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Unterschiedliche Quellenkritik: Prinz Wilhelm und sein Brief zu SA und SS

Bild: Der „Vorwärts” vom 15. Oktober 1932

In der letzten Woche erreichte die öffentliche Diskussion um die Entschädigungsforderungen des Hauses Hohenzollern einen Höhepunkt. Auch ein Brief Kronprinz Wilhelms zur Aufhebung des Verbots von SA und SS ist Teil des aktuellen Streits.

Am Abend des 15. Oktober 1932 erscheint das SPD-Parteiorgan „Vorwärts“ mit der Schlagzeile „Der Exkronprinz an Groener – Unverschämte Einmischungsversuche der Hohenzollern“. Hintergrund ist ein privater Brief Wilhelms an Reichswehrminister Wilhelm Groener, der kurz zuvor an die Öffentlichkeit gekommen war. In dem Schreiben vom 14. April desselben Jahres wirft der Sohn des abgedankten deutschen Kaisers dem Minister vor, das kurz zuvor per Notverordnung verhängte Verbot von SA und SS befürwortet und unterstützt zu haben. Im Wortlaut erfahren die Leserinnen und Leser des „Vorwärts“, dass Wilhelm „diesen Erlaß nur als einen schweren Fehler […] und für eine außerordentliche Gefahr für den inneren Frieden“ ansehen könne und dass es ihm unverständlich sei, „wie gerade Sie als Reichswehrminister das wunderbare Menschenmaterial, das in der SA und SS vereinigt ist und dort eine wertvolle Erziehung genießt, zerschlagen helfen“.
Der „Vorwärts” vom 15. Oktober 1932

Die Enthüllung des Briefs fällt in die letzten Wochen der Reichskanzlerschaft Franz von Papens. Schon zu deren Beginn war das Verbot von SA und SS im Juni 1932 wieder aufgehoben worden. Die gewalttätigen paramilitärischen Organisationen der NSDAP tragen daraufhin maßgeblich zur Verschärfung der bürgerkriegsähnlichen Zustände in der Weimarer Republik bei. Die Veröffentlichung des Briefes im Herbst 1932 erlangt die Aufmerksamkeit breiter Teile der Gesellschaft und sorgt angesichts der extrem angespannten politischen Situation für einen großen Skandal.

Auch heute ist der Brief Wilhelms neben vielen weiteren Quellen wieder Teil einer Auseinandersetzung. Es geht um die Forderung der Nachfahren des Kaisers nach Rückgabe tausender Kunst- und Wertgegenstände, die nach dem Zweiten Weltkrieg durch die sowjetische Besatzungsmacht enteignet wurden und nach der Wiedervereinigung in den Besitz der Bundesrepublik Deutschland übergingen. Ein entscheidender Faktor in den Verhandlungen der Bundesregierung mit den Hohenzollern zu dieser Forderung ist die Frage nach der historischen Schuld der Hohenzollern und insbesondere Kronprinz Wilhelms im Zusammenhang mit der „Machtübergabe” an die Nationalsozialisten. Hat er dem nationalsozialistischen System „erheblichen Vorschub geleistet”? Im Falle des Briefs Wilhelms an Groener lautet die Frage: Hat Wilhelm durch sein Schreiben aktiv und wirkungsvoll zum Sieg der NSDAP beigetragen?

Zur Beurteilung dieser Fragen wurden mehrere historische Gutachten erstellt, die vor Kurzem durch die Redaktion von Jan Böhmermanns „Neo Magazin Royale“ als Recherchematerial zur Sendung vom 14. November 2019 ins Netz gestellt wurden.

Durchsucht man diese Gutachten nach dem Brief des Kronprinzen an Groener, so wird deutlich, wie unterschiedlich Historiker_innen bisweilen Quellen bewerten. Christopher Clark sieht den Brief, der bei ihm dankenswerter Weise im vollständigen Wortlaut dokumentiert wird (Clark, S. 4, Anm. 3), nicht als Hinweis auf Sympathien Wilhelms zur NSDAP an. Vielmehr sei er „Ausdruck einer Spielart des ‚Zähmungskonzeptes’, dem weite Teile der nationalistischen und reaktionären Rechten in der Schlussphase der Weimarer Republik anhingen“ (Clark, S. 7). Auch habe der Brief nicht zur Aufhebung des SA- und SS-Verbots beigetragen, da diese ja nicht durch Groener erfolgt sei (vgl. Clark, S. 10–11).

Ganz anders urteilen Stephan Malinowski und Peter Brandt in ihren Gutachten. Malinowski erläutert, dass der Brief als Teil einer Kampagne zum Sturz des Reichskanzlers Heinrich Brüning zu betrachten sei (vgl. Malinowski, S. 76ff.). Auf Brüning folgte von Papen, der kurz nach Amtsübernahme das Verbot von SA und SS aufhob. Malinowski betont, der Kronprinz habe sich „ostentativ gegen eine der wenigen wirkungsvollen Maßnahmen, die in einem republikanischen Sinn gegen den Terror und die Logik des Bürgerkriegs ergriffen wurden”, gestellt (Malinowski, S. 19). Wilhelm habe aktiv zur weiteren Entfesselung der SA beigetragen (vgl. Malinowski, S. 77). Auch Brandt vermutet, dass der Brief Wilhelms vor allem die Schwächung Groeners als Stütze der Regierung Brüning gegenüber Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Ziel hatte und diese „wahrscheinlich erreichte“. (Brandt, S. 41). In der allgemeinen Beurteilung Wilhelms sind sich beide Historiker über dessen erhebliche Mitverantwortung an der Machtübernahme der NSDAP einig.

Zu vollkommen anderen Schlussfolgerungen kommen Wolfram Pyta und Rainer Orth, die in ihrem Gutachten einen Versuch der Entlastung Wilhelms von den zuvor erhobenen Vorwürfen unternehmen. Auf den Inhalt seines Briefs gehen sie dabei nur dahingehend ein, dass er „das Verbot von SA und SS kritisiert“ habe, beklagen aber umso wortreicher die „regelrechte Pressekampagne“, der Wilhelm wegen der Veröffentlichung „vertrauliche[r] Briefe“ ausgesetzt gewesen sei. Diese Briefe hätten, so Pyta und Orth weiter, der sozialdemokratischen Presse „zum richtigen Zeitpunkt […] als publizistische Munition“ gedient (vgl. Pyta/Orth, S. 24). Wilhelm habe seinen Brief außerdem vermutlich nicht aus eigenem Antrieb geschrieben, sondern auf Veranlassung Kurt von Schleichers (vgl. Pyta/Orth, S. 24 und 56ff.). Das angestrebte Ziel sei gewesen, „die NSDAP wirtschaftlich zu ruinieren” – eine „legale, und daher Monat für Monat enorme Geldmittel verschlingende SA” sollte dies beschleunigen (Pyta/Orth, S. 56f.). Den Brief betreffende Folgerungen früherer Gutachter halten Pyta und Orth für „irrig” (Pyta/Orth, S. 58).

Der Vorwurf an die sozialdemokratische Presse führt zurück zum eingangs zitierten „Vorwärts“-Artikel, aus dem man, anders als aus dem Gutachten von Pyta und Orth, erfahren kann, dass Kronprinz Wilhelm die Straßenterror ausübenden Mitglieder von SA und SS 1932 für „wunderbare[s] Menschenmaterial“ hält, dem dort eine „wertvolle Erziehung“ zugutekomme.

Zur Frage nach der „Pressekampagne“ bietet sich der historische „Vorwärts“ als Quelle an. Bei der Suche zum Stichwort „Kronprinz Wilhelm“ etwa finden sich 94 Treffer. Eine vertiefte Analyse der sozialdemokratischen Zeitung kann auch dabei helfen, das Verhältnis der Sozialdemokratie zu der ehemaligen Herrscherfamilie eingehender zu beleuchten. Ein umfassender Vergleich der vier Gutachten scheint ebenso lohnenswert – unterscheiden sie sich doch sehr stark in ihrer Quellenkritik.

 

Weitere Lektüreempfehlungen:

Dokumentation des „Neo Magazins Royale” zum Thema inklusive der hier zitierten vier Gutachten unter: Hohenzollern.lol

Peter Brandt und Stephan Malinowski in Die ZEIT vom 14.11.2019: Wilhelm Prinz von Preußen: Ein Prinz im Widerstand?.

Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung vom 20.11.2019: Wilhelm hier und Wilhelm da.


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