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„Die Menschen müssen sich mit der Demokratie identifizieren können“

Mitbestimmung muss unterschiedliche Interessengruppen in den Kommunen zusammenbringen, findet Gesine Schwan. Mit der „Berlin Governance Platform”  hat sie ein neues Beteiligungsformat erarbeitet.

Mitbestimmung | 9. September 2024 | Interview von Clara Engelien | Lesezeit: 5 Minuten

Frau Schwan, auf kommunaler Ebene gibt es schon etliche Gremien, in die Menschen sich einbringen können: Öffentliche Ausschüsse, Bürgerräte, Kommissionen. Warum braucht es auch noch Kommunale Entwicklungsbeiräte (KEB)?

Gesine Schwan: Weil diese Beiräte als einzige so konzipiert sind, dass sie sich klug mit dem Willensbildungs- und Entscheidungsprozess der repräsentativen Demokratie verzahnen.

Das ist eine Ansage! Wie meinen Sie das?

Wir stehen vor einem Mangel an Teilhabe und zugleich der Schwierigkeit, unterschiedliche Interessengruppen so zusammenzubringen, dass sie gemeinwohlorientierte Entscheidungen treffen können. Diese Hauptaufgabe anzugehen, erfüllt nur der Kommunale Entwicklungsbeirat.

Die Empfehlungen, die ein KEB verabschiedet, müssen nicht eins zu eins vom Stadtrat oder der Verwaltung umgesetzt werden. Aber weil deren Vertreter ebenso wie Bürgermeister_innen von vornherein mit argumentieren, entsteht eine ganze andere Kommunikation zwischen der organisierten Zivilgesellschaft, der Wirtschaft und der Politik.  So können sofort Klärungen erfolgen, die sonst hinterher stattfinden müssen und dann die Umsetzung oft unterminieren. Im Gegensatz dazu ist ein Bürgerrat zum Beispiel völlig unabhängig von der Kommune und damit ziemlich weit weg von den realen Interessengruppen einer pluralistischen Gesellschaft.

Sie haben langjährige Erfahrung sowohl in der politischen Praxis als auch in der politikwissenschaftlichen Forschung. In Ihrem Buch „Politik trotz Globalisierung“ schreiben Sie, die repräsentative Demokratie erlebe einen Glaubensverlust und brauche neue Formen der Teilhabe. Was können Kommunale Entwicklungsbeiräte in dieser Hinsicht leisten?

Jahrzehntelang habe ich mich als Politikwissenschaftlerin mit demokratischer Partizipation befasst. Aber in den letzten fünf oder sechs Jahren ist bei vielen Beteiligungsformaten bei Bürger_innen immer wieder Frustration entstanden, weil das, was man sich da ausgedacht hat, nicht umgesetzt wird. Das ist ein deutliches Defizit der meisten Modelle.

Beim Entwickeln des KEB zielen wir darauf ab, dass die Demokratie in der Wahrnehmung der Menschen wieder mehr legitimiert wird, dass sie sich mehr mit ihr identifizieren können. Wir können ihnen das nicht predigen, sie müssen das selbst erfahren. Die Konfrontation der verschiedenen Positionen vor Ort ist sehr wichtig, weil die Menschen erst so wirklich lernen: Andere Leute haben andere Vorstellungen. In der Gesellschaft kommt man nicht automatisch zusammen, sondern da schlägt – ohne argumentativen Ausgleich – der Stärkere leicht den Schwächeren. Das diskreditiert die pluralistische Demokratie, weil dann nicht die gleiche Freiheit für alle, die versprochen wurde, eingelöst wird. Um das zu überwinden, ist dieser Versuch so wichtig, einen gemeinwohlorientierten Grundkonsens zunächst mal auf der kommunalen Ebene  zu schaffen.

 

Klappt das? Glauben Menschen dadurch tatsächlich mehr an die Demokratie auch auf höherer Ebene?

Ja! Es zeigt sich: Menschen, die solche Wirksamkeitserfahrungen machen, stehen selbst zur EU ganz anders. Man kann nicht Entscheidungen des Europäischen Rates in ein Gefühl der Legitimität in Klein Kleckersheim verwandeln. Aber wenn die Menschen selbst dort diese Mechanismen erfahren und diese in ihrer Lebenswelt wirken, können sie diese Abstimmungsmechanismen weiter weg ganz anders verstehen. Und sind urteilsfähiger, fühlen sich in diesem System mehr zu Hause.

Ihre NGO, die Berlin Governance Plattform, hat bereits in sechs Kommunen erfolgreich so einen Prozess abgeschlossen und begleitet aktuell vier weitere. Was war ein Erfolg eines KEB, der Sie persönlich begeistert oder überrascht hat?

Toll war gleich unser erstes Pilotprojekt in Herne, im Ruhrgebiet. Da ging es um eine ehemalige Zeche, die schon lange stillgestellt und deren Boden vergiftet war. Am KEB waren 32 Leute beteiligt. Eine Initiative wollte eine Biobrache und die dortigen Kreuzkröten erhalten. Andere wollten dort eine Lehrlingsausbildung installieren und für „gute Arbeit“ sorgen. Eine dritte Gruppe wollte an dem Ort ein neues Mobilitätssystem ausprobieren und die vierte ein generationenübergreifendes Erholungs- und Lerngebiet. Die sagten hinterher von sich aus, das war der anstrengendste Prozess, den sie je hatten. Aber sie hätten in der Diskussion festgestellt, dass ihre Vorstellungen gar nicht so weit auseinanderliegen wie gedacht. Das Empfehlungspapier mit einer Kompromisslösung hat jeder einzelne unterschrieben, es gab nicht mal eine Enthaltung! Ich kam mir vor wie im Himmel – das, was ich mir erhofft hatte, ist wirklich wie im Bilderbuch eingetreten.

 

Wie war der Prozess?

Es gab keinen klaren Fahrplan, das war so gewollt. So haben sich alle Beteiligten selbst verantwortlich gefühlt für die Weiterentwicklung des Prozesses – im Nachhinein fanden das alle sinnvoll. Vor allem sagten sie, im Zuge dessen Vertrauen zueinander gefasst zu haben. Vertrauen ist die demokratische Währung schlechthin. Vertrauen vor allem auch zur Verwaltung, die am Prozess beteiligt war. Das war schwer, oft halten deren Vertreter sich lieber heraus und distanzieren sich hinterher. Die organisierte Zivilgesellschaft muss aber auch verstehen, dass die Verwaltung nicht einfach nur Klötze in den Weg legt, sondern rechtliche Hürden von vornherein zu bedenken sind.

Wie kommt ein Kommunaler Entwicklungsbeirat zustande und wer entscheidet über das zu bearbeitende Thema?

Zunächst braucht es zum Einrichten eines KEB die Hilfe einer NGO wie unserer. Bislang sind wir die Einzigen. Der Oberbürgermeister und die Stadtverordnetenversammlung müssen ihn wollen. Mit ihnen stellen wir nach dem Multi-Stakeholder-Prinzip – also alle relevanten Interessengruppen aus Politik, Zivilgesellschaft und Wirtschaft zusammenbringend – eine so genannte Steuerungsgruppe von sechs bis sieben Personen aus der Kommune zusammen. Diese Gruppe entscheidet wiederum, welche 30 bis 40 Personen am KEB teilnehmen und um welches Thema es gehen soll. Das Thema leitet sie in den Stadtrat, und dieser erteilt dem KEB den Auftrag, dazu eine Empfehlung auszuarbeiten. Wenn diese fertig ist, kommt sie zurück in den Stadtrat.

Können das alle möglichen Themen sein oder gibt es von Ihnen aus Schwerpunkte?

Das ist flexibel. Es gab öfter Brachen, die die Kommunen entwickeln wollten. Oder: Duisburg hat einen sozial komplizierten Stadtteil, wo an die 70 Nationen leben, die miteinander nicht viel am Hut haben. Da geht es um die öffentlichen Plätze und die Mobilität. In Niesky in der Oberlausitz wurde ein Wirtschaftsentwicklungsplan gemeinsam mit Fachleuten erarbeitet – nicht nur ein Plan der Verwaltung, sondern verankert in der Gesellschaft.

Wie können interessierte Kommunen teilnehmen und wer finanziert das?

Sie können sich bei uns bewerben. Die Finanzierung ist ein Problem. In großen Teilen lief sie über die Bundeszentrale für politische Bildung, eines der Projekte über das Umweltministerium in Weißwasser, ein anderes über die E.ON-Stiftung. Aber wenn wir das skalieren wollen, brauchen wir langfristig öffentliche Gelder. Der Bund muss Kommunen direkt finanziell unterstützen, die Projekte zur Intensivierung demokratischer Partizipation machen.

Es gab auch KEB-Projekte in Ostdeutschland. Welche Erfahrungen haben Sie dort gemacht?

In Niesky in der Lausitz zum Beispiel ist in Bürgerinitiativen in der Regel die AfD sehr präsent, eine gab es zu einem lokalen Wirtschaftsthema. Anfangs wollte die Initiative nicht mitmachen im KEB, doch dann nahm deren Sprecher doch teil. Obwohl er zunächst sehr ablehnend war, unterschrieb er am Ende die Empfehlung, und bedankte sich für das faire Verfahren.

Der AfD wird immer wieder nachgesagt, durch besondere Bürgernähe bei den Wähler_innenzu punkten, durch Präsenz in den Ortschaften, zum Beispiel mit Veranstaltungen.

Ja, wobei die Veranstalter meistens nicht mal kommunale Themen auf die Tagesordnung setzen, sondern zum Beispiel schnell auf Migranten zielen.

Wie handhaben Sie den Umgang mit AfD-Mitgliedern?

Wir haben immer die AfD eingeladen, weil sie als Partei in Ostdeutschland oft in den Stadträten vertreten ist. Das ist wichtig, auch weil sie dann nicht mehr sagen kann, es gehe alles über unsere Köpfe hinweg. Ich bin fest überzeugt davon, dass das die beste Methode ist, dem AfD-Protest sachlich und inklusiv den Boden zu entziehen.

Also keine Brandmauer?

Bei den KEB sind wir ja noch nicht auf der Ebene politischer Entscheidungen. Mir kommt es psychologisch sogar darauf an, sie einzubeziehen. Wenn eine Mehrheit in einer Kommune die Erfahrung macht, wir können wirklich mitbestimmen, dann hat die Demokratie gegen die AfD gewonnen.

Gesine Schwan wurde 1943 in Berlin geboren. 1972 trat die Politikwissenschaftlerin in die SPD ein, seit zehn Jahren leitet sie deren Grundwertekommission. 1975 wurde sie an der Freien Universität Berlin habilitiert. Die heute 81-Jährige kandidierte zweimal für das Amt der Bundespräsidentin und war von 1999 bis 2008 Präsidentin der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder). Sie ist Mitgründerin und Präsidentin der Nichtregierungsorganisation (NGO) „Berlin Governance Platform“.

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