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Nicht am Profit, sondern am Menschen müssten sich digitale Lösungen orientieren, sagt Professor Daniel Buhr vom Tübinger Lebensphasenhaus. Ein Gespräch über den Mut zum Experimentieren.
Digitalisierung | 16. Dezember 2024 | Interview von Carolin Rückl | Lesezeit: 6 Minuten
Herr Buhr, Sie sind Professor für Policy Analyse und Politische Wirtschaftslehre an der Universität Tübingen und beraten Unternehmen, die Politik und internationale Organisationen wie die OECD oder die Europäische Kommission, manche davon auch zur Digitalisierung im Gesundheitswesen. Wie steht Deutschland im internationalen Vergleich da?
Daniel Buhr: Noch nicht gut. Unser Gesundheitswesen ist sehr fragmentiert, es gibt keine klaren Zuständigkeiten und viele Vetospieler. Das ist innovationsfeindlich. Hoffnung macht mir, dass im Gesundheitsministerium in den letzten Jahren viel reformiert wurde.
Das Gesundheitsministerium hat Anfang 2023 eine Digitalisierungsstrategie vorgelegt. Welche Rolle spielt die Digitalisierung dabei, Gesundheitswesen und Pflege zukunftsfähig zu machen?
Buhr: Unser Wohlfahrtsstaat hat harte Sektorengrenzen, besonders im Bereich Pflege und Gesundheit. Die Digitalisierung hilft, diese Grenzen zu überwinden. Die Telematikinfrastruktur zum Beispiel ermöglicht Austausch zwischen Pflege, Praxen, Krankenhäusern und Apotheken. Das ist notwendig, um zu kooperieren.
Warum hängt Deutschland dennoch hinterher?
Buhr: Gerade in der Pflege gibt es eine unglaubliche Begeisterungsfähigkeit für digitale Innovationen. Aber wir probieren zu wenig aus. Man wird nur besser, wenn man sich Fehler zugesteht. Wenn wir darauf warten, die perfekte Laborlösung zu finden, wird uns die Transformation nicht gelingen. Dafür ist die Welt zu komplex. Wir brauchen Experimentierräume.
Wie das Lebensphasenhaus? Dort kann man ausprobieren, wie selbstbestimmtes Wohnen mit digitalen Lösungen auch im Alter funktioniert.
Buhr: Genau. Wir wollten bewusst keine abstrakte Zukunftsvision zeigen. Das verschreckt eher, weil wir aus dieser schönen neuen Welt zurück nach Hause gehen und uns dort in der nüchternen Realität unserer Zwei-Zimmer-Wohnung wiederfinden.
Welches Ziel verfolgen Sie mit dem Lebensphasenhaus?
Buhr: Es gibt Momente, in denen wir alle offen sind für Veränderungen: Die Kinder sind ausgezogen, wir gehen in Rente, der oder die Partnerin erkrankt oder verstirbt. Dann entstehen Fragen: Wie möchte ich in Zukunft leben? Welche Technik kann mich dabei unterstützen? Im Lebensphasenhaus bieten wir mögliche Antworten. Sicher ist nicht alles für alle das Richtige, aber es hilft dabei, sich frühzeitig damit auseinanderzusetzen, wie selbstbestimmtes Wohnen im Alter funktionieren könnte.
Könnte man sich diese Gedanken nicht auch so machen?
Buhr: Vielleicht. Aber das Lebensphasenhaus hat einen entscheidenden Vorteil.
Nämlich?
Buhr: Uns macht das Zusammenspiel aus drei Dingen aus: Demonstration, Austausch und Forschung. Wir können im Lebensphasenhaus zeigen, dass es gute digitale Lösungen für altersgerechtes Wohnen gibt und sie weiterentwickeln. Wir haben Seminarräume, in denen Bürger sich Vorträge anhören können, wo wir aber auch Studierende aus allen unterschiedlichen Disziplinen zusammenbringen. Das regt transdiziplinäre Forschung an, erlaubt aber auch, für Erfahrungen in verschiedenen Lebensphasen zu sensibilisieren und Empathie zu tanken. Junge Pflegeschüler zum Beispiel können bei uns einen Altersanzug und eine Brille testen, die simulieren, wie es sich anfühlt, schlechter zu sehen oder mit einem steifen Arm an der Supermarktkasse zu bezahlen. Nach so einer Erfahrung ist man devoter, wenn es das nächste Mal mit dem Kleingeld etwas länger dauert.
Prof. Dr. Daniel Buhr leitet das Steinbeis-Transferzentrum Soziale und Technische Innovation und ist außerordentlicher Professor an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Eberhard-Karls-Universität Tübingen. Er forscht, lehrt und berät Organisationen, Ministerien und Parlamente sowie Unternehmen, Verbände, Gewerkschaften und Stiftungen im In- und Ausland. Sein Fachgebiet ist die Digitalisierung mit ihren Auswirkungen auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Buhr ist Mitglied verschiedener Kommissionen und wissenschaftlicher Beiräte wie dem „Expertenkreis Digitalisierung in Medizin und Pflege“ des Landesministeriums für Soziales, Gesundheit und Integration in Baden-Württemberg sowie dem wissenschaftlichen Beirat des „Fördernetzwerks Interdisziplinäre Sozialpolitikforschung (FIS)“ beim Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS).
Der Gedanke an digitale Lösungen fürs Alter ist bei vielen mit Angst darum verbunden, dass menschlicher Kontakt verloren geht. Das führt oft zu einer gewissen Skepsis. Wie gelingt es, dass pflegebezogene digitale Lösungen angenommen werden?
Buhr: Indem man sie direkt mit den Menschen und Organisationen zusammenentwickelt, die sie später nutzen sollen. Technikentwicklung ist oft ingenieursgetrieben: Man erfindet etwas Tolles und sucht dann eine Anwendung. Das kann erfolgreich sein, ist aber sehr aufwendig und teuer. Deswegen müssen wir im Bereich Pflege und Gesundheit umdenken: Von einem konkreten Bedarf her, für den wir eine Lösung zu finden versuchen. Dieser Bedarf lässt sich am besten co-kreativ und partizipativ mit späteren Nutzern erfragen.
Normalerweise geht es bei Innovationen doch eher um den Gewinn.
Buhr: Natürlich darf eine Innovation wirtschaftlich erfolgreich sein. Aber sie sollte doch gerade im Gesundheitswesen nicht allein von Profit angetrieben sein, sondern davon, dass jemand damit seine Lebenssituation verbessern kann. Deswegen ist der Austausch ein zentraler Punkt im Konzept des Lebensphasenhauses.
Reicht es, neue Technologien zu entwickeln?
Buhr: Nein. Damit die Digitalisierung von Pflege und Gesundheitswesen gelingt, braucht es vor allem die Verzahnung technischer mit sozialen Innovationen.
Was genau ist damit gemeint?
Buhr: Dass man Dinge neu oder anders macht. Zum Beispiel einen Prozess verändert, eine Arbeitsweise auf eine neue Situation überträgt oder etwas in einem anderen als dem ursprünglich vorgesehen Kontext nutzt.
Haben Sie ein Beispiel?
Buhr: Smartphones. Die wurden nicht dafür entwickelt, lassen sich aber nutzen, um pflegende Angehörige zu unterstützen. Oder Smart-Home-Steuerung, wie wir sie im Lebensphasenhaus zeigen. Dabei stand ursprünglich der Wunsch nach Bequemlichkeit im Vordergrund, man kann sie aber genauso gut für Sturzprävention nutzen.
Wie denn?
Buhr: Mit Smart-Home-Technologie ließe sich die Zeit verringern, bis eine gestürzte Person gefunden wird. Wenn jemand jeden Morgen um 8 Uhr auf die Toilette geht, um 8.05 Uhr die Kaffeemaschine anschaltet und so weiter, sieht man das am Strom- und Wasserverbrauch. Solche Lastmuster sind relativ stabil – also erkennt man daran auch Unregelmäßigkeiten. In so einem Fall könnten der Pflegedienst, Nachbarn oder Angehörige alarmiert werden und dort mal anrufen oder nachschauen.
Das Lebensphasenhaus gibt es seit fast zehn Jahren. Was macht das Projekt so erfolgreich?
Buhr: Ehrenamtliche. Bei uns sind viele aus dem Tübinger Kreisseniorenrat aktiv, was sicherlich auch damit zusammenhängt, dass die Stadtgesellschaft hier die sozioökonomischen Voraussetzungen hat, sich bis ins hohe Alter zu engagieren. Aber Ehrenamt braucht Hauptamt, und da sind Kommunen gefragt.
Inwiefern?
Buhr: Zum Beispiel mit Quartiers- oder sogenannten Case-and-Care-Managern, die technologiegestützter Betreuung und Pflege ein menschliches Gesicht geben. Es braucht immer jemanden vor Ort, der Dinge organisiert, zuhört und Menschen zusammenbringt.
Welchen Mehrwert hat ein Projekt wie das Lebensphasenhaus für Kommunen?
Buhr: Kommunen haben wenig Zeit und Geld, aber umso wichtiger ist es, dass sie präventiv tätig werden. Mit dem demographischen Wandel werden Bedarfe größer, Geld und Arbeitskräfte knapper. Kommunen haben die Verantwortung und die Möglichkeit, etwas dagegen zu tun: Mit einer vernünftigen Altenhilfeplanung, indem sie Sozialräume barrierearm gestalten und in der Quartiersentwicklung Jung und Alt mitbedenken. Bei uns und anderen bekommen Kommunalverantwortliche im Austausch mit Bürgern und Forschung wichtige Hinweise dafür, wie sie eine fürsorgende, altersgerechte Gemeinschaft gestalten können. Und zwar ohne darauf zu warten, dass die Bundesgesetzgebung sie dahin treibt.
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