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„Ich kann nur klimaneutral sein, wenn ich gar nicht existiere“

Michael Braungart hat das Kreislaufwirtschafts-Prinzip „Cradle to Cradle“ (C2C) entwickelt. Im Interview mit VORAN erklärt er, wie dadurch Innovationen und neue Produkte entstehen.

Strukturwandel | 4. November 2024 | Interview von Simone Schnase | Lesezeit: 6 Minuten

 

Herr Braungart, was sind die Hauptprinzipien des Cradle-to-Cradle-Konzepts?

Michael Braungart: Traditionell denken die Leute, dass sie die Umwelt schützen, wenn sie sie etwas weniger zerstören. Cradle to Cradle ist das Gegenmodell, bei der ich die Menschen als Chance für den Planeten sehe. Das heißt: nützlich zu sein, nicht weniger schädlich. Alle Dinge, die verschleißen, müssen so gemacht werden, dass sie biologisch nützlich sind, nicht nur nicht giftig. Und Dinge, die nur genutzt werden, so wie Waschmaschinen oder Fernseher, werden so gestaltet, dass man nur das Recht auf Verwendung und nicht das Produkt selber kauft. Denn niemand braucht eine Waschmaschine oder einen Fernseher. Ich brauche bloß saubere Wäsche oder möchte Fernsehen gucken.

Das bedeutet aber einen radikalen Systemwandel – wie stellen Sie sich das konkret vor?

Braungart: Wir sagen, der Gewinn kann nicht länger privatisiert sein und das Risiko vergesellschaftet. Derjenige, der ein Produkt herstellt, ist dafür auch zuständig. Das heißt, Cradle to Cradle ist ein Konzept, wo man 50 Jahre Umweltdiskussionen in Innovationen umsetzen kann und durch das viele bessere Produkte entstehen.

Am Anfang stehen also erst einmal ganz neue Produkte.  

Braungart: Ja, und inzwischen gibt es etwa 70.000 zertifizierte C2C-Produkte auf der Welt, zum Beispiel essbare Möbelbezugstoffe. In der Regel sind die Zuschnitte so giftig, dass sie als Sondermüll entsorgt werden müssen. Bezugstoffe müssen aber ungiftig sein und biologisch weiter nutzbar. Dann habe ich auch kein Mikroplastikproblem. Wenn man einfach nur versucht, das Bestehende etwas weniger schädlich zu machen, ändert man daran nichts. Die DDR hat übrigens die Umwelt viel besser geschützt als der Westen, einfach durch Ineffizienz. Das System war schlicht nicht in der Lage, zum Beispiel die Feuchtgebiete in Mecklenburg-Vorpommern zu zerstören. Zwar hat man lokal hohe Belastungen hinterlassen, auch die Gewässer waren kontaminiert, aber insgesamt war die Artenvielfalt viel höher als im Westen, einfach durch Ineffizienz.

Aber das Ziel können ja nicht Ineffizienz und Planwirtschaft sein – oder?

Braungart: Nein, wir nehmen die Marktwirtschaft sehr ernst. Aber ich sage: Lasst uns doch positive Ziele machen, keine neutralen. Ein Baum ist auch nicht klimaneutral, sondern gut für das Klima. Wir brauchen Ziele wie zum Beispiel: In zehn Jahren werden wir nur noch Plastik verwenden, das aus dem CO2 der Atmosphäre gewonnen worden ist. Es müsste in Verpackungen endlich das PVC verboten werden, denn das hat die identische Dichte wie PET. Und dann machen diese Nachhaltigkeitsfanatiker die Plastikverpackung auch noch zehn Prozent leichter und erhöhen den Recyclinganteil damit noch!

Wenn es wenigstens das richtige Plastik wäre, dann könnten die Leute daraus Öl machen für ihre Notstromaggregate. Aber anstatt zu fragen, was ist die richtige Verpackung, macht man die falschen Verpackungen richtig falsch.

Was ist aus Ihrer Sicht der Grund, warum man trotz besserer Möglichkeiten an dieser Flickschusterei festhält?

Braungart: Der erste Grund ist Religion, überraschenderweise. Sowohl das Christentum als auch der Islam sagen, wir sind böse und nur göttliche Gnade kann uns erlösen. Darum können wir aus uns heraus gar nicht gut sein, sondern wir können nur weniger schlecht sein. Das ist ganz verrückt und wird gar nicht reflektiert. Auch dieser Wunsch nach Klimaneutralität:  Ich kann nur klimaneutral sein, wenn ich gar nicht existiere. Wenn ich im Bett liege, gebe ich im Jahr 168 Kilogramm Kohlendioxid ab und wenn ich Sport mache, sogar weit über eine Tonne. Mit den jetzigen Konzepten ist jeder Mensch eigentlich einer zu viel auf der Welt.

Der zweite Grund sind hoch optimierte falsche Systeme. Ich habe zum Beispiel einen ungiftigen Katalysator für PET entwickelt. Im Moment wird dafür das giftige Schwermetall Antimon verwendet. Aber da wird dann gesagt: Warum sollten wir das ersetzen? Wir haben ja die Lebensmittelzulassung dafür und dann bräuchten wir ja wieder eine neue Zulassung. Dabei kann man den Katalysator problemlos ersetzen. Die Leute ändern nichts, weil sie ihr jetziges System bereits optimiert haben.

 

Gibt es denn trotz dieser Herausforderungen Fortschritte bei der Umsetzung von C2C?

Braungart: Ja, es setzt sich sogar schneller durch als erwartet. Mein Sohn hat vor vielen Jahren gesagt: Papa, du wirst nie erleben, dass sich das ändert. Es hat 500 Jahre gedauert, bis die Leute begriffen haben, dass die Erde keine Scheibe ist. Und es dauert auch, bis die Leute verstehen, dass weniger schlecht nicht gut ist. Denn das ist ein fundamental anderes Denken als die traditionelle Denkweise, die in weiten Teilen immer noch vorherrscht.

Ich war zum Beispiel gerade in China und dort gibt es Wärmepumpen, die kosten nur ein Drittel von dem, was wir hier bezahlen müssen. Die werden gekauft, obwohl sie in zwei Jahren kaputt sind. Und was macht die Europäische Union? Sie macht ein Recht auf Reparatur! Warum soll ich diesen Sondermüll denn noch reparieren? Wir werden in fünf Jahren keine Wärmepumpenindustrie mehr in Europa haben, wenn das so weitergeht und wir die Geschäftsmodelle nicht dahingehend ändern, dass man den Leuten nur das Nutzungsrecht verkauft und keine Wärmepumpen.

Das setzt aber auch ein Umdenken auch bei jedem Einzelnen voraus, zum Beispiel bei Hausbesitzern, die unbedingt ihre eigene Wärmepumpe haben wollen.

Braungart: Ja. Was es braucht, ist das Umdenken von vornherein. Das ist eine Frage des Menschenbildes, das dahintersteckt. Aber wir sind noch sehr weit davon weg. Es gibt zum Beispiel kein einziges Bio-Siegel, was erlaubt, dass meine eigenen Exkremente wieder verwendet werden dürfen. Es ist nur bio, wenn wir nicht beteiligt sind. Selbst der Demeter-Landbau verliert jährlich bis zu zwei Tonnen Boden pro Hektar, weil die eigenen Nährstoffe nicht wieder eingesetzt werden dürfen. Wir brauchen aber eine Wirtschaft, die Boden aufbaut, nicht eine, die ihn lediglich langsamer abbaut.

Das C2C-Modellprojekt lief in Nordostniedersachsen bis April 2024. Was ist währenddessen konkret geschehen?

Braungart: Lüchow-Dannenberg hat eine tolle Landrätin, die das Projekt so vorangebracht hat, dass es im Prinzip irreversibel ist. Es gibt dort eine ganze Reihe von Gebäuden, die nach Cradle to Cradle gebaut worden sind und ein Labor in Dannenberg, wo man auch C2C-Produkte angucken kann. Und das öffentliche Beschaffungswesen gehört natürlich auch dazu. Da habe ich ausdrücklich darauf bestanden, dass C2C-Produkte nur bei gleichem Preis bevorzugt werden. Denn es gibt leider eine perfide Strategie, dass zehn Prozent Öko-Aufschlag erhoben wird, obwohl die C2C-Produkte kostengünstiger sind.

 

Was steckt hinter diesem Öko-Aufschlag?

Braungart: Viele Firmen wollen damit ihre Hauptproduktion schützen. Es gibt zum Beispiel einen Teppichbodenhersteller, der ist der größte Verwender für PVC weltweit. Der macht eine C2C-Kollektion und verlangt dafür den Zuschlag, obwohl er eine Umsatzrendite bei gleichem Preis von über 20 Prozent erzielt. Damit erreicht er, dass sein Hauptgeschäft nicht geändert werden muss. Das ist ziemlich zynisch, aber der Prozess ist halt hochoptimiert.

Aber das ist doch eigentlich ein Zeichen dafür, dass selbst an den Stellen, wo C2C umgesetzt wird, das erforderliche Umdenken noch nicht vorhanden ist, oder?

Braungart: Doch, das Umdenken ist schon da, aber es geht langsam. Vor allem die Junior-Unternehmer begreifen, um was es geht.

Warum war das Modellprojekt in dieser doch recht strukturschwachen Region angesiedelt?

Braungart: Zum einen handelt es sich um ein Projekt, das ja zur Strukturentwicklung gedacht ist. Und zum anderen muss man auch verstehen, dass Innovation nie aus dem Zentrum kommt. Das Bauhaus ist nicht in Berlin erfunden worden, sondern in Dessau, in Weimar, in Ulm, in Krefeld. Denn das Zentrum hat immer viel zu viel zu verteidigen. Das Wendland ist natürlich zusätzlich besonders interessant, weil es dort eine lange Diskussions- und Widerstandskultur gibt. Daraus hat man vieles gelernt. Und außerdem ist Innovation auf Vertrauen angewiesen. Für Neues brauchen Sie Verlässlichkeit und Vertrauen, und das gibt es im Wendland.

Der Verfahrenstechniker und Chemiker Dr. Michael Braungart hat zusammen mit dem US-amerikanischen Architekten und Designer William Andrews McDonough Ende der Achtziger Jahre das Kreislaufwirtschafts-Prinzip „Cradle to Cradle“ (C2C) entwickelt. Braungart ist Professor für Öko-Design an der Leuphana Universität Lüneburg und war Projektleiter der „C2C-Modellregion Nordost-Niedersachsen“. Im Landkreis Lüchow-Dannenberg sei das Prinzip so gut angenommen worden, dass es dort in seinen Augen „irreversibel“ ist.

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