„Wenn wir die Verhältnisse verändern wollen, müssen wir ökologische Verkehrsarten fördern“

Leipzigs Baubürgermeister Thomas Dienberg will mit der „Mobilitätsstrategie 2030“ mehr Raum für Radfahrende und Fußgänger_innen schaffen.

Mobilität | 09. Juli 2024 | Interview von Ronny Arnold | Lesezeit: 4 Minuten

Leipzig hat mit seiner „Mobilitätsstrategie 2030“ einen ambitionierten Rahmenplan ausgearbeitet, nach dem die Stadt bereits seit einigen Jahren ihre Infrastruktur erneuert. Das geht laut dem grünen Baubürgermeister Thomas Dienberg nicht ohne Gegenwind und nur mit viel Kommunikation. Dienberg ist seit 2020 in der stetig wachsenden Messestadt für die Stadtentwicklung und damit auch für die Verkehrswende zuständig.

Warum muss der öffentliche Raum in Leipzig neu aufgeteilt werden? Was genau ist das Herzstück der Verkehrswende?

Thomas Dienberg: Im Kern geht es darum, dass wir einen großen Bedarf haben, unsere Infrastruktur zu erneuern. Wir stehen an vielen Stellen vor der Aufgabe, von Hauswand zu Hauswand umbauen zu müssen. Das beginnt bei neuen Leitungssystemen, über die Straßenbahnlinien bis hin zu einem neuen Radwegenetz. Ein wichtiger Teil der Aufgabe ist mit der Frage verbunden, wie wir unseren Verkehr zukünftig gestalten wollen. Der Raum dafür ist beschränkt – wir reißen schon lange keine Häuser mehr ab, sondern bauen neue. Für diese Umgestaltung gibt es mit der „Mobilitätsstrategie 2030“ einen umfassenden Rahmenplan. Das alles hat der Stadtrat 2020 beschlossen, verbunden mit klaren Maßnahmen und Zielen.

Wir wollen im Bereich des Umweltverbundes, also im Fahrrad- und Fußverkehr und ÖPNV, die Verkehrsanteile deutlich steigern. Das ist das Herzstück der Verkehrswende. Ein Teil der Herausforderung ist, dass Leipzig eine große Stadt ist, die weiter wächst. Und wenn wir da die Verhältnisse verändern wollen, müssen wir ökologische Verkehrsarten klar fördern. Der motorisierte Individualverkehr muss weiter möglich sein, aber er muss künftig Flächen abgeben.

Was heißt das genau?

Dienberg: 90 Prozent unserer großen Durchgangsstraßen führen an Häuserzeilen vorbei, sind also bewohnt. Zusätzlich findet man dort Einzelhandel, Restaurants und Geschäfte. In unserem Fokus stehen die Attraktivität und Lebensqualität des öffentlichen Raumes für die Leute, die dort wohnen und arbeiten.

Wir wollen das Miteinander in den Mittelpunkt stellen, auch beim Straßenverkehr. Und zur Ehrlichkeit gehört eben auch dazu, dass man hierfür dem motorisierten Individualverkehr an der einen oder anderen Stelle auch Fläche wegnehmen und anderen Verkehrsarten zuordnen muss. Das geht natürlich nie ohne Konflikte.

Unsere Aufgabe lautet, den Prozess zu erklären. So gibt es die Kommunikationsstrategie im Rahmenplan vor. Wir müssen darüber mit allen Beteiligten sprechen. In der Vergangenheit haben wir nicht immer im notwendigen Umfang mit denen geredet, die unmittelbar von den Maßnahmen betroffen sind. Das geht besser.

Das Ziel muss auch sein, die Anteile des Individualverkehrs dadurch zu kompensieren, dass man andere Verkehrsarten wie Fahrrad und ÖPNV attraktiver macht – aber trotzdem denen, die wie beispielsweise Pendler weiterhin auf das Auto angewiesen sind, die Möglichkeit gibt, den verbleibenden Verkehrsraum gut zu nutzen. Diese Zielstellung beschäftigt uns bei jedem Umbau des öffentlichen Raumes. 

 

Fahren Sie eigentlich selbst mit dem Rad zur Arbeit?  

Dienberg: Ja, ich fahre fast ausschließlich mit dem Rad. Auf rund 80 Prozent meiner Wege nutze ich mein Fahrrad, auch bei schlechtem Wetter, weil es einfach schneller geht. Ich muss mich dann nicht um die Parkplatzsuche und sowas kümmern. Das ist für mich ein ausschlaggebender Punkt. Ich bin auch relativ fix unterwegs und nutze das Fahrrad tatsächlich in der ganzen Stadt.

Warum ist Leipzig für Sie eine Fahrradstadt?

Dienberg: Die Zahlen sprechen an der Stelle eine deutliche Sprache. Erstmals sind etwa die neu zugelassenen, privaten PKW in der Stadt rückläufig. Zwar nur um 0,7 Prozent, das sind aber immerhin rund 1500 von gut 200.000 Fahrzeugen. Trotzdem sehe ich hier eine Reaktion darauf, dass wir schon einiges an neuen Radwegen und beim ÖPNV geschafft haben. Etwa zwei Drittel der Leipzigerinnen und Leipziger legen ihre Wege überwiegend mit umweltfreundlichen Verkehrsmitteln zurück. Sie gehen also entweder zu Fuß, fahren mit dem Fahrrad oder mit Bus und Bahn.

Was aus der „Mobilitätsstrategie 2030“ ist bereits konkret umgesetzt? 

Dienberg: Wir haben seit dem Beschluss in Leipzig 51 Kilometer neue Radverkehrsanlagen geschaffen, also Schutzstreifen, Radfahrstreifen und neu angelegte Radwege. An einigen Stellen, wo der Platz nicht ausreicht, haben wir Geh- und Radwege kombiniert. Und wir haben Fahrradstraßen in Betrieb genommen, da sind wir momentan bei einem durchschnittlichen Zuwachs von 8,5 Kilometern im Jahr. Das alles kann sich sehen lassen, reicht aber noch lange nicht aus.

Deshalb wollen wir mit dem jetzt vorgelegten Radverkehrsplan, der auch in der Mobilitätsstrategie hinterlegt ist, die Anzahl der Fahrradstraßen noch einmal deutlich erhöhen – um weitere 50. Und beim ÖPNV gibt es ebenso ambitionierte Pläne, die natürlich einen langen Vorlauf brauchen, wie die Erweiterung des Straßenbahnnetzes. Da reden wir über viele Jahre der Planung und Umsetzung. Hinzu kommt die viel diskutierte Verbreiterung der Straßenbahnen und damit verbunden die Aufweitung des Gleisabstandes. Eine durchaus teure, aber richtige Entscheidung, weil wir dadurch in Zukunft in größeren Bahnen deutlich mehr Fahrgäste transportieren können.    

Wer muss für einen so großen Umbruch mit ins Boot?

Dienberg: Na ja, sie müssen bestenfalls alle Beteiligten mit ins Boot holen. Gerade an der Diskussion rund um den Hauptbahnhof, wo wir den Autos Fahrstreifen weggenommen und den Radfahrern zugeordnet haben, wurde das sehr deutlich. Hier gab es eine Menge Gegenwind und sehr viele ideologische Lager, die das Ende des Autos in der Stadt und viele daraus resultierende Probleme heraufbeschworen haben. Dabei hat sich gerade dort gezeigt: Der Umbau funktioniert ohne nennenswerte Nachteile für den Kraftverkehr.

Uns geht es dabei überhaupt nicht darum, den Autoverkehr komplett aus der Stadt zu bringen. Aber es ist wichtig, dass wir die Mobilitätswende einleiten und damit den Umweltverbund und die freundlichen Verkehrsmittel ganz deutlich fördern. Hierzu gibt es mit der Mobilitätsstrategie 2030 eine klare Beschlusslage. Und da kann es nicht sein, dass wir das nur auf der strategischen Ebene tun. Für mich sehe ich da an dieser Stelle den Anspruch, nicht zu weichen – auch wenn es dann vielleicht auch hier und da einmal ein bisschen wehtut oder einem viel Widerstand entgegenschlägt. Hier haben wir noch Nachholbedarf. Damit umzugehen, ist personell aufwändig und kostet auch generell viel Kraft. Dazu braucht man entsprechende Kapazitäten, die man einplanen muss.

 

Haben Sie die Mehrheit der Bürger_innen auf Ihrer Seite?  

Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern die konkreten Umbaumaßnahmen und gleichzeitig das Gesamtkonzept erklären und dabei auch immer wieder aufklären, warum das für Leipzig und speziell für die eigene Wohnumgebung sinnvoll ist. Das ist definitiv eine langfristige Aufgabe, die uns aber der Rahmenplan vorgibt und die nur mit Transparenz funktioniert. Alle Maßnahmen kann man deshalb beispielsweise auf den Webseiten der Stadt einsehen und nachverfolgen. Unser neues Dashboard zur Mobilitätsstrategie führt detailliert auf, was im eigenen Stadtbezirk geplant ist, welche Maßnahmen konkret umgesetzt werden, was wann passiert und womit jede Maßnahme zu Buche schlägt. Es wird ständig auf dem Laufenden gehalten und kommt richtig gut. Das Dashboard war mein Wunsch und ich finde das sehr sinnvoll.   

Was kostet die Umsetzung der Mobilitätsstrategie und wer bezahlt es?

Dienberg: DerInvestitionsaufwand allein bei der Stadt liegt bei jährlich rund 70 Millionen Euro. Zusätzlich investieren die Leipziger Verkehrsbetriebe in den ÖPNV. Das ist sehr anspruchsvoll und kann sich von Jahr zu Jahr ändern – je nachdem, wie umfangreich einzelne Maßnahmen sind. Auf der anderen Seite erhalten wir natürlich auch Fördermittel, unter anderem vom Freistaat Sachsen. Auch der Bund engagiert sich stark im Bereich Klimaschutz. Gerade für den Radverkehr gibt es einige Förderprogramme, um beispielsweise Radschnellwege oder gesicherte Abstellanlagen zu schaffen. Da müssen wir versuchen, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, um alle unsere Pläne umsetzen zu können.  

Sind die vielfältigen Ziele Ihrer Mobilitätsstrategie bis 2030 tatsächlich zu schaffen?

Dienberg: Es ist ambitioniert, keine Frage. Es ist aber auch definitiv realistisch. Das muss es ja sein, sonst macht es keinen Sinn, sich diese Ziele zu setzen. Wir werden uns immer wieder auch mit anderen Ämtern abstimmen und austauschen müssen, gerade auch was den Klimaschutz angeht. Da müssen wir noch stärker zusammenarbeiten, weil alleine der Verkehr für 25 Prozent der CO2-Emissionen verantwortlich ist. Diesen Wert müssen wir weiter senken und unseren Beitrag dazu leisten, auch wenn die Aufgabe komplex ist. Aber ich bin überzeugt, dass wir da auf einem wirklich guten Weg sind.

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