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Mitbestimmung | 21. März 2024 | Bericht von Simone Schnase | Lesezeit: 3 Minuten
Der „Schwarze Donnerstag“ ist nicht nur in die Stadtgeschichte Stuttgarts eingegangen, die Bilder jenes 30. Septembers 2010 haben bundesweit und sogar im Ausland für Empörung gesorgt. Damals wurden durch einen Polizeieinsatz im Stuttgarter Schlossgarten mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken mehr als einhundert Demonstrant_innen teils schwer verletzt. Sie gehörten zu tausenden Menschen, die gegen den Bau des Tiefbahnhofs Stuttgart 21 protestierten.
Seit Beginn der Planungen im Jahr 1996 gab es Proteste gegen das Projekt: wegen der hohen Kosten und planerischen Mängel, aber auch wegen der in den Augen der Kritiker_innen fehlenden demokratischen Legitimation und Bürgerbeteiligung. Bundesweite Aufmerksamkeit erlangte die Protestbewegung dann 2010 durch Großdemonstrationen mit mehreren zehntausend Teilnehmer_innen, die schließlich im „Schwarzen Donnerstag“ eskalierten. Der später vom Stuttgarter Verwaltungsgericht für rechtswidrig erklärte Polizeieinsatz führte zum Rücktritt des damaligen Ministerpräsidenten Stefan Mappus (CDU) und, nach mehr als 50 Jahren CDU-Regierung in Baden Württemberg, zum historischen Wahlsieg der Grünen unter Winfried Kretschmann.
Zum Sieg verholfen hat ihm vor allem sein Leitmotiv eines neuen Politikstils in Baden-Württemberg: Die „Politik des Gehörtwerdens“, bei der Bürger_innen stärker und früher in Entscheidungen einbezogen werden sollten. So vereinbarten Grüne und SPD in ihrem Koalitionsvertrag nach der Landtagswahl im März 2011 eine Volksabstimmung über das Projekt Stuttgart 21 – bei der sich eine Mehrheit der Baden-Württemberger_innen für den Weiterbau des Bahnhofs aussprach. Aber nicht nur die stärkere Nutzung bereits vorhandener Beteiligungsmöglichkeiten, sondern auch die Schaffung neuer Instrumente zur Einbindung der Bürger_innen war Ziel der neuen Landesregierung. Mit dieser Aufgabe beauftragt wurde die Grünen-Politikerin Gisela Erler als Baden-Württembergs erste Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung.
Dass es dieses Amt überhaupt gibt, ist einer Besonderheit in der Landesverfassung zu verdanken. Denn sie gewährt dem Ministerpräsidenten die Möglichkeit, außerhalb der „üblichen“ Fachministerien einen Staatsrat für den jeweiligen Schwerpunkt seiner Politik zu benennen. Diese Staatsrät_innen sind zwar ehrenamtlich tätig, haben aber dennoch gleichberechtigt Sitz und Stimme im Kabinett und gelten laut Art. 45 Abs. 2 der Verfassung Baden-Württembergs als „weitere Mitglieder der Regierung“. Unter anderem gab es Staatsrät_innen für Lebenswissenschaften, für Demografischen Wandel und Senioren oder für interkulturellen und interreligiösen Dialog sowie gesellschaftliche Werteentwicklung. Und nun ist nach Gisela Erler bereits die zweite Staatsrätin für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung Teil der Landesregierung: Im Juli 2021 wurde die parteilose Barbara Bosch zu ihrer Nachfolgerin berufen.
Bosch hat, genauso wie ihre Vorgängerin, die Aufgabe, die Bürgerbeteiligung im Land auszubauen und die Zivilgesellschaft zu stärken. Ein „Beirat für Zivilgesellschaft und Bürgerbeteiligung“, bestehend aus Vertreter_innen von Verbänden, Organisationen und Stiftungen sowie aus Wissenschaft und Verwaltung unterstützt die Staatsrätin bei ihrer Arbeit. Für die ehemalige Kommunalpolitikerin – Bosch war von 2003 bis 2019 Oberbürgermeisterin der Stadt Reutlingen – ist die „dialogische Bürgerbeteiligung“ das wichtigste Instrument, um auch jenen Bürger_innen Gehör zu verschaffen, die sie „die Leisen“ nennt: „Die öffentlichen Debatten werden häufig von wenigen, aber sehr lauten Stimmen geprägt, was auch daran liegt, dass die sozialen Medien Echokammern der Lauten sind“, sagt sie. „Die Leisen werden hingegen kaum gehört.“
Auf der Internetseite „Beteiligungsportal Baden-Württemberg“ können nicht nur Gesetzesentwürfe und Vorhaben der Landesregierung kommentiert und Vorschläge unterbreitet werden. Hier kann auch mit Hilfe aller Bürger_innen ein späteres Bürgerforum vorbereitet werden – so wird in Baden-Württemberg auf Landesebene jenes Beteiligungsformat genannt, das andernorts unter dem Namen „Bürgerrat“ bekannt ist.
Bürgerforen werden mit Menschen besetzt, die über das Einwohnermeldeamt repräsentativ ausgewählt und angeschrieben und später per Losverfahren zusammengestellt wurden. „Auf diese Weise werden auch mehr Frauen, Menschen mit Migrationshintergrund oder mit unterschiedlichen Bildungshintergründen beteiligt, die sonst unterrepräsentiert wären“, sagt Bosch.
Ein Bürgerforum gab es zum Beispiel im vergangenen Jahr zum Thema G8/G9, bei dem über die Dauer des allgemeinbildenden Gymnasiums debattiert wurde: „Wir haben zu diesem Thema Stakeholder wie zum Beispiel Wirtschafts- und Lehrerverbände eingeladen und gemeinsam mit ihnen eine Themenlandkarte erarbeitet, die im Beteiligungsportal veröffentlicht wurde“, erklärt Bosch das Prozedere. „Diese Themenlandschaft konnte dort von allen Menschen kommentiert und ergänzt werden.“ Anschließend hat das zuvor ausgeloste Bürgerforum die Themenlandkarte in mehreren Sitzungen unter Beteiligung eines Moderators diskutiert und abgearbeitet und die Ergebnisse sowohl im Beteiligungsportal veröffentlicht als auch an die Staatsrätin übergeben. Weitere Bürgerforen haben sich mit der Sanierung der Stuttgarter Oper, der Corona-Politik oder mit dem Thema „Krisenfeste Gesellschaft“ auseinandergesetzt, um so die Arbeit der gleichnamigen Enquetekommission, bestehend aus Vertreter_innen des Landtags sowie externen Sachverständigen, zu unterstützen.
Bei den Ergebnissen eines Bürgerforums handelt es sich lediglich um Empfehlungen, die im Landtag als Grundlage für die weitere Debatte dienen, aber, so Barbara Bosch: „Die dialogische Bürgerbeteiligung stärkt die Meinungsbildung und trägt zur politischen Bildung bei. Sie hilft, kontroverse Debatten zu versachlichen. Durch dieses Verfahren wird die repräsentative Demokratie gestärkt und die Menschen fühlen sich gehört – selbst wenn Empfehlungen abgelehnt werden.“
Das Konzept scheint in der Tat aufzugehen: Laut einer Studie der Stuttgarter Universität Hohenheim aus dem Jahr 2022 ist die Demokratie-Zufriedenheit der Menschen in Baden-Württemberg höher als in den anderen Bundesländern. Bürgerentscheide ohne vorgeschalteten Dialog, deren Ergebnisse bindend sind, hält Bosch „gerade bei vielschichtigen Themen oft für unterkomplex, weil es hier nur um ein Ja oder Nein geht“. Bei der dialogischen Beteiligung gehe es hingegen um das Finden tragfähiger Lösungen und um Kompromisse.
Mit dem „Gesetz über die Dialogische Bürgerbeteiligung“ hat Baden-Württemberg als bislang einziges Bundesland im Jahr 2021 eine rechtliche Regelung über informelle Bürgerbeteiligung geschaffen. Das Gesetz erlaubt den Kommunen und weiteren staatlichen Stellen, die Meldedaten zu nutzen, um Menschen zufällig auszuwählen und für eine dialogische Bürgerbeteiligung einzuladen. 2022 wurde dann die „Servicestelle Bürgerbeteiligung“ gegründet: „Sie unterstützt Kommunen und andere Behörden dabei, Bürgerbeteiligung durchzuführen. Beispielsweise kleinere Gemeinden, die oft nicht die Kapazitäten für solche aufwendigen Prozesse wie die Durchführung eines Bürgerforums haben, finden hier Hilfe“, sagt Bosch. Und im vergangenen Jahr wurde das Beteiligungsformat weiter ausgebaut: Zweimal im Jahr sollen nun rund 50 Bürger_innen Foren bilden, um über Themen aus landespolitischer Sicht zu diskutieren und Empfehlungen abzugeben.
Diese „Politik des Gehörtwerdens“ findet unterdessen Nachahmer. So heißt es im Koalitionsvertrag der Ampel-Regierung: „Die Bundesregierung verstärkt ihre Kompetenz zur Unterstützung dialogischer Bürgerbeteiligungsverfahren“. Am 20. Februar 2024 hat der erste Bürgerrat des Deutschen Bundestages zum Thema „Ernährung im Wandel“ (XXXCorinna, bitte zum 3. Artikel Bürgerrat bundesweit von Hanna Fath verlinken, Text folgt am 19.3.) seine Ergebnisse in Form eines Bürgergutachtens an Bundestagspräsidentin Bärbel Bas überreicht. Damit beginnt nun die parlamentarische Arbeit an den Vorschlägen der Bürger_innen.
Barbara Bosch freut das sehr und sie appelliert gerade angesichts der wachsenden Politikverdrossenheit und des Erstarkens undemokratischer Kräfte im Land, Bürgerbeteiligung flächendeckend zu etablieren und zu stärken: „Wenn ein Thema konkret und kontrovers ist, dann sollte der Mut und die Offenheit da sein, es in der Breite der Gesellschaft zu platzieren“, sagt sie.
„Ernährung im Wandel“ heißt der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat, in dem ausgewählte Bürger_innen ernährungspolitische Vorschläge erarbeiteten. Eine neue Form der Beteiligung.
Das Modellprojekt LOSLAND hat Bürgerräte in bundesweit zehn Kommunen initiiert. Auch Ludwigsfelde in Brandenburg setzt auf die Mitsprache seiner Bürger_innen.
Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn die Verwaltung die Menschen beteiligt. Leonberg setzt auf Transparenz.
Martin Cohn will die baden-württembergische Autostadt Leonberg klima- und sozialverträglich umgestalten. Er erklärt, warum die Kommune dabei auf massive Bürgerbeteiligung setzt.