Regierungen stehen in der Verantwortung, solchen traditionellen Vorstellungen von Geschlechterrollen durch eine geschlechtertransformierende Politik entgegenzuwirken. Die politischen Reaktionen auf COVID-19 in der gesamten Region haben jedoch gezeigt, dass die Regierungen diese Verantwortung noch nicht vollständig übernommen haben. In Jordanien zum Beispiel reagierten einige Institutionen des öffentlichen Sektors, wie das Finanzministerium, als die Regierung Mitte März 2020 die vorläufige Schließung der Schulen ankündigte, indem sie berufstätigen Müttern – aber nicht Vätern – erlaubten, zusätzlich bezahlten Urlaub zu nehmen, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Statt Maßnahmen zu ergreifen, die der so genannten „Mutterschaftsstrafe“ ⁵ entgegenwirken, bestätigen sie die patriarchalisch heteronormative geschlechtsspezifische Arbeitsteilung (d.h. das Modell des männlichen Ernährers und der weiblichen Sorgearbeiterin), die Frauen seit Jahrhunderten benachteiligt.
Darüber hinaus spielen die arabischen Staaten eine Schlüsselrolle in der globalen Versorgungskette und beschäftigen nach Angaben der ILO die größte Zahl von Hausangestellten mit Migrationshintergrund (3,16 Millionen im Jahr 2015), von denen die Mehrheit Frauen sind. Trotzdem hat kein Land in der MENA Region die ILO-Konvention Nr. 189 über menschenwürdige Arbeit für Hausangestellte ratifiziert, die darauf abzielt, die grundlegenden Rechte bei der Arbeit und ein Mindestmaß an sozialem Schutz zu gewährleisten. Aufgrund des COVID-19-Ausbruchs werden Arbeitsmigrant_innen derzeit von der ILO als besonders gefährdet eingestuft. Auf Hausangestellte in der Region trifft das aufgrund ihrer Beschäftigungsbedingungen im Rahmen des berüchtigten „Kafala“-Systems sogar in weit höherem Maße zu.⁶ Da ihre Mobilität derzeit viel stärker als gewöhnlich eingeschränkt ist, sind sie nahezu ausnahmslos unbegrenzten Arbeitszeiten unter ausbeuterischen Bedingungen ausgesetzt. Aufgrund unsicherer Verträge, die nicht Teil des nationalen Arbeitsrechts sind, sehen sich auch die Angehörigen dieser Arbeiter_innen zu Hause dem Risiko ausgesetzt, ihre finanzielle Sicherheit zu verlieren. Darüber hinaus sind für Hausangestellte, die ohne ihre Ausweispapiere vor den Übergriffen eines missbrauchenden Arbeitgebers geflohen sind, COVID-19-Tests unerreichbar. Im Libanon zum Beispiel weigerten sich die Behörden, COVID-19-Tests für Menschen ohne Papiere durchzuführen, oder sie verlangten 500 US-Dollar für einen Test, für viele unbezahlbar. Politische Antworten in Reaktion auf COVID-19 müssen daher die spezifischen Bedingungen und Realitäten dieser Arbeitskräfte betrachten und angemessen berücksichtigen.
Schon vor dem Ausbruch von COVID-19 steuerte die Welt eine Versorgungskrise zu, die u.a. durch eine alternde Bevölkerung, eine veränderte Familiendynamik, Kürzungen der Staatsausgaben für Pflegedienste und soziale Schutzmaßnahmen sowie wegen des Klimawandels⁷ hervorgerufen wurde. Durch die aktuelle Pandemie ist diese Versorgungskrise noch schwerwiegender als erwartet eingetroffen. Da Gesundheitssysteme weltweit überlastet sind, leiden die bezahlten Mitarbeiter_innen im Gesundheitswesen, von denen 70 Prozent Frauen sind, unter Personalmangel, langen Arbeitszeiten, Erschöpfung, und Überforderung. Ebenfalls sind sie hohen Gesundheitsrisiken ausgesetzt. In einem stark betroffenen Land wie Spanien zum Beispiel arbeiten 14 Prozent der Infizierten im Gesundheitswesen. Sollten noch mehr Länder in der MENA-Region von dem Virus betroffen sein, wird dieser Prozentsatz noch höher sein, da viele Länder schwächere Gesundheitssysteme als Spanien haben und aufgrund von Unterbrechungen in den globalen Lieferketten und geringer Kapazitäten für die Massenproduktion nur begrenzt persönliche Schutzausrüstung zur Verfügung steht. In einem Land wie Ägypten, in dem nur jeder zehnte Krankenpfleger ein Mann ist, kann eine große Zahl von Frauen im Gesundheitssektor gefährlichen Arbeitsbedingungen ausgesetzt sein, wenn keine angemessene Schutzausrüstung vorhanden ist. Hinzu kommt, dass die Gesundheitsrisiken für die Beschäftigten im Gesundheitswesen nicht nur physischer Natur sind. Studien über frühere Epidemien wie z.B. Ebola zeigen, dass Beschäftigte, die im Gesundheitswesen an vorderster Front kämpfen, auch anfällig für die Entwicklung psychischer Erkrankungen, wie z.B. posttraumatischer Belastungsstörungen, sind.
Feministinnen fordern seit Jahren größere Investitionen in Pflegesysteme. Es ist jetzt dringender denn je, nicht nur in die nationalen Pflegesysteme zu investieren, sondern zusätzlich dafür zu sorgen, dass die Rechte der bezahlten Pflegekräfte gestärkt und gewahrt werden. Es ist unbedingt erforderlich, die Bedeutung von Sorgearbeit für die Aufrechterhaltung funktionierender Gesellschaften und Volkswirtschaften endlich anzuerkennen, sie gerecht zwischen der Gemeinschaft, dem Staat und dem privaten Sektor umzuverteilen (wobei Staaten bei den Umverteilungsbemühungen die Führung übernehmen sollten) und ihr schließlich durch angemessene Bezahlung den Wert anzuerkennen, den sie verdient.