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Mitbestimmung | 6. September 2024 | Bericht von Hanna Fath | Lesezeit: 5 Minuten
Das klassische Szenario: In der Zivilgesellschaft werden große Träume entwickelt. Doch die Verwaltung sagt: So schnell geht das nicht. Die Politik sagt: Wir haben die Mehrheiten dafür nicht. Kommunale Entwicklungsbeiräte (KEB) setzen genau da an und wollen es anders machen.
Eine inklusive und nachhaltige Entwicklung gelingt am besten, wenn alle Interessengruppen miteinander ins Gespräch kommen und gemeinsam Strategien entwickeln: Diese Überlegung ist Kerngedanke von Kommunalen Entwicklungsbeiräten. Sie bringen Vertreter_innen aus Politik und Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft in Städten und Gemeinden zusammen, um zu einer konkreten Fragestellung Empfehlungen für lokale Entscheidungsgremien zu erarbeiten. So soll das Vertrauen der Bürger_innen in Politik und Verwaltung gestärkt werden.
Ein Kommunaler Entwicklungsbeirat (KEB) ist ein Format der kommunalen Bürgerbeteiligung. Ein KEB wird von der lokalen Politik beauftragt, um eine spezifische Fragestellung zu bearbeiten, die die Kommune bewegt. Rund 30 Personen aus kommunaler Politik und Verwaltung sowie lokaler Wirtschaft und Zivilgesellschaft werden als Beirät_innen ausgewählt.
Hier liegt der Unterschied zu den klassischen Bürgerräten, wo die Mitglieder mittels Losverfahren ausgewählt werden und so die Stadtgesellschaft möglichst repräsentativ abbilden. Für die Kommunalen Entwicklungsbeiräte werden Personen angesprochen, die fachliche Expertise mitbringen, mit dem Thema betraut oder davon betroffen sind oder die Interessen einer relevanten oder marginalisierten gesellschaftlichen Gruppe einbringen können.
Im Verlauf eines Jahres kommen sie in vier ganztägigen Sitzungen zusammen. In gemeinsamer Arbeit entsteht ein Empfehlungspapier. Je nach Auftrag umfasst es Visionen, Leitlinien und gegebenenfalls Maßnahmen und wird dem gewählten Gemeinde- oder Stadtrat zur Bewertung und Entscheidung über die Umsetzung vorgelegt.
Im Jahr 2023 testeten fünf Kommunen aus dem ländlichen Raum erstmalig diesen von der Berlin Governance Platform entwickelten Beteiligungsansatz. Eine davon ist Rottenburg am Neckar im Landkreis Tübingen. Als Fragestellung wählte die Steuerungsgruppe, die den Entwicklungsbeirat vorbereitete, ein so aktuelles wie breites Thema: Die Auswirkungen aktueller Krisen auf das friedliche Zusammenleben und die nachhaltige Entwicklung der Stadt sowie die zunehmende Polarisierung in der Stadtgesellschaft.
„Rottenburg war da sehr ehrgeizig und wollte den halben Weltfrieden herstellen“, kommentiert der Moderator von der ILTIS GmbH Lukas Forst-Gill die thematische Schwerpunktsetzung. Er moderierte den Entwicklungsbeirat gemeinsam mit Karin Frech von der Stadt Rottenburg und Dominique Pannke von der Berlin Governance Platform.
Im April 2023 trat der Entwicklungsbeirat erstmalig zusammen, 29 Menschen aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft. Als ungewohnt und neu erlebten einige schon das Setting der Versammlungen: im Stuhlkreis. Eine anfängliche Skepsis war allerdings schnell überwunden, als die Beirät_innen mittels innovativer Methoden, Design Thinking und moderierter Kleingruppen ein konkretes Thema herausdestillierten: Die Frage, wie die Kommunikation der Stadt nachhaltig und transparent verbessert werden könne.
Der Befund, dass Informationen zur Stadtpolitik über Lokalzeitungen immer weniger Menschen erreichen, stellte die Frage nach neuen Kanälen und deren Funktionsmechanismen. In vier Workshopeinheiten – zweimal zweitägig, zweimal eintägig – erarbeitete der Entwicklungsbeirat unter anderen die folgenden Empfehlungen: Kommunikation als Querschnittsaufgabe in der Stadtverwaltung mit einem Fokus auf digitale Formate wie ein Livestream der Gemeinderatsitzungen, ein städtisches Demokratie-Label für Vereine, ein Begegnungsformat für Schüler_innen mit der Kommunalpolitik und nicht zuletzt Bürger_innenbeteiligung wie den Entwicklungsbeirat auszuweiten und vertrauensvoll zu gestalten.
Begeisterung für Kommunalpolitik geweckt
Diese Empfehlungen sind im Abschlussdokument festgeschrieben, die Wirkkraft des Kommunalen Entwicklungsbeirats reicht aber laut Moderator Forst-Gill noch weiter: Für die einzelnen Mitglieder sei es eine positive Erfahrung gewesen, gemeinsam etwas zu kreieren, nach Lösungen zu suchen, sich als Mitbürger_innen untereinander neu zu finden, projektbasiert eigene Ideen einzuspeisen. „Bei manchen hat es richtig gezündet“, berichtet Forst-Gill. Zwei der Beteiligten ließen sich im Anschluss erstmals als Kandidat_innen für die Gemeinderatswahl aufstellen. Allein dafür habe es sich gelohnt, da ist Forst-Gill überzeugt. Währenddessen beschreibt er die Strahlkraft der Arbeit des KEB in die Stadtgesellschaft hinein als eher mäßig. Das könnte daran liegen, dass Kommunikation als Thema recht abstrakt und schwer zu fassen sei.
Kalletal: Neue Konzepte für die örtliche Gesundheitsversorgung
Anders in der ostwestfälischen Samtgemeinde Kalletal, die sich die örtliche Gesundheitsversorgung als Thema für den Kommunalen Entwicklungsbeirat vorgenommen hat. Als mitten im Prozess zudem einer der ansässigen Ärzte plötzlich verstarb und 2000 Patient_innen auf auswärtige Praxen ausweichen mussten, wurde die Brisanz des Themas noch greifbarer. Die Kalletaler Bürger_innen verfolgten interessiert und kritisch die Arbeit der 33 Mitglieder des Entwicklungsbeirats. Ärzt_innen, Apotheker_innen, Seniorenbeiräte, Jugendliche, interessierte Bürger_innen und Kommunalpolitiker_innen aller Fraktionen versammelten sich an vier Wochenenden unter dem Titel „Gesundheitsversorgung im Kalletal gemeinsam stärken“.
Kalletal ist eine ländlich geprägte Gemeinde im äußersten Nordosten Nordrhein-Westfalens. Auf 16 Ortschaften verteilt leben dort etwas mehr als 13.000 Menschen. Gerade im ländlichen Raum fällt es zunehmend schwer, den Bedarf an medizinischer und pflegerischer Unterstützung durch ortsnahe Angebote zu bedienen. Der demografische Wandel verschärft die Situation. Die Altersstruktur der praktizierenden Ärzte in Kalletal ist hoch, gleichzeitig braucht eine immer älter werdende Gesellschaft immer mehr Unterstützung.
Gesundheit, Mobilität und Digitalisierung zusammenbringen
„Von der Wiege bis zum Lebensabend“ lautete das Motto des Entwicklungsbeirats, ein ganzheitlicher Blick auf das Thema war gefragt. Schnell wurde klar, dass Gesundheit, Mobilität und Digitalisierung zusammengedacht werden müssen. Der Beirat diskutierte ganz unterschiedliche Ideen: beispielsweise über einen Gesundheitsbus, der über die Ortschaften fährt, oder die Frage nach der Einführung von mehr digital unterstützter Telemedizin. Hinterfragt wurde auch der Zusammenhang zwischen den Arztpraxen und der Kaufkraft in der unmittelbaren Umgebung, der sich zeigte, als der Einzelhandel nach der Schließung einer Hausarztpraxis über Umsatzeinbußen klagte.
Die zentrale Idee, die dann im Entwicklungsbeirat entwickelt wurde, war ein Kommunales Medizinisches Versorgungszentrum (MVZ) für Kalletal: Verschiedene Praxen an einem gemeinsamen Ort, eine GmbH als Tochtergesellschaft der Kommune mit einer kaufmännischen Leitung, die die administrativen Aufgaben gebündelt übernimmt. „Wir haben alles daran gesetzt, das als Gemeinde genau vorzubereiten. Wir haben alle politischen Gremien dazu informiert, eine Vorlage und einen Businessplan vorbereitet – alles stand“, berichtet Bürgermeister Mario Hecker (parteilos).
Hürden bei der Umsetzung in praktische Politik
Im März 2024 stimmte der Kalletaler Gemeinderat über das MVZ ab – die Überraschung: 16 Gemeinderät_innen stimmen gegen das Projekt. Ein Patt, der Antrag war damit abgelehnt. Die CDU-Fraktion, die gegen den Antrag stimmte, begründete ihre Entscheidung primär mit Zweifeln an den prognostizierten Gewinnen in den kommenden Jahren und der Möglichkeit hoher Verluste, welche die Kalletaler in Zukunft belasten könnten. „Das hat die Welt hier vollkommen aus den Fugen gehoben“, beschreibt Hecker die Reaktionen auf das Aus des MVZ. Die Kalletaler Bürger_innen hätten die Arbeit des Beirats interessiert verfolgt, zudem schien das Problem nach dem Tod eines ansässigen Arztes so dringlich.
Die Transformation der Empfehlungen der Entwicklungsbeiräte in konkrete politische Maßnahmen zeigt sich als Hürde in Beteiligungsprozessen. Ob die erarbeiteten Empfehlungen auch umgesetzt werden, „obliegt den demokratischen Vertreter_innen, die den Entschluss verantworten müssen und sich daher natürlich auch gegen die durch den Beirat entwickelten Strategien entscheiden können. Im Kalletal war es ein knappes und auch überraschendes Ergebnis, das vor allem auch deshalb so ausfiel, weil nicht alle stimmberechtigten Vertreter_innen anderer Parteien anwesend waren“, erläutert Tara Grimm von der Berlin Governance Platform.
Mit Enthusiasmus das Projekt retten
In Kalletal dominierte erst einmal Unverständnis, weil Vertreter_innen aller Fraktionen im Entwicklungsbeirat eingebunden waren und der Empfehlung zugestimmt hatten. Enttäuschung und Frust schwangen vor Ort aber schnell um in Enthusiasmus, das Projekt doch noch zu retten. „Was der Prozess im Kalletal eindrucksvoll zeigte, ist, wie die Zusammenarbeit im Beirat Menschen für Themen mobilisiert und politisiert, die ihnen wichtig und dringlich erscheinen“, sagt Tara Grimm. Laut Bürgermeister Hecker beschreibt das, was dann folgte, die Qualität des Beirats als Instrument der Beteiligung: „Hier hat sich eine Gruppe gefunden aus Kalletaler Bürgern, die gesagt hat: Mit dem Beschluss sind wir nicht einverstanden, das lassen wir nicht so stehen.“ Sie initiierten ein Bürgerbegehren – fast 25 Prozent der Wahlberechtigten unterschrieben, doppelt so viele wie benötigt. Daraufhin fand sich doch noch eine knappe Mehrheit im Rat für den Aufbau des Medizinischen Versorgungszentrums.
Für Tara Grimm von der Berlin Governance Platform ist der Entwicklungsbeirat in Kalletal trotzdem eine Erfolgsgeschichte: „Politik bleibt jedoch Handarbeit, und es braucht eine kollektive Verantwortungsübernahme, um Empfehlungen in die Umsetzung zu bringen. Das ist hier bisher gut gelungen und es wird spannend zu beobachten, inwiefern Beirät_innen auch den weiteren Umsetzungsprozess begleiten.“
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Kein Bundesland hat beim Thema „Direkte Demokratie“ eine längere Tradition als Baden-Württemberg. Seit mehr als 70 Jahren ist sie hier sogar in der Verfassung verankert.
Die Verkehrswende kann nur gelingen, wenn die Verwaltung die Menschen beteiligt. Leonberg setzt auf Transparenz.
Martin Cohn will die baden-württembergische Autostadt Leonberg klima- und sozialverträglich umgestalten. Er erklärt, warum die Kommune dabei auf massive Bürgerbeteiligung setzt.