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Mitbestimmung | 12. Februar 2024 | Bericht von Simone Schnase | Lesezeit: 3 Minuten
Gerade die als besonders autofreundlich deklarierten Städte stehen bei der Mobilitätswende vor großen Herausforderungen. Denn einerseits ist hier der Umgestaltungsbedarf besonders groß – andererseits die Akzeptanz für Veränderungen oftmals klein. Die westlich von Stuttgart gelegene Stadt Leonberg setzt auf das Prinzip Bürgerbeteiligung.
Seit den siebziger Jahren trägt Leonberg den Stempel „Autostadt“, denn sie ist nicht nur von den beiden Autobahnen A8 und A81 umgeben: Mitten in der Stadt zwischen Altstadt und der Stadtmitte fließt der Verkehr überdies teilweise sogar zweispurig in jede Richtung – überdimensioniert für eine Stadt mit 50.000-Einwohner_innen und prädestiniert dafür, als Ausweichroute herzuhalten, wenn wieder einmal Stau auf einer der Autobahnen ist. Die Aufenthaltsqualität ist gering, Fußgänger_innen und Radfahrende haben es schwer.
Trotzdem standen viele Menschen in Leonberg dem Vorhaben skeptisch gegenüber, die Verkehrsflächen neu zu verteilen: „Der Mensch ist ein Gewohnheitstier“ sagt dazu Leonbergs Oberbürgermeister Martin Cohn (SPD) im VORAN-Interview. Er weiß, wovon er spricht, denn bevor er 2017 in Leonberg sein Amt antrat, trieb er die Verkehrswende bereits als Bürgermeister des 50 Kilometer entfernten 11.000-Einwohner_innen-Städtchen Rudersberg voran: Die viel befahrene Ortsdurchfahrt wurde dort verkehrsberuhigt und ein „Shared-Space“-Konzept umgesetzt. Dafür errang die Gemeinde im Jahr 2016 den zweiten Platz beim Deutschen Verkehrsplanungspreis. Aus seiner Erfahrung in Rudersberg wusste Cohn: Eine Mobilitätswende muss immer auch in den Köpfen der Menschen stattfinden und das gelingt nur, wenn man sie beteiligt und ihnen ihre Ängste und Vorbehalte nimmt.
Letzteres geschah in Leonberg durch einen sechsmonatigen Verkehrsversuch. Nachdem im Jahr 2021 der Gemeinderat einen Grundsatzbeschluss zur „Stadt für morgen“ gefasst hatte, wurden testweise an zwei zentralen Durchfahrtsstraßen zwei Fahrspuren pro Richtung nur noch für Busse und Radverkehr freigegeben. Resultat nach einem halben Jahr: Der von vielen befürchtete Verkehrskollaps blieb aus, durch den Versuch wurde den Menschen konkret vor Augen geführt, dass Maßnahmen zur Verkehrsberuhigung nicht zu Verlagerungen oder Problemen im Verkehrsablauf führen, sondern sich die Verkehrsbelastung insgesamt reduziert.
Mit großer und kontinuierlicher Beteiligung von Bürger_innen wurde dann die Planung für eine Neuordnung des Leonberger Verkehrs- und Stadtraums eingeleitet. So konnten die Einwohner_innen im Rahmen einer ersten Perspektivenwerkstatt im Herbst 2022 ihre Wünsche, Ideen und Visionen für ihre „Stadt von morgen“ einbringen, in einer späteren Veranstaltung wurden Verteter_innen von Handel und Gewerbe beteiligt und in einer öffentlichen Sondersitzung des Gemeinderates sämtliche Ergebnisse präsentiert und gemeinsam diskutiert.
Die Pläne, die vom Land Baden-Württemberg auch bereits Förderzusagen erhalten haben, wurden auf Grundlage der Perspektivenwerkstatt erarbeitet. Wünsche und Ideen der Bürger_innen wurden hier eingebracht, darunter etwa durchgängige Fahrradwege in der Eltinger Straße und mehr Platz für Fußgänger_innen mit sicheren Querungsstellen. Für den Autoverkehr ist weiterhin mindestens ein Fahrstreifen pro Richtung vorgesehen, aber der im Verkehrsversuch noch als Bus- und Radspur geplante Straßenabschnitt ist nun für mehr Grün und für Fuß- und Radverkehr vorgesehen.
Eine gewichtige Stimme räumt die Stadt auch ihren Jugendlichen ein. Während des Jugendforums, das seit 2016 einmal im Jahr veranstaltet wird, können Jugendliche aus Leonberg und den dazugehörigen Ortschaften ihre Interessen an die Stadtverwaltung weitergeben. Am letzten Jugendforum im Oktober 2023 nahmen mehr als hundert Jugendliche im Alter von 13 bis 21 Jahren teil, die in Projektgruppen ihre Vorstellungen zu Themen wie „Nachhaltigkeit und Umwelt“, „Mobility“, „Equality“, „Fitness und Sport“ oder „Events und Freizeit“ erarbeiteten. Sie wünschten sich unter anderem mehr Fahrradständer an zentralen öffentlichen Orten sowie Nachtbusse mit einer guten Anbindung an die anliegenden Dörfer. Bei einem sogenannten „Gallery Walk“ präsentieren die jungen Leute ihre Anregungen aus dem Jugendforum den Stadträten, dem Bau- und Oberbürgermeister und Mitarbeiter_innen der Verwaltung. Diese können sich dann, wenn sie ein Projekt besonders begeistert, in eine Liste als Pate eintragen und damit ihre Hilfe für die weitere Entwicklung und Umsetzung des Projekts anbieten.
Damit die Wünsche und Vorschläge der Jugendlichen nicht bloß wohlwollend zur Kenntnis genommen werden, wurde im Jahr 2018 in Leonberg überdies ein Jugendausschuss gegründet. Er tagt viermal im Jahr und setzt sich aus Gemeinderatsmitgliedern sowie aus Jugendlichen zusammen, die von den jeweiligen Projektgruppen des Jugendforums zu ihren Vertreter_innen gewählt werden.
„Wir haben zum Beispiel 2022 in der Altstadt eine Podiumsdiskussion mit Bundestagsabgeordneten organisiert und mit ihnen über Themen diskutiert, die Jugendliche beschäftigen: Kostenloser ÖPNV, Wahlrecht ab 16 oder Cannabis-Legalisierung“, sagt die 18-jährige Berenike Keller, die seit zwei Jahren eine von drei Sprecherinnen des Jugendausschusses ist. Die Idee dafür sei im Jugendforum aufgekommen und dann durch den Jugendausschuss umgesetzt worden.
Jugendgremien gibt es bundesweit vereinzelt, aber vor allem in Baden-Württemberg, dem Stammland der kommunalen Jugendgremien in Deutschland. Bereits 1985 wurde in Weingarten am Bodensee der erste Jugendgemeinderat gegründet. In Baden-Württemberg verfügen aktuell 68 Prozent aller Kommunen über eine Jugendvertretung – Tendenz deutlich steigend, hat eine Studie vom Dezember 2023 ergeben.
Auch an der „Stadt für morgen“ in Leonberg sind die Jugendlichen beteiligt: So wurde im vergangenen Sommer der 14.000 Quadratmeter große Jugendplatz im Stadtpark eingeweiht. In zahlreichen Runden hatten die Jugendlichen ihre Wünsche hierzu eingebracht, in Workshops wurden sie konkretisiert, Verwaltung und Gemeinderat setzten sie dann mit einem Landschaftsarchitekturbüro um. Neben einer überdachten Sitzecke stehen im Stadtpark nun eine Grillstelle zur Verfügung, eine Himmelsschaukel und Fitnessgeräte. Und ganz aktuell setzt sich zurzeit eine Jugendgruppe mit dem Thema Mobilität auseinander und erarbeitet ein Nachtbuskonzept für Leonberg.
Finanziert wird der Jugendausschuss aus Haushaltsmitteln der Stadt Leonberg. „Unser Jugendausschuss ist im Vergleich zu anderen Jugendvertretungen in Baden-Württemberg finanziell extrem gut ausgestattet“, sagt Berenike Keller. „Das bedeutet, dass Projekte auch schneller umsetzbar sind – was wichtig ist, weil Jugendliche einfach schnelllebiger denken und schnell die Geduld verlieren.“ Obwohl es immer mal wieder Differenzen gebe, beispielsweise wegen des Standorts des geplanten neuen Skateparks, fühlt sie sich mit ihrer Stimme ernst genommen: „Leonberg tut aktiv etwas für uns.“
„Ernährung im Wandel“ heißt der erste vom Bundestag eingesetzte Bürgerrat, in dem ausgewählte Bürger_innen ernährungspolitische Vorschläge erarbeiteten. Eine neue Form der Beteiligung.
Das Modellprojekt LOSLAND hat Bürgerräte in bundesweit zehn Kommunen initiiert. Auch Ludwigsfelde in Brandenburg setzt auf die Mitsprache seiner Bürger_innen.
Kein Bundesland hat beim Thema „Direkte Demokratie“ eine längere Tradition als Baden-Württemberg. Seit mehr als 70 Jahren ist sie hier sogar in der Verfassung verankert.
Martin Cohn will die baden-württembergische Autostadt Leonberg klima- und sozialverträglich umgestalten. Er erklärt, warum die Kommune dabei auf massive Bürgerbeteiligung setzt.