Lena Kronenbürger: Lassen Sie uns über die Arbeitsteilung in Familien sprechen. Auf einer Skala von 1 bis 6, welche Note würden Sie Deutschland in dieser Hinsicht derzeit geben?
Patricia Cammarata: Eine glatte 4.
„Wenn man sich Paare anschaut, die beide in Vollzeit arbeiten,
dann ist es immer noch so, dass die Frau über 40 Prozent mehr
Sorgearbeit übernimmt“
LK: Was läuft schief?
Patricia Cammarata: Oft wird angenommen – als sei es ein Naturgesetz – dass Frauen, wenn sie weniger verdienen, mehr für Kinder und Haushalt tun sollten. Spannend ist daher ein Blick auf die Zahlen von Paaren, die beide Vollzeit arbeiten. Hier zeigt sich, dass es immer noch die Frauen sind, die mehr als 40 Prozent der Sorgearbeit übernehmen. Gleich viel Erwerbsarbeit zu leisten bedeutet eben trotzdem nicht automatisch, dass die Care-Arbeit gleich verteilt ist.
LK: Was versteht man genau unter Care- bzw. Sorgearbeit?
PC: Hierbei handelt es sich um Tätigkeiten des Sich-Kümmerns. Zwei Aspekte fallen unter Care-Arbeit. Der erste ist die Arbeit, die mit Menschen zu tun hat, also die Kinderbetreuung und die Pflege von Angehörigen. Unsere Gesellschaft altert zusehends und über 70 % der Pflegebedürftigen werden privat gepflegt. Zum anderen gibt es die indirekte Arbeit, sprich alles, was unterstützend zu tun ist, wie Instandhaltungen, Garten- und Hausarbeit oder Einkaufen.
LK: Sie sind als „Mental Load“-Expertin bekannt. Inwiefern trägt dieser Aspekt zu der ungerecht verteilten Care-Arbeit bei?
PC: Mental Load könnte man als Projektmanagement auf den Punkt bringen. Mit anderen Worten: die gesamte Organisation, das Nachdenken darüber, das Angehen der einzelnen Aufgaben, die notwendig sind, um den Alltag zu organisieren. Dabei geht es nicht nur um Familien mit Kindern, sondern auch um Paarbeziehungen oder Familien, in denen Angehörige gepflegt werden. Alles immer auf dem Schirm zu haben, schafft eine Hierarchie: Es gibt „die Projektleiterin“, die alles im Blick hat und weiß, was zu tun ist, und dann hat man im besten Fall „eine Hilfskraft“ in Form eines Partners, der darauf wartet, dass man ihm Aufgabenpakete zuweist. Das ist eine Schieflage.
„Frauen haben oft das Gefühl, dass sie keine wirkliche Wahl haben,
denn wenn sie sich nicht um etwas kümmern, werden sie schnell als Rabenmutter oder als schlechte Partnerin abgestempelt“
Mental Load steht in direktem Zusammenhang mit Care-Arbeit, also den Beziehungen, die wir haben. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung, ob man mit einem fiebernden Kind zum Kinderarzt gehen sollte oder nicht. Dieser Verantwortungsdruck kann eine große Herausforderung sein und lastet meist schwer auf den Frauen.
LK: Wie sieht es mit der gleichberechtigten Arbeitsteilung bei kinderlosen Paaren aus?
PC: Auch bei kinderlosen Paaren neigen Frauen dazu, mehr Care-Arbeit zu übernehmen. Sie kümmern sich mehr um den Freundeskreis und familiäre Kontakte, aber auch um all die indirekten Arbeitsthemen. Angefangen bei der Frage, wer daran denkt, dass Seife nachgekauft, die Pflanze gegossen oder die Bettwäsche gewechselt werden muss. Bei der meist unsichtbaren Sorgearbeit geht es also vor allem darum, wer alles im Kopf hat.
LK: Es wird sicher viele Menschen geben, die dieses Interview nun lesen und sich dabei denken: „Das machen wir in unserer Partnerschaft besser“. Woran merkt man, dass man sich die Care-Arbeit doch nicht so ausgewogen teilt, wie man vielleicht denkt?
PC: Ein Klassiker ist: „Mein Partner hilft mir bei der Hausarbeit“. Da muss man sich schon fragen, wie kann er in seinem eigenen Haushalt helfen? Hinzu kommt die Sozialisation der Frauen. Sie haben oft das Gefühl, dass sie keine wirkliche Wahl haben, denn wenn sie sich nicht um etwas kümmern, werden sie schnell als Rabenmutter oder schlechte Partnerin abgestempelt. Es ist also sozusagen der Normalzustand, als Frau Care-Arbeit zu leisten. Das ist ein großes Problem, denn zu der Belastungssituation gesellt sich somit noch mangelnde Wertschätzung. Es ist aber gerade die Wertschätzung, die zu einer Verringerung des Stresspegels führt. Viele denken oft immer noch, dass Care-Arbeit für Männer etwas Freiwilliges ist, das "on top" zu ihrer Erwerbsarbeit geleistet wird. So wird ihnen auch oft Dankbarkeit entgegengebracht, wenn sie den Müll rausbringen oder Geburtstagsgeschenke besorgen.
LK: Bisher haben wir von Ihnen gelernt, dass es als völlig normal angesehen wird, dass Frauen Care-Arbeiten übernehmen und dass Männer, wenn sie Sorgearbeit leisten, als Helden gefeiert werden, um es mal überspitzt auszudrücken. Wann werden diese gesellschaftlichen Verhaltensweisen erlernt?
PC: Wir lernen von klein auf, sozusagen geschlechtsspezifisch, was Anerkennung bringt und was unsere Aufgaben sind. Das beginnt im Grunde schon vor der Geburt. Wenn jemand schwanger ist, fragen die Leute oft sofort nach dem Geschlecht: „Was wird es denn?“ Das ist in der Regel lieb gemeint, aber lassen Sie uns genauer hinschauen: Warum ist das eine so zentrale Frage? Weil die Antwort uns auf zukünftige Rollen vorbereitet und schon ganz klar zeigt, wer für was zuständig ist. Schon bei 5-Jährigen ist es so, dass sich Mädchen deutlich mehr an der Hausarbeit beteiligen und öfter ihr Zimmer aufräumen. Das fängt früh an, und deshalb ist es auch im Erwachsenenalter nicht so einfach zu sagen „Na, dann putz ich jetzt halt weniger“.
„Es gibt in meinen Augen sehr viele politische Hebel,
die bisher leider nicht genutzt werden“
LK: Meine Sozialisation ist also der Grund, weshalb ich meine Wohnung putze, bevor Freund_innen zu Besuch kommen.
PC: Im Grunde genommen ja. Frauen haben so hohe Ansprüche, weil sie wissen, dass sie verurteilt werden, wenn die Wohnung nicht aufgeräumt und sauber ist. Der unausgesprochene Gedanke ist meist nicht, der Mann hätte womöglich den Haushalt vernachlässigt. Viele schreiben nämlich Sauberkeit und Ordnung automatisch der Frau zu – und als Frau spürt man diesen Druck. Es ist also so etwas wie vorauseilender Gehorsam: Die Frau kümmert sich darum, dass es so aussieht, wie man es erwarten würde.
LK: Welche Hebel sehen Sie, um auf politischer Ebene für eine fairere Arbeitsteilung in Familien zu sorgen?
PC: Es gibt in meinen Augen sehr viele politische Hebel, die bisher leider nicht genutzt werden. Angefangen beim Steuerrecht und dem Ehegattensplitting, das sozusagen das Konstrukt eines finanziellen Versorgers und einer Familienarbeiterin unterstützt. Dann gibt es das Problem, dass in Vollzeit zu arbeiten immer noch eine 40-Stunden-Woche bedeutet. Ich spreche nicht davon, dass alle Männer in Teilzeit arbeiten sollen, sondern dass es messbare Effekte gibt, wenn man zwei bis vier Stunden weniger pro Woche arbeitet. So kann man zum Beispiel gesellschaftlich darüber nachdenken, wie Care-Arbeit fairer aufgeteilt werden kann. Ein weiterer Punkt, der politisch stärker gesteuert werden könnte, ist die Entwicklung der Mieten. Eine Mietobergrenze wäre ein großer Faktor für Familien, die sich fragen: Können wir es uns überhaupt leisten, weniger zu arbeiten? Schaffen wir es, in der Stadt wohnen zu bleiben? Dann kommt natürlich noch die Kinderbetreuung ins Spiel – diese sollte nicht nur quantitativ, sondern auch qualitativ ausgebaut werden. Für einige Berufe, wie beispielsweise die Krankenpflege, sind Randzeiten wichtig. Vielen hilft es nur bedingt, wenn die Kita um 16 Uhr schließt.
„Es wird immer mehr Allgemeinwissen, dass es
grundsätzlich eine Schieflage in der Verteilung von Care-Arbeit gibt“
LK: Eine Konstellation, die sich oft ergibt, wenn man Kinder hat, ist die eines Hauptverdieners und eines Teilzeitverdieners. Welche Schwierigkeiten sehen Sie hier vor allem für Frauen?
PC: Wenn Frauen in Teilzeit und in schlecht bezahlten Branchen arbeiten, haben sie nicht nur das Problem der Vereinbarkeit von Familie und Beruf, sondern sie können mit ihrem Einkommen im Grunde genommen nicht ihre eigene finanzielle Existenz sichern und ihre berufliche Karriere vorantreiben. Sie sind wirtschaftlich abhängig. Diese sogenannten Frauenberufe müssen aufgewertet werden. Dass man also nicht sagt, Frauen sind selbst schuld, wenn sie in schlecht bezahlten Branchen arbeiten, sondern dass man anerkennt, dass es sich um Branchen handelt, die für unsere Gesellschaft sehr wichtig sind.
LK: Was gibt Ihnen trotz des Missverhältnisses bei der Verteilung von Care-Arbeit Hoffnung?
PC: Es gibt viele Beispiele, die mir Hoffnung machen, sowohl im Kleinen als auch im Großen, die nur nach wie vor nicht mehrheitsfähig sind. Es gibt natürlich Länder, in denen die politischen Stellschrauben anders gesetzt sind. Der skandinavische Raum ist immer ein typisches Beispiel, aber es stimmt: Hier wird die Elternzeit anders aufgeteilt und an die Bedingung geknüpft, dass Männer sich gleich viel einbringen, was dann auch im Berufsleben den Effekt hat, dass die Überstunden-Kultur nicht mehr in der Form betrieben wird, wie wir sie jetzt erleben. Es hat sich in den Köpfen der Menschen dahingehend gedreht, dass sie sich um Leute sorgen, die um 18 Uhr noch auf der Arbeit sitzen, weil sie sich denken: Die Person hat eine Familie, ist da irgendetwas nicht in Ordnung, wenn sie lieber arbeitet? Man sieht daran, dass die politischen Rahmenbedingungen einen starken und positiven Einfluss auf die private Gestaltung haben können. Auch in meinem eigenen Umfeld kann ich sehen, dass endlich diskutiert wird, andere Entscheidungen getroffen werden und die Paare sich nicht nach drei Jahren mit Kind überrascht und erschöpft fragen: „Wir waren doch mal modern, oder nicht? Warum leben wir jetzt eigentlich wie in den 1950er Jahren?“ Das finde ich schön zu sehen. Außerdem wird es immer mehr zu einer Art Allgemeinwissen, dass es grundsätzlich eine Schieflage in der Verteilung von Care-Arbeit gibt. Das hilft den Menschen, aktiv zu werden und zu schauen, was man dagegen persönlich und politisch tun kann.