Der Funktionär

Dieser Beitrag von Prof. Dr. Till Kössler erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

Eine Frau, umringt von uehn Männern. fünf sitzend vorne. 6 dahinter stehend.

Bild: von Unbekannt Clara Zetkin wird 1907 erste Leiterin des neu gegründeten Frauensekretariats der SPD.

Plakat des DGB. Gezeichnete Darstellung eines Mannes und einer Frau. Dahinter eine Menschenmenge, die ein schweindustrielles Firmengebäude verlässt

Bild: von AdsD/DGB Der ideale Funktionär? DGB-Darstellung der Aufgaben eines Gewerkschaftsfunktionärs (1980).

Fünf Männer in Anzügen, stehend, unterhalten sich vor einem SPD-Plakat

Bild: von Klaus Hoffmann/Manfred Wienhöfer SPD-Funktionärskonferenz 1995 in Hannover: Wolfgang Senff, Gerhard Schröder, Wolf Weber, Hinrich Swieter und Gerhard Glogowski

Der Funktionär ist eine der umstrittensten Gestalten sozialdemokratischer Erinnerungskultur und ruft im historischen Gedächtnis höchst unterschiedliche, ja gegensätzliche Bilder hervor. Schon in seiner Entstehungsphase war die Figur des Funktionärs mit konträren Bewertungen und emotionalen Reaktionen verknüpft. In seiner Ambivalenz versinnbildlichte er in zugespitzter Weise die Probleme der sozialistischen Bewegung, eine politische Identität zwischen revolutionärer Mobilisierung und längerfristiger, professioneller Politik, grundsätzlicher Systemopposition und einer pragmatischen Politik gesellschaftlicher Mitgestaltung auszubilden. Hinter den bald stereotypen Bildern des Funktionärs trat dabei die immense Vielfalt von Funktionärsrollen in den modernen sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien in den Hintergrund.

Historisch gesehen ist der Funktionär ein Resultat der Entwicklung der SPD zu einer bürokratisch organisierten Massenpartei am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Mit dem raschen Mitgliederwachstum nach Ende des ,Sozialistengesetzes‘ 1890 und dem politischen Bedeutungsgewinn der in Halle an der Saale neu gegründeten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands stieg die Notwendigkeit, den Ausbau der Organisation und die Koordination der Parteigeschäfte einem festen Stamm von hauptamtlichen Funktionsträgern anzuvertrauen. Die Professionalisierung des Funktionärswesens verlief vor dem Ersten Weltkrieg jedoch zunächst zögerlich. Dies hing wesentlich damit zusammen, dass es schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt Vorbehalte gegen die Einrichtung hauptamtlicher Funktionsstellen gab. Viele SPD-Anhänger befürchteten eine Entfremdung zwischen Mitgliederbasis und politischer Führung und bewerteten die finanzielle Abhängigkeit der angestellten Funktionsträger von der Partei als Nachteil. Der Soziologe und Linkssozialist Robert Michels (1876–1936) gab der Funktionärskritik in seiner großen Studie „Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie“ von 1911 eine wichtige wissenschaftliche Grundlage, indem er in der Etablierung einer gegenüber den einfachen Mitgliedern abgehobenen Funktionärsherrschaft einen notwendigen Prozess, ein „ehernes Gesetz der Oligarchie“ zu erkennen meinte. Michels Analyse prägte die Funktionärsschelte der folgenden Jahrzehnte wesentlich mit. Gerade linkssozialistische Zirkel und Kreise kritisierten immer wieder die Etablierung einer vermeintlich von der Lebenswirklichkeit der Parteibasis abgehobenen Führungsclique. Umkehrt spielte das Schreckbild des Parteiarbeiters als identitäts- und gewissenlosen Ausführungsorgan eine kaum zu überschätzende Rolle in der Auseinandersetzung der Sozialdemokratie mit der kommunistischen Bewegung vor und nach 1945.

Neben der Funktionärskritik entwickelte sich jedoch im sozialdemokratischen Gesinnungsmilieu in Gestalt des basisnahen Multifunktionärs, der sich in aufopferungsvoller Arbeit für die Interessen lokaler Basismilieus einsetzt, auch ein positives Konkurrenzbild zur negativen Funktionärsfigur. Der basisnahe Funktionär war vor allem mit der Parteiarbeit in gesellschaftlichen Krisenzeiten, vor allem der Nachkriegszeit der späten 1940er Jahre, verknüpft und erhielt in den folgenden Jahrzehnten eine oft mythische Überhöhung. Mit dem Zustrom neuer, wenig im Parteimilieu verankerter Neumitglieder in die SPD seit den späten 1960er Jahren bekam die Figur des basisnahen Multifunktionärs eine Bedeutung für die Integration der neuen Anhänger in die existierenden Parteistrukturen und die Parteigeschichte. Diese konnte durch den Bezug auf tote oder noch lebende charismatische Funktionsträger als eine besondere beschrieben werden. Zudem konnte der Bezug auf die Aufbaugeneration zur Rechtfertigung einer gemäßigt-pragmatischen Politik gegenüber den radikalen Veränderungswünschen der jüngeren Neumitglieder eingesetzt werden. Jenseits dieser Rolle in den Parteikämpfen der 1970er Jahre konnte sich die über parteiinterne Lagergrenzen geteilte Erinnerung an den heroischen Funktionär im Widerstand gegen Hitler und im Neuaufbau der Partei als wesentliches Element sozialdemokratischer Identitätsbildung ausbilden. Gleichzeitig behielt der Funktionär in der historischen Erinnerung jedoch seine widersprüchliche Gestalt zwischen „Bonzen“, angepasstem Bürokrat der Macht und „basisnahem Interessenvertreter“, eine Ambivalenz die in parteiinternen Richtungsstreitigkeiten immer wieder aktualisiert und als symbolischer Einsatz im politischen Kampf eingesetzt werden konnte.


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