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Mitreden in der Bundespolitik

„Ernährung im Wandel“ heißt der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat, in dem ausgewählte Bürger_innen ernährungspolitische Vorschläge erarbeiteten. Eine neue Form der Beteiligung.

Mitbestimmung  | 21. März 2024  |   Bericht von Hanna Fath  |   Lesezeit: 3 Minuten

Wie viel darf das Schnitzel kosten? Warum landen jährlich elf Millionen Lebensmittel in der Tonne? Wie blickt man durch vor lauter Siegeln auf der Käseverpackung? Nicht erst seitdem die Bauernproteste die Lebensmittelproduktion in Deutschland auf die politische Tagesordnung gesetzt haben, ist Ernährung Anlass für Auseinandersetzungen. Jetzt hat der erste vom Deutschen Bundestag eingesetzte  Bürgerrat Ratschläge zu diesem Thema für die Politik erarbeitet.

Gesellschaftliche Vielfalt widerspiegeln

Initiiert wurde der Bürgerrat „Ernährung im Wandel: Zwischen Privatangelegenheit und staatlichen Aufgaben“ von der Ampelregierung, durchgeführt hat ihn der Verein Mehr Demokratie e.V. Anders als im Bundestag sind die Mitglieder im Bürgerrat jedoch weder gewählt, noch haben sie sich auf ihr Amt beworben. Die Teilnehmenden wurden bundesweit aus allen Einwohner_innen ab 16 Jahren ausgelost. Der Bürgerrat soll die gesellschaftliche Vielfalt möglichst gut widerspiegeln und auch solche Stimmen sichtbar machen, die sonst in der politischen Diskussion weniger präsent sind. Denn laut einer  Umfrage der Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist mehr als die Hälfte der Bürger_innen in Deutschland unzufrieden mit dem Funktionieren der Demokratie. „Dabei sind es insbesondere sozial schlechter gestellte Menschen und diejenigen mit Zukunftssorgen, die sich nicht vertreten fühlen und das Vertrauen in Institutionen, Akteure und Ergebnisse demokratischen Politik verlieren“, diagnostizieren Brigitte Geißel und Stefan Jung in der FES-Studie „Mehr Mitsprache wagen. Ein Beteiligungsrat für die Bundesrepublik“.

„Wie ein Sechser im Lotto“

Für den ernährungspolitischen Bürgerrat wurden die 160 Teilnehmer_innen in einem mehrstufigen Verfahren per Zufallsauswahl ermittelt. Ein Algorithmus sorgte dafür, dass sie bezüglich Alter, Geschlecht, Herkunft (Bundesland und Gemeindegröße) und Bildungshintergrund so zusammengesetzt wurden, dass möglichst genau die jeweiligen Anteile an der Bevölkerung in Deutschland abgebildet wurden. Außerdem wurde sichergestellt, dass der Bürgerrat auch der Verteilung der sich vegetarisch oder vegan ernährenden Personen an der Bevölkerung entsprach. Claudine Nierth, Bundesvorstandssprecherin von Mehr Demokratie: „Die meisten Bürgerräte empfanden das Los wie einen Sechser im Lotto und würden sich jederzeit wieder in einen Bürgerrat einladen lassen. Außerdem haben sie festgestellt, wie schwierig es ist, sich politisch auf die besten Lösungen zu einigen. Einige wollen sich künftig politisch weiter engagieren, in ihren Gemeinden oder in der Parteipolitik.“

Zum ersten Mal kamen die 160 Bürger_innen Ende September 2023 zusammen. Darauf folgten zwei weitere Wochenenden in Berlin und insgesamt sechs Online-Sitzungen zur vertieften Diskussion und Zusammenstellung der Empfehlungen in einem Bürgergutachten. Vorher hatten die Bundestagsabgeordneten dem Bürgerrat einige Fragen mit auf den Weg gegeben, beispielsweise „Wie können die Bürger_innen bei Kaufentscheidungen im Hinblick auf eine gesunde Ernährung besser unterstützt werden?“

Grundfragen umfassend diskutieren

Bürgerräte als Format demokratischer Innovationen folgen dem Leitgedanken der deliberativen Partizipation. Unter Deliberation versteht man den interaktiven Austausch und das kollektive Abwägen von Argumenten in Hinblick auf eine konkrete Frage. In der aktuellen Studie „Demokratievertrauen in Krisenzeiten“ der Friedrich-Ebert-Stiftung befürworten etwa 68 Prozent der Befragten den Vorschlag, dass Gruppen zufällig ausgeloster Bürger_innen gesellschaftliche Grundfragen diskutieren und dem Bundestag dazu Vorschläge machen können. Eine Chance für deliberative Verfahren, in denen die Meinungs- und Positionsbildung ihrem Anspruch entsprechend vor allem durch Argumentieren, Informationsverarbeitung und Lernprozesse zustande kommt.

Gemeinwohl im Mittelpunkt

Im Falle des Bürgerrats „Ernährung im Wandel“ stand am Ende dieses Lernprozesses eine Liste aus neun Empfehlungen, die die Teilnehmer_innen im Februar 2024 dem Bundestag und der Bundestagspräsidentin Bärbel Bas übergaben. Zu den Vorschlägen gehört ein kostenfreies Mittagessen für alle Kinder in Schulen und Kitas, ein neuer Steuerkurs für Lebensmittel, der die Definition von Grundnahrungsmitteln reformiert, eine Altersgrenze für Energydrinks und eine Verbrauchsabgabe zugunsten des Tierwohls. „Die Bürgerräte haben mit ihren Empfehlungen bewiesen, dass es ihnen nicht um ihren persönlichen Vorteil ging, sondern um das Gemeinwohl“, erklärt Nierth.

Kontroverse Debatte im Bundestag

Bevor diese Empfehlungen in den Ausschüssen des Bundestags weiter erörtert werden, fanden sie am 14. März bereits Einzug in die Debatte im Plenum. Dabei wurden nicht nur die konkreten Vorschläge, sondern auch die grundsätzliche Frage der Legitimität und Notwendigkeit des Bürgerrats kontrovers diskutiert. Kritiker_innen bemängeln unter anderem seine fehlende demokratische Legitimation, eine indirekte Abwertung organisierter Interessen und die Repräsentativität. Denn in der Praxis sei eine inklusive Zusammensetzung gerade in Hinblick auf den Bildungsgrad der Teilnehmenden nur schwer umsetzbar. Nicht zuletzt berge das Instrument aus Sicht der Teilnehmenden die Gefahr enttäuscht zu werden, sollten vom Bürgerrat vorgelegte Vorschläge nicht berücksichtigt werden. „Die Kritik der Politik an Bürgerräten macht vor allem deutlich, dass die Politik den Wert von Bürgerräten für sich noch nicht erkennt“, entgegnet Claudine Nierth. „Wer Bürgerräte als eine Gefahr für den Parlamentarismus sieht, überhöht die Wirkung von Bürgerräten, denn auch das Hinzuziehen von Beratungskommissionen nützt und schadet nicht dem Parlament.“

Bürger_innen als Teil der Lösung

Bürgerräte wollen dazu beitragen, die wahrgenommene Kluft zwischen der politischen Sphäre und den durchschnittlichen Bürger_innen zu verkleinern, fasst die FES-Studie „Bürgerräte. Neue Wege zur Demokratisierung der Demokratie“ zusammen. Das Verfahren der Bürgerräte folge einer Logik, die sich von den in der repräsentativen Demokratie dominanten einfluss- und wettbewerbsorientierten Mustern unterscheidet. Bürgerräte seien zugleich aber kein Ersatz für demokratisch gewählte Politiker_innen und ihre Parteien sowie die Institutionen der repräsentativen Demokratie. Sie könnten die parlamentarischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse durch direkte Mitsprachemöglichkeiten bei konkreten Sachfragen ergänzen, damit bürgernäher machen und die öffentliche Willensbildung fördern.

In seiner Studie „Demokratie in der Krise. Ein Weckruf zur Erneuerung im Angesicht der Pandemie“ forderte der Philosoph Julian Nida-Rümelin 2021 langfristige Visionen und mehr Beteiligung der Bürger_innen: „Eine Demokratie kann es sich nicht erlauben, größere Minderheiten in Fundamentalopposition, Resignation oder Wut abdriften zu lassen. Wenn solche Entwicklungen mit einem massiven Rationalitätsverlust einhergehen, ist die Demokratie gefährdet.“

Claudine Nierth sieht in der Beteiligungsform Bürgerräte viel Potential auf dem Weg zur sozial-ökologischen Transformation: „Je größer die politischen Herausforderungen und Reformen sind, desto mehr sollten künftig die Bürger miteinbezogen werden. Das gilt für alle politischen Ebenen. Je mehr die Bürger merken, dass sie Teil der Lösung und nicht nur Teil des Problems werden können, desto mehr wächst auch die Akzeptanz und Bereitschaft große Veränderungen mitzutragen.“ Diese Bereitschaft für große Veränderungen braucht es nicht nur, wenn es um das Essen geht.

Empfehlungen auch für die Verkehrspolitik

Analog zum ernährungspolitischen Bürgerrat diskutierten im Bürgerrat „Gemeinsame Verkehrswende in Stadt und Land“ 50 Bürger_innen aus ganz Deutschland zwischen Mitte Januar und Mitte Februar 2024 zu der Frage „Wie kann die Verkehrswende auf dem Land und in der Stadt gemeinsam gelingen?“ und erarbeiten zusammen Empfehlungen. On-Demand-Verkehr, also Mobilitätsangebote auf Bestellung, sollen die ländlichen Regionen erschließen, die nicht gut an den Öffentlichen Nahverkehr angeschlossen sind. Parallel dazu plädiert der Bürgerrat aber auch für eine flächendeckende, sichere Fahrradinfrastruktur und will den städtischen Raum zugunsten von Radfahrenden, Fußgängern und öffentlichem Nahverkehr neu ordnen. In einem Bürgergutachten werden die Ergebnisse des Bürgerrats zusammengefasst. Im Mai wird dieses Gutachten an das Bundesministerium für Bildung und Forschung übergeben und mit Vertreter_innen von Kommunen diskutiert.

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