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Wird die von von der Leyen geführte Kommission auf die Bedürfnisse von Frauen eingehen?
Die Wahl von Ursula von der Leyen zur Präsidentin der Europäischen Kommission markiert für viele eine neue Etappe in der europäischen Politik - eine Etappe, die eine geschlechtergerechtere Politik anstrebt und damit auch sensibler für die Bedürfnisse von Frauen ist. So befassen sich einige der Vorhaben, denen sich von der Leyen im Vorfeld ihrer Wahl verpflichtet hat, speziell mit Fragen der anhaltenden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern in der EU. Das zeigt sich sowohl durch ihre Forderung nach verstärkten Maßnahmen zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen – ihre Vorlage beinhaltet dabei, dass diese Verbrechen klar als Straftat definiert werden in den EU-Verträgen - als auch durch ihre Beschäftigung mit Repräsentanz Fragen, wie dem Mangel an Frauen in Machtpositionen.
Von der Leyen hat überdies Versprechungen gemacht, die ihr die Unterstützung der Fraktion der Sozialisten und Demokraten (S&D) im Europäischen Parlament sichern sollen. Diese haben das Potenzial, das Leben von Frauen über "symbolische" Maßnahmen hinaus zu verbessern, indem sie sich mit dem bestehenden neoliberalen System und seinen Auswirkungen auf Frauen auseinandersetzen. Dazu gehören Vorschläge für substantielle Maßnahmen wie die Gewährleistung eines fairen Mindestlohns, eine Politik für Kinder, die in Armut leben oder von sozialer Ausgrenzung bedroht sind sowie die Konsolidierung der Unternehmenssteuerbemessungsgrundlagen der EU, um zu gewährleisten, dass die in der EU erzielten Gewinne zur Sicherung eines sozialen Sicherheitsnetzes beitragen.
Da Frauen und frauengeführte Haushalte in der EU eher in Armut leben oder von Armut bedroht sind, werden sie wahrscheinlich von Maßnahmen zur Stärkung des Sozialschutzes profitieren. Es bleibt abzuwarten, wie diese von der Europäischen Kommission unter Führung von der Leyen‘s umgesetzt werden, da diese Maßnahmen sicher auf den Widerstand der Regierungen der EU-Mitgliedstaaten stoßen werden.
Eine wachsende Opposition gegen die "Gender-Ideologie" im Europäischen Parlament
Das Ergebnis der Wahl zum Europäischen Parlament legt nahe, dass die Verabschiedung von EU-Rechtsvorschriften zur Förderung der Geschlechtergerechtigkeit eine schwierige Aufgabe sein wird. Erstens: Das Parlament ist heute stärker denn je fragmentiert, wobei sich neben der linken Konföderalen Fraktion der Vereinigten Europäischen Linken/Nordische Grüne Linke (GUE/NGL) auch zentristische Gruppen - die Mitte-Links-S&D und die Mitte-Rechts-Partei (Europäische Volkspartei, EVP) - als große Verlierer dieser Wahl herausstellen. Die Stimmenverluste dieser Gruppen sind Formationen zugutegekommen, die als außerhalb des politischen Mainstreams wahrgenommen werden: die Grünen, Macron’s Renaissance aber auch euroskeptische Parteien wie Orbans Fidesz, Kaczynskis Law and Justice und Farages Brexit-Partei und rechtsextreme Formationen wie Salvinis Lega und Le Pen's Rassemblement National.
Zweitens: Angesichts des erstarkten Auftritts, insbesondere der letztgenannten Parteien, beläuft sich die Präsenz der Europaabgeordneten, die sich gegen so unterschiedliche Themen wehren, wie Reproduktionsgesundheitund –rechte von Frauen, LGBTTIQ*-Rechte, Sexualerziehung und Prävention geschlechtsspezifischer Gewalt, die von ihren Gegner_innen gemeinsam als "Gender-Ideologie" bezeichnet werden, bei rund 30 %. Das ist eine Verdoppelung gegenüber dem vorangegangenen Halbjahr. Die neu gegründete Identity and Democracy (ID) sowie die Europäischen Konservativen und Reformisten (ECR), die jetzt von der polnischen Partei Recht und Gerechtigkeit dominiert werden, und einige Teile der EVP (rund 37,5 % ihrer Mitglieder, basierend auf früheren Abstimmungsergebnissen) werden höchstwahrscheinlich eine negative Rolle für die Herstellung von Geschlechtergerechtigkeit spielen. Ihre Mitglieder wenden sich unter anderem offen gegen Reproduktionsrechte von Frauen und die Anwendung internationaler Verträge wie das Übereinkommen des Europarates zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Dies ist äußerst beunruhigend, denn in einem fragmentierten EP könnte ein Bündnis von Abgeordneten der Brexit-Partei und ID- und ECR-Gruppen, die mehr als 170 Stimmen vertreten, die zweitgrößte Kraft nach der EVP sein. Zusammen mit den konservativen Gegner_innen von Geschlechtergerechtigkeit der EVP könnten sie eine starke Front gegen die angebliche „Bedrohung“ durch die "Geschlechterideologie" bilden.
Auf der Suche nach neuen Allianzen
Der Zusammenbruch der großen Koalition zwischen EVP und S&D wird sicherlich Folgen für die Förderung von Geschlechtergerechtigkeit haben. Es wird notwendig sein, neue Bündnisse und die Unterstützung kleinerer Gruppen wie der Grünen und der Renew Europe (ehemals die europäische Partei Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa, ALDE) zu suchen, um Mehrheiten zu erreichen.
Während die Grünen Wahlgewinne erzielt haben und sich stark für Geschlechtergerechtigkeit und die Förderung der Rechte von Frauen einsetzen, auch in Bezug auf die Umverteilung, wird ihr Wahlerfolg und ihre Repräsentation im EP schrumpfen, wenn die britischen Europaabgeordneten nach Brexit ausscheiden und die Fraktion von Platz vier auf Platz fünf im Parlament hinter die rechtsextreme ID herabgestuft wird.
Die drittgrößte Fraktion Renew Europe, welche auf Makrons Beharren nicht mit dem (Neo-)Liberalismus assoziiert zu werden, umbenannt wurde, wird angesichts der Betonung der individuellen Verantwortung und der Bedeutung der Marktwirtschaft in ihrem Manifest wahrscheinlich keinen sozialeren Ansatz für die EU-Politik verfolgen. Während die Fraktion ihre starke Unterstützung für die Rechte von Frauen erklärt, bezieht sich dies in erster Linie auf ihr Arbeitsmarkt und ihr wirtschaftliches Potenzial; und obwohl die Prävention von Gewalt gegen Frauen und die Bekämpfung von Einschränkungen der Reproduktionsrechte ausdrücklich erwähnt werden, bleibt abzuwarten, ob dies zu einer Unterstützung der Politik von RE führen wird, die sich mit den sozioökonomischen Wurzeln dieser Herausforderungen befasst.
Elena Zacharenkoist Politikwissenschaftlerin, Politiksachverständige und selbstständige Beraterin mit langjähriger Erfahrung bei der Beeinflussung der EU-Politik in den Bereichen Rechte und Entwicklung durch internationale gemeinnützige Organisationen. Ihre Schwerpunkte liegen auf den Themen Sexual- und Fortpflanzungsgesundheit und -rechte, Geschlechtergleichstellung und Frauenrechte. Sie hat eine Studie über die Mobilisierung gegen Abtreibung in Europa und ihren Einfluss auf die EU-Politik verfasst, die 2016 veröffentlicht wurde, sowie ein Kapitel über „Fortpflanzungsrechte als soziale Ungerechtigkeit in der EU“ in der Veröffentlichung der FES „The Future of the European Union: Feminist Perspectives from East-Central Europe”.