Vom Motor zur Bremse? Die EU und die Gleichstellung

Die Europäische Union war lange Antreiber einer Gleichstellungspolitik. Doch nun läuft die Gleichstellungsstrategie aus und an ihre Stelle tritt ein wenig verbindliches Papier. Ein fatales Zeichen.

Bild: Titel: Gender Profiling Urheber: Elefant Gun Studio Lizenz: Creativ Commons

70 Jahre. Siebzig! Jahre! So lange wird es bei gleichbleibender Entwicklung dauern, bis in Europa Geschlechtergleichstellung erreicht ist, stellte die Europäische Kommission 2014 fest. Frauen verdienen in Europa heute im Durchschnitt etwa 17% weniger als Männer, sie sind häufiger von Armut betroffen, bekleiden seltener Führungspositionen. Während sich in Deutschland der Anteil von Frauen in Führungspositionen langsam erhöht und ab 2016 auch gesetzlich auf 30% festgeschrieben ist, droht in der EU, zumindest bei der gesetzlichen Förderung von Frauen, Stillstand.

Gleichstellungspolitik ist Teil der Europäischen Idee. Von Beginn an.

Lange sah es so aus, als würde die Gleichstellungsstrategie ersatzlos auslaufen, nun liegt ein Vorschlag von Justizkommissarin Vĕra Jourová vor. Anders als zuvor handelt es sich dabei nicht um ein Strategiepapier mit höherer Verbindlichkeit, wie es viele politische Kräfte fordern. Allenfalls ein Arbeitspapier hat die Kommissarin vorgelegt. „Dies ist ein fatales Zeichen für die europäische Gleichstellungspolitik “, kommentiert Kristin Linke, die für die Friedrich-Ebert-Stiftung den Bereich EU-Gleichstellungspolitik betreut.

„Das wäre ein weiterer Schritt in die Bedeutungslosigkeit der EU-Gleichstellungspolitik“, sagt auch Irene Pimminger, die das sozialwissenschaftliche Forschungsinstituts defacto leitet und für die Friedrich-Ebert-Stiftung die Gleichstellungspolitik der EU analysiert hat („Sag beim Abschied leise Servus? Aktuelle Entwicklungen in der EU-Gleichstellungspolitik“). Tragisch sei das Fehlen einer Genderstrategie insbesondere angesichts der Rolle Europas in Fragen der Gleichstellungspolitik: Lange war die Staatengemeinschaft Treiberin in Sachen Gleichstellung. Schon in  den Gründungsverträgen der Europäischen Gemeinschaft von 1957 ist der Verbot der Lohndiskriminierung festgeschrieben.

Die EU hat seit den 90er Jahren wichtige gleichstellungspolitische Impulse initiiert: über finanzielle Mittel für konkrete Aktionen bis hin zu Richtlinien in ganz unterschiedlichen Politikbereichen. Als Ziel ist Gleichstellung auch in den zentralen europäischen Verträgen verankert, es fehlt aber zunehmend an politischem Willen, diesen Anspruch auch mit Leben zu füllen. „In den letzten Jahren hat die EU-Gleichstellungspolitik merklich an Sichtbarkeit und politischer Relevanz verloren“, sagt Irene Pimminger.

Schon im November 2015 hatten Vertreter der Zivilgesellschaft und Politik auf der Tagung „Es steht viel auf dem Spiel - Wohin geht die europäische Gleichstellungspolitik nach 2015“ vor einem Auslaufen der Gleichstellungsstrategie gewarnt. Aspekte der Gendergerechtigkeit drohten aus dem Fokus europäischer Politik zu geraten.

Es steht viel auf dem Spiel!

Nun hat die zuständige EU-Kommission zwar einen Vorschlag für ein Arbeitspapier für Geschlechtergerechtigkeit vorgelegt, doch ein adäquater Ersatz für das auslaufender Strategiepapier ist das nicht. Zu wage, zu unverbindlich, sagen viel Kritiker_innen. Dabei gäbe es noch viel zu tun. „Das Thema darf nicht in die zweite oder dritte Reihe rücken, sondern muss weiter als wichtiger Grundsatz dienen“, hatte Kurt Beck in seiner Eröffnungsrede der FES-Tagung gefordert. Beck wies dabei auch auf die gesamtpolitische Bedeutung der Genderstrategie hin - gerade aus sozialdemokratischer Sicht:  „Wir müssen Sorge haben um die europäische Gemeinsamkeit“, sagte Beck auch mit Blick auf die aktuelle Situation geflüchteter Menschen in Europa. „Wir lassen nicht zu, dass unsere Kultur der Gerechtigkeit, auf Frauen und Männer bezogen, aber ebenso gegenüber Menschen, die Hilfe bedürfen, an den Rand gedrängt werden.“ Beck wirbt um eine Verteidigung des bisher Erreichten. Aber mehr noch: „Wir müssen um den Fortschritt ringen“, sagte Beck. „Der Weg nach vorn ist der beste Weg, nicht nach hinten gedrängt zu werden.“

Als „gleichstellungspolitischen Offenbarungseid“ bezeichnete Elke Ferner, Parlamentarische Staatssekretärin im Bundesfamilienministerium, das Fehlen einer neuen Gleichstellungsstrategie in ihrem Beitrag: Gleichstellungspolitik sei auch moderne Gesellschaftspolitik und gerade angesichts rasanten gesellschaftlichen Wandels umso notwendiger.

Wie fortschrittliche Gleichstellungspolitik aussehen könnte, skizzierte hingegen ein schwedischer Podiumsgast: Pernilla Baralt, Staatssekretärin im schwedischen Familien- und Gleichstellungsministerium. Aus der schwedischen Erfahrung heraus plädierte sie für eine klare europäische Strategie für Gleichstellung, die ein „Thema höchster Priorität sein muss“.

Bislang weist nicht allzu viel darauf hin, dass die Europäische Kommission das ähnlich sieht: Damit würde die Europäische Union tatsächlich vom Motor der Geschlechtergleichstellung zur Bremse.

Linkliste:

Auf unserer Dialogplattform sagwas.de können Sie den Livestream der Veranstaltung sowie das genaue Programm sehen. 

Zur globalen Lage der Gleichstellung veröffentlicht das Weltwirtschaftsform jährlich einen Bericht.

Zum Gender Pay Gap in Europe hat auch die Europäische Kommission Informationen zusammengestellt.

IPG-Journal: Die EU braucht eine neue Gleichstellungsstrategie, Vodcast mit Elke Ferner, Staatssekretärin im Familienministerium


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