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29 Menschen unter einem Dach

Das gemeinschaftliche Hausprojekt „Klinge10“ in Leipzig ist für die Bewohner_innen eine Erfolgsgeschichte.

Wohnen | 2. Oktober 2024 | Reportage von Ronny Arnold | Alle Fotos von Michael Bader | Lesezeit: 7 Minuten

 

Wasser fließt immer bergab, auch in Leipzig. Weswegen die neue Regenrinne definitiv ein Gefälle braucht, da sind sich Kathrin Müller* und Fabian Koch sicher. Hat sie aber gerade noch nicht. Zumindest nicht um kurz nach 10 Uhr auf der schönen, aber noch unfertigen Dachterrasse der „Klinge10“. Es ist jetzt schon heiß, an diesem Wochenende im August 2024, dabei hat der Bautag gerade erst begonnen. Während Fabian prüfend die Wasserwaage anlegt, verteilt Kathrin (40) mit einer kleinen Schaufel den Sand unter der Rinne so, dass sie leicht schräg verläuft. Es sind nur wenige Meter, die angepasst werden müssen.

Doch die beiden kommen kaum voran, weil Romy Gröschner sie ständig unterbricht: „Neue Eimer!“, schallt es aus dem Treppenhaus neben der Terrassentür. Romy zieht die Eimer mit dem Flaschenzug hoch, sie sind randvoll mit grobem Kies und müssen direkt neben der Regenrinne verteilt werden. Denn das ist die eigentlich Baustelle, die am Ende des Tages verschwunden sein soll. Bis zu 100 neue Betonplatten, grau und schwer, wollen sie verlegen. Damit sie den schönen Ausblick hier oben, weit über den Leipziger Westen, auch auf festem Boden unter den Füßen genießen können.

Seit September 2023 leben sie zusammen in der „Klinge10“, 29 Erwachsene und Kinder. Der jüngste Bewohner ist knapp über ein Jahr alt, der Älteste 53 Jahre. Das gemeinschaftliche Hausprojekt im Leipziger Westen ist für die Stadt und vor allem die neuen Bewohner_innen eine Erfolgsgeschichte. Gerade in Zeiten von knappem Wohnraum und steigenden Mieten. Die Kernidee: Das Haus gehört keinem direkt, sondern nur denen, die darin wohnen. Es ist kein klassisches Eigentum, denn das Grundstück ist nur von der Stadt über viele Jahrzehnte gepachtet und das Haus gemeinsam erbaut. Jetzt geht es darum, den Alltag miteinander zu teilen und herauszufinden, wie man entspannt unter einem Dach zusammenleben kann. Und gemeinsam auch die letzten, noch verbliebenen kleineren Baustellen im Haus zu beseitigen.

 

Fabian Koch ist schon länger beim Hausprojekt „Klinge10“ dabei. „Das ist heute definitiv unsere Hauptaufgabe, dass wir hier oben endlich fertig werden“, erklärt der 30-Jährige. Eigentlich bräuchten sie dafür noch ein paar helfende Hände mehr. Aber noch ist Urlaubszeit, dazu das schöne Wetter, deshalb packen heute nur neun Hausbewohner_innen mit an. Obwohl auch im Treppenhaus noch ganz viel „Tohuwabohu und Chaos“ ist, sagt Fabian. „Egal, jetzt erstmal die Dachterrasse und dann sind wir froh, wenn das endlich vorbei ist.

Kathrin hat wieder die Schaufel in der Hand. Die 40-Jährige ist eine der letzten, die mit ihrer Familie zum Leipziger Hausprojekt dazugestoßen ist. Das war im März 2023, bereits ein halbes Jahr später sind sie alle nach und nach eingezogen. „Da ist eine Familie aus dem Projekt ausgestiegen. Mein Partner und ich waren schon länger in Kontakt mit der Klinge10, weil das eine Wohnform ist, die wir uns schon lange gewünscht haben“, erzählt sie. Glück hätten sie gehabt, der Zeitpunkt ideal, weil ihre alte Wohnung zu klein wurde und die beiden kleinen Kinder nun mehr Platz haben. 

Gemeinschaftsküche auf jeder Etage

Die „Klinge10“ ist eine Art moderner Wohnwürfel aus Beton, mit Holzfassade und kleinem Garten. Im Inneren ist es kein klassisches Wohnhaus. Niemand lebt hier abgeschottet in den eigenen vier Wänden. Vielmehr hat jede Etage eine Gemeinschaftsküche, von der aus auch private Räume abgehen. Kathrin ist auch nach fast einem Jahr, in dem sie nun alle zusammen hier wohnen, begeistert. „Es ist schon nah dran an dem, wie ich es mir gedacht habe, wie so ein gemeinschaftliches Wohnen ist.“ Eben mit allen Vor- und Nachteilen, da will sie ehrlich sein, es habe schon etwas Zeit gebraucht. „Am Anfang war es neu, weil ja alle aus diesem Familienwohnen kommen. Aber ich habe das Gefühl, das wird jetzt immer flüssiger. Wir kümmern uns gegenseitig mal um die Kinder, springen ein und ab und zu wird in der WG auch zusammen gekocht.“ Absolut positiv sei das und ganz nah dran an ihrem Wunsch nach einem echten Wohnprojekt.

16 Erwachsene und 13 Kinder leben jetzt hier zusammen im Leipziger Westen, Marcus Herget etwa mit seinen drei Kindern. Der 49-Jährige war einer der ersten, der sich 2017 mit der Ausschreibung der Stadt Leipzig beschäftigt hat. 

Erbpachtvertrag über 99 Jahre

Wenig später haben sie das Gelände dann tatsächlich bekommen, 490 Quadratmeter groß, dazu einen Erbpachtvertrag über 99 Jahre. Seitdem ist die Gruppe stetig gewachsen, hat über Jahre den Bau geplant, wöchentlich im Plenum besprochen, wie das Haus aussehen soll und wie sie hier leben wollen. Marcus‘ Gedanke damals: Das wäre was, mit vielen netten, engagierten Menschen zusammen unter einem Dach zu leben. 

Hat sich sein Traum erfüllt? Marcus stellt den Kieseimer ab, den er gerade durch den Hinterhof trägt und überlegt kurz. „Funktioniert super, sehr schön“, sagt er dann mit einem leichten Schmunzeln um die Mundwinkel. Dann gesteht er: „Es ist auf jeden Fall anders, so viel steht fest, das war für mich ein Risiko. Ich komme eben auch aus dem klassischen Wohnen, zuletzt hab ich als Student vor 25 Jahren in einer WG gewohnt.“

Wohnraum zu teilen, heißt auch: Rücksicht nehmen

Herausfordernd sei nun, mit allen anderen gut klarzukommen, nicht alle Räume immer allein nutzen zu können, am Küchentisch auch mal in Gesellschaft zu sitzen, obwohl man gerade vielleicht eher seine Ruhe haben will. „Es hat seine Zeit gebraucht, aber ich möchte es nicht mehr missen. Ist gut, geht gut auf, wir teilen viel und da müssen wir eben immer wieder ins Gespräch kommen. Aber wir haben eine echt gute Stimmung!“ Aus Marcus' Schmunzeln ist ein breites Lächeln geworden.

Baukosten stark gestiegen: Kein Fahrstuhl

Gute Stimmung herrscht auch beim Bautag, trotz schweißtreibendem Kies- und Betonplatten- Schleppen. Die Mittagssonne brennt jetzt auf die Terrasse. Direkt nebenan im Treppenhaus, wo eigentlich ein Fahrstuhl die Etagen verbinden sollte, steht Romy immer noch am Flaschenzug und zieht eimerweise Kies hoch in die 4. Etage. Der Schacht sei ein Indiz dafür, sagt sie, dass die Baukosten in den letzten Jahren stetig gestiegen sind.

Deshalb habe man erst einmal darauf verzicht. „Wir mussten eben etwas sparen. Aber wenn wir später einen Fahrstuhl brauchen, weil ein Mitbewohner-Mensch auf den angewiesen ist, dann wird der definitiv gebaut. Aber die Wartung ist richtig teuer und der Fahrstuhl selbst auch.“ Zusätzlich hätten sie auch gern eine Solar-Anlage auf dem Dach, aber die muss aus Kostengründen ebenfalls warten. „Wir brauchen da erstmal eine größere finanzielle Stabilität, dann können wir das umsetzen. Aber das heißt nicht, dass wir das alles nie machen werden. Nur eben nicht gleich jetzt. Und der Rest ist auch echt so gebaut worden, wie wir es wollten und von Anfang an geplant haben.“

Aktuell liegen die laufenden Hauskosten der „Klinge10“ bei monatlich 8,50 Euro kalt pro Quadratmeter. Das ist für Leipzig nicht billig, aber für ihr angesagtes Viertel im Leipziger Westen eher unterer Durchschnitt. Ihr Vorteil: Diese laufenden Grundkosten bleiben relativ konstant, über viele Jahre. Am Ende sei es ein Euro mehr auf den Quadratmeter geworden als ursprünglich geplant, erzählt Hauke, der im Erdgeschoss den Flaschenzug mit vollen Eimern versorgt.

Niemand kann hier wegen Eigenbedarfs kündigen

Hauke Altmann ist wie Marcus von Anfang an dabei. Das sei „machbar, vor allem, wenn man die vielen Vorteile sieht“, meint der 50-jährige. Alle hier können jetzt sicher und beruhigt hier wohnen, ohne zu befürchten, irgendwann rausgeklagt zu werden oder die Miete so weit erhöht zu bekommen, dass sie es sich nicht mehr leisten können. „Ich hab lange in Berlin gelebt und mitbekommen, wie Arbeitskollegin von mir, die ganz normal arbeiten, sich das Wohnen in attraktiven Gegenden in Berlin nicht mehr leisten konnten. Die mussten an den Stadtrand ziehen, so etwas will ich auf keinen Fall!“ Hauke merkt auch, dass die Mieten in Leipzig anziehen. Und auch, „dass Leute ihre Wohnung verlassen müssen, weil zum Beispiel auf Eigenbedarf geklagt wird.“ So etwas könne ihnen hier zum Glück nicht passieren, freut er sich.

Mehrkosten von fast einer Million Euro

Apropos Glück. Das scheinen sie mit der „Klinge10“ am Ende auf jeden Fall zu haben. Trotz Mehrkosten von fast einer Million Euro. Eine stolze Summe, wenn man bedenkt, dass anfangs insgesamt 1,6 Millionen Euro an Baukosten eingeplant waren. „Wir haben natürlich gemerkt, dass wir in einer Krisenzeit gebaut haben, die letzten beiden Jahre mit hohen Materialpreisen und vielen Schwierigkeiten, überhaupt Handwerker zu finden. Und trotzdem haben wir großes Glück gehabt!“ Denn der große Zinsanstieg habe den Bankkredit praktisch nicht mehr betroffen. Wäre der Kredit geplatzt, so Hauke, „wäre das Projekt wahrscheinlich gar nicht realisierbar gewesen. Deshalb bin ich sehr dankbar, dass wir es geschafft haben.“

Geschafft ist später auch die Dachterrasse. Zumindest fast, denn ganz fertig geworden sind sie bei dieser Hitze am Nachmittag nicht. Ein paar Betonplatten fehlen noch, aber die Rinne, die hat jetzt ein kleines Gefälle. Zufriedene Gesichter ringsum. Und alles kein Problem, denn der nächste Bautag ist schon in Planung.

* Name geändert

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© 2024 FES/ Michael Bader

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