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Smart Care: So meistern Kommunen die Pflegekrise

Intelligentes Wohnen und mobile Medizin: Zwei Leuchtturmprojekte weisen den Weg für die Zukunft von Pflege und Gesundheitswesen – und retten schon jetzt Leben.

Digitalisierung | 16. Dezember 2024 | Bericht von Carolin Rückl | Lesezeit: 5 Minuten

Mehr als eine Viertelmillion – so viele Pflegekräfte fehlen in Deutschland bis 2049. Doch ein akutes Fachproblem hat das Land schon jetzt: Vier von fünf Pflegeeinrichtungen mussten im vergangenen Jahr ihr Angebot einschränken, knapp 90 Prozent der ambulanten Dienste lehnten Neukunden ab – und alte Menschen, die Unterstützung bräuchten, sind auf sich allein gestellt.

Eine Lösung bieten pflegebezogene digitale Technologien. 2023 verkündete Gesundheitsminister Karl Lauterbach seine Digitalisierungsstrategie und damit den Beginn einer „Aufholjagd“. In manchen Kommunen hat die längst begonnen. In Tübingen etwa erprobt man im „Lebensphasenhaus“ schon seit 2015, wie digitale Lösungen das Wohnen im Alter sicherer und leichter machen.

Lebensphasenhaus mit Musterwohnung

„Wir versuchen, gesellschaftliche Herausforderungen sichtbar zu machen und für Lösungsmöglichkeiten zu sensibilisieren“, sagt Thomas Heine. Er ist Experte für aktives und gesundes Altern an der Universität Tübingen und hat das Projekt unter anderem mit dem Tübinger Politikprofessor Daniel Buhr vorangetrieben. Beide hätten zuvor im Rahmen eines EU-Projekts Wohnungen in Europa altersgerecht angepasst, erzählt Heine. „Bis jemand vom Kreisseniorenrat uns fragte, warum wir das eigentlich nicht in Tübingen tun.“ Nach gut sechs Jahren Planung öffnete das Gemeinschaftsprojekt von Universität und sieben Partner:innen aus Industrie und öffentlicher Verwaltung 2015 schließlich seine Türen. Seitdem ist das Lebensphasenhaus mit Musterwohnung und Seminarräumen gleichzeitig Ausstellungsort und Forschungsprojekt – und damit ein Innovationszentrum, das die digitale Transformation vorantreibt.

Jeden Freitag führen ehrenamtliche Senioren-Technik-Begleiter:innen durch die Musterwohnung mit Pflegebett, höhenverstellbarem Herd, der sich automatisch abschaltet, und Lichtbändern im Boden, die im Dunkeln vom Bett ins Bad leiten.

„Uns war es wichtig, keine reine Technikausstellung zu machen“, sagt Heine. Die 54 Quadratmeter mit hellen Holzmöbeln, bunter Farbe und Bildern an den Wänden sollen zum Wohnen einladen, der Seminarbereich Austausch ermöglichen. Für Forschende, Unternehmen und die Politik eine Chance: Denn das Lebensphasenhaus ermöglicht einen direkten Einblick in das, was Bürger:innen – und potenzielle Kund:innen – für selbstbestimmtes Altern im eigenen Zuhause wirklich brauchen.

Viele Akteur:innen zusammenbringen

Seit 2020 ist im Haus außerdem das „Landeskompetenzzentrum für Pflege und Digitalisierung“ untergebracht, eine landesweite Beratungsstelle für digitale Innovationen in der Pflege, bei der Heine heute den Bereich Innovationsinfrastrukturen leitet. „Wir bringen Leute zusammen und versuchen, Perspektivwechsel möglich zu machen“, sagt Heine. Gerade im Bereich Gesundheit und Pflege stehe Innovation oft ein „Silo-Denken“ im Weg. „Wir haben von Anfang an transdisziplinär gedacht“, sagt der Ingenieur. Nahezu alle Fakultäten der Universität Tübingen seien an der Entwicklung des Lebensphasenhauses beteiligt gewesen, dazu Industrie, Politik und drei Landesministerien, die das Projekt anfangs förderten. Eine Herausforderung, sagt Heine, „aber demografischer Wandel ist ein extremes Querschnittsthema.“ Heute wird das Haus vor allem vom Steinbeis-Transferzentrum Soziale und Technische Innovation getragen, geleitet vom Tübinger Professor Daniel Buhr, der mit Heine das Lebensphasenhaus aufgebaut hat.

Um ein Projekt so lange am Laufen zu halten, sagt Heine, brauche es Engagierte, die dafür Ressourcen in die Hand nehmen – und zwar ohne dass sie per Gesetz dazu gezwungen werden.

In den zehn Jahren, die das Lebensphasenhaus inzwischen besteht, habe sich vor allem das Mindset verändert. „Damals ging es um technische Lösungen, heute liegt der Fokus darauf, wie man technische und soziale Innovationen verbinden kann“, sagt Heine. Wie es also gelingt, dass digitale Lösungen auch tatsächlich von denen angenommen werden, die davon profitieren sollen.

Pflegepioniere: Angehörige digital beraten

Wie wichtig diese Verbindung ist, zeigt ein Projekt in Niedersachsen. Dort arbeitet die Gerontologin Melanie Philip in zwei Gemeinden daran, die medizinische Versorgung zu sichern. Seit 2019 leitet sie die „Pflegepioniere“, eine Beratungsagentur für Pflegeunternehmen, das auch Projekte für eine digitale Transformation von Pflege- und Gesundheitsversorgung in Kommunen umsetzt. Ihr Konzept für die Gemeinden Drochtersen und Nordkehdingen: Eine digitale Plattform, auf der Angehörige Antworten auf pflegerische Fragen und Unterstützung bei der Suche eines Pflegedienstes bekommen, sowie „Telemedizinräume“ – eine Mischung aus Erste-Hilfe-Station und Begegnungsort, ausgestattet mit digitalem Equipment und betreut von medizinischen Fachangestellten.

Kommunale Politik als große Hürde

„Eine große Hürde war die kommunale Politik“, sagt Philip. Viele Gemeinderät:innen bevorzugten den persönlichen Besuch klassischer Arztpraxen. Die allerdings gibt es immer seltener. In ländlichen Gemeinden wie Drochtersen und Nordkehdingen fehlen Ärzt:innen schon jetzt, deutschlandweit droht fast 40 Prozent der Landkreise in den kommenden Jahren die hausärztliche Unterversorgung. „Wir wollen dafür sorgen, dass es Ansprechpartner gibt, auch wenn kein Arzt verfügbar ist“, sagt Philip.

In Drochtersen und Nordkehdingen überzeugten schließlich die Bürgermeister:innen ihre Gremien, der Telemedizin eine Chance zu geben. Beide Gemeinden unterstützen das größtenteils aus dem Europäischen Sozialfonds geförderte Projekt mit insgesamt 140.000 Euro.

Mit Erfolg: Eine medizinische Fachangestellte führt dort schon jetzt Untersuchungen mit einem Telemedizin-Koffer durch. Mit digitalem EKG und Stethoskop zeichnet sie Werte auf, die Ärzt:innen direkt auswerten können – ohne Anfahrt. „Wir konnten so schon zwei Menschen retten“, sagt Philip. In Zukunft soll der Koffer mobil in den Gemeinden unterwegs sein. „So können wir dorthin kommen, wo die Menschen sich tatsächlich aufhalten“, sagt Philip.

Landfrauen sorgen für Akzeptanz der Projekte

Ihre Pflegepioniere haben inzwischen fünf aus dem Europäischen Sozialfonds geförderte Projekte abgeschlossen, ein weiteres läuft aktuell. Für die nötige Akzeptanz in der Bevölkerung sorgten lokale Netzwerke, im Fall von Drochtersen und Nordkehdingen unter anderem die Landfrauen, sagt Philip. Eine Schlüsselrolle spiele aber auch die Kommune: „Sie ist die Klammer, die alles zusammenhält“, sagt Philip. „Damit so ein Projekt funktioniert, braucht es Personen, die Probleme und Strukturen vor Ort kennen.“ Genauso wie Akteur:innen, die die ärztlichen Leistungen anbieten und daran verdienen können – „und die deswegen Gas geben und investieren.“

Verlässliche Daten fehlen

Die eigentliche Basis für eine erfolgreiche digitale Gesundheitsversorgung fehlt allerdings noch, in Tübingen wie in Niedersachsen: verlässliche Daten. „Wir wissen gar nicht, wo genau Versorgung fehlt“, sagt Philip. Dass Menschen keinen Platz in der ambulanten Pflege bekämen oder Praxen schlössen – oft nur ein Bauchgefühl. Um die Versorgung planen zu können, müsse man konkreter definieren, welchen Bedarf es vor Ort gebe. „Das ist die Grundlage jeder zukünftigen Entscheidung“, sagt Philip. Damit die digitale Transformation des Gesundheitswesens nicht nur in Berlin beschlossen, sondern vor Ort Realität wird.

Digitalisierungsstrategie für Gesundheitswesen und Pflege

2023 veröffentlichte das Bundesgesundheitsministerium eine Digitalisierungsstrategie, die die digitale Transformation der Gesundheits- und Pflegeversorgung konkretisieren soll. Die Strategie umfasst drei zentrale Handlungsfelder: Den Ausbau digital unterstützter Versorgungsprozesse, die erweiterte Nutzung von Gesundheitsdaten sowie die Förderung nutzenorientierter Technologien und Anwendungen.

Seit Anfang 2024 ist das E-Rezept der Standard, zumindest für gesetzlich Versicherte. Ab März des kommenden Jahres sollen alle Patient:innen deutschlandweit die elektronische Patientenakte (ePA) nutzen können. Verpflichtend wird die Nutzung allerdings nicht. Bis 2026 sollen 80 Prozent der Kommunikation im Gesundheitswesen papierlos erfolgen – etwa zwischen Praxen und Krankenhäusern oder Apotheken, aber auch zwischen Patient:innen und Leistungserbringenden.

Eine besondere Rolle spielt in der deutschen Digitalisierungsstrategie der Datenschutz: Die Strategie sieht einen sicheren Datenaustausch zwischen Gesundheitseinrichtungen vor, etabliert klare Regelungen zur Datennutzung für Forschungszwecke und plant die Integration deutscher Gesundheitsdaten innerhalb der EU – dort also, wo digitale Versorgung vielerorts längst Alltag ist.

Die Friedrich-Ebert- Stiftung hat 2024 ein Beratungsprojekt zur Frage „Wie kommen wir zu einer digitalen Dividende in der Pflege?“ initiiert. Beteiligt sind Fachleute aus Wissenschaft, Praxis, Politik und Gewerkschaften. Das erste Papier „Digitalisierung, KI und Pflege“ ist im November 2024 erschienen. Es analysiert den Forschungsstand in Bezug auf die Entlastung Pflegender durch digitale Innovationen und KI-Anwendungen. Gleichzeitig werden Voraussetzungen skizziert, wie Zeitgewinne und Entlastung realisiert werden können.

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