Brain Drain: Wenn Fachkräfte ihrem Land den Rücken kehren

Freizügigkeit ist eine der größten Errungenschaften der europäischen Integration – doch sie produziert auch Verlierer.

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Die Freizügigkeit innerhalb der EU ist eine der wohl am meisten gelobten Errungenschaften der europäischen Integration. Selbst EU-Kritiker geben zu: Durch Europa zu reisen, ohne den Pass vorzeigen zu müssen, grenzenlos sozusagen, ist einfach sehr bequem. Nur, was wenn die Freizügigkeit anders genutzt wird? Langfristiger? Was wenn immer mehr Menschen nicht einfach nur durch die EU reisen, sondern die Möglichkeit wahrnehmen, in einem anderen EU-Staat auch zu arbeiten?

Seit der Osterweiterung und der Wirtschaftskrise in Südeuropa ist genau diese Entwicklung zu beobachten. 2012 waren es bereits 176.244 Menschen, die ihre Koffer gepackt und Spanien verlassen haben - das entspricht ziemlich genau der Bevölkerung von Saarbrücken. Noch mehr Auswanderer hat nur Polen vorzuweisen. Dort waren es 2012 sogar 189.085. Welche sozialen, ökonomischen und politischen Folgen das mit sich bringt, ist völlig unklar. Die neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung “Brain Drain - Brain Gain. European Labour-Markets in Times of Crises” setzt genau dort an.

“Klar ist, die Arbeitnehmerfreizügigkeit kreiert nicht nur Gewinner, sondern bringt neben Vorteilen auch Nachteile mit sich”, stellt Alexander Schellinger, Koordinator der Studie, fest. Der so genannte “Brain Drain”, also die Abwanderung von qualifizierten Fachkräften aus Krisenländern in wirtschaftlich stärkere Länder, sei eine mögliche Konsequenz. “Die Ergebnisse der Studie zeigen aber, dass pauschale Beurteilungen ganzer Länder als Gewinner oder Verlierer dieser Entwicklung fehl am Platz sind”, warnt Schellinger. “Das Phänomen ist komplex. Für eine aussagekräftige Analyse darüber, wer profitiert und wer verliert, und vor allem in welcher Form, ist es deshalb zentral, die nationalen Besonderheiten miteinzubeziehen.”

Im Rahmen der Studie haben daher Wissenschaftler und Experten der Friedrich-Ebert-Stiftung sieben Länder - Deutschland, Großbritannien, Polen, Ungarn, Lettland, Spanien und Portugal - im Detail untersucht und teilweise überraschende Erkenntnisse gewonnen. So zeigen die Daten, dass Spanien vor allem deshalb Fachkräfte verliert, weil überwiegend Nicht-Spanier, die bis dahin in Spanien gelebt haben, ausgewandert sind. Verlorene Investitionen in Form von Bildungsausgaben, die typische negative Konsequenz eines “Brain Drain”, hat Spanien somit noch nicht in vollem Ausmaß zu beklagen. “Das ändert nichts daran, dass seit 2009 zunehmend mehr hochqualifizierte Arbeitskräfte aus Spanien in andere EU-Staaten ziehen, als andersherum zuziehen”, gibt Berta Moreno-Torres Sánchez zu bedenken. Die Autorin der Fallstudie Spanien vermutet, dass diese Entwicklung in Zukunft noch verstärkt wird, sollte sich die Arbeitssituation in Spanien nicht verbessern.

Viele dieser jungen Spanier ziehen nach Deutschland. Im Land des Fachkräftemangels werden sie dringend benötigt. “Insgesamt ist Deutschland das Land, das am meisten von der Einwanderung aus anderen EU-Staaten profitiert”, bilanziert Céline Teney von der Universität Bremen. Zwischen 2007 und 2013 hat sich die Zuwanderung aus der EU verdoppelt, wobei der Anteil der Hochqualifizierten unter den EU-Zugezogenen genauso hoch ist wie der Anteil der Hochqualifizierten in der deutschen Bevölkerung. “Deutschland kann also insgesamt als ‘Brain Gain’-Land bezeichnet werden”, so Teney. Betrachtet man jedoch einzelne Berufsgruppen, differenziert sich auch dieses Bild - zumindest ein wenig. So sind noch bis 2011 mehr Ärzte aus Deutschland ins EU-Ausland abgewandert, als von dort hinzugezogen sind.

“Die Studie zeigt deutlich, dass die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union auch eine Kehrseite hat. Die Entwicklung, die wir momentan beobachten, wird die Ungleichheit innerhalb der EU noch vergrößern”, befürchtet Studienkoordinator Alexander Schellinger. Für ihn ist klar: “Es liegt an den Akteuren auf der EU-Ebene, auch die negativen Auswirkungen der europäischen Integration zu thematisieren. Und es liegt an ihnen, EU-weite Lösungen zu finden, um die negativen Folgen so gering wie möglich zu halten.”

Die gesamte Studie in englischer Sprach finden Sie hier.


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