Vorteil war, dass wir super wenig Miete bezahlt haben, aber auch die Anbindung. Von Berlin fährt direkt die Regionalbahn hierher. Jetzt warten wir auf das 49 Euro-Ticket. Auch ist es immer gut, eine Person zu haben, die die Gruppe begleitet oder teambildende Veranstaltungen organisiert. Wir haben mehrere Fahrradtouren zusammen gemacht. Das hilft total, ein Gemeinschaftsgefühl aufzubauen. Bürgermeister Karsten Eule-Prütz und seine Stellvertreterin Stephanie Kuntze haben sich sehr für uns engagiert, das hat super geholfen.
Wie stellt ihr euch eure berufliche Zukunft in Herzberg vor?
JOCHEN: Ich plane, weiterhin als Innovationscoach und Trainer für Bildungseinrichtungen zu arbeiten. Durch viele Gespräche mit den Einwohner_innen sehe ich auch einen großen Bedarf für Formate rund um berufliche Orientierung und werde dazu im kommenden Sommer Workshops im 3Horizonte anbieten.
ANNA: Ich kann mir vorstellen, was ganz anderes zu machen, weil ich nicht mehr nur am Rechner arbeiten möchte. Wir wollen aber auch die Leute vor Ort miteinbeziehen, zum Beispiel gibt es hier einen Korbmacher in der Gegend. Den wollen wir fragen, ob er ein Workshop machen möchte für Menschen, die Lust haben, etwas Neues zu lernen und handwerklich tätig zu sein. Wir wollen auch ein Fotostudio bei uns einrichten oder die Möglichkeit anbieten, Podcasts aufzunehmen. Das Digitale spielt schon eine wichtige Rolle.
Wie ist eure Perspektive?
ANNA: Also ich will auf jeden Fall dieses Jahr hierbleiben. Und selbst, wenn ich dann wieder woanders hingehe, wird Herzberg ein Anker für mich bleiben. Ich habe viele neue Freund_innen gefunden und bin mit Menschen in Kontakt gekommen, mit denen ich sonst nie in Kontakt gekommen wäre, weil man immer so in seiner Blase bleibt. Wir hatten auch eine junge Mutter in der Gruppe, die mit ihrer Tochter kam. Das war super bereichernd und schön zu sehen, dass so eine Offenheit für Familien da ist.
JOCHEN: Der Summer of Pioneers war auf jeden Fall eine lebensbereichernde Erfahrung und ich freue mich, dass ich mit einigen aus der Gruppe nun weiterarbeiten kann. Für mich wäre es wichtig, das 3Horizonte so zu gestalten, dass das Haus weiterexistieren kann, auch wenn die Förderung zu Ende ist.
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Gemeinschaftliches Wohnen, innovative Arbeitsmodelle: Eine Studie zeigt, wie Digitalisierung das ländliche Ostdeutschland zukunftsfähig machen kann.
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Elies, Stefanie; Richter, Franziska
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