Burgfrieden

Dieser Beitrag von Dr. Max Bloch erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

Am 4. August 1914 – drei Tage nach der deutschen Kriegserklärung an Russland – bewilligte die SPD-Reichstagsfraktion die Kriegskredite und kam mit den anderen im Reichstag vertretenen Parteien überein, für die Zeit des Kriegs den politischen Streit ruhen zu lassen. Der Krieg wurde weithin als ein Verteidigungskrieg empfunden; der Hass auf das autokratische Russland und die Angst vor feindlichen Invasionen bestimmte das Verhalten vieler Sozialdemokraten ebenso wie der Wunsch, das Stigma der „vaterlandslosen Gesellen“ endlich loszuwerden.

Gegen die Burgfriedenspolitik der sozialdemokratischen Parteiführung regte sich bald schon Widerstand. Nachdem am 2. Dezember 1914 Karl Liebknecht als einziger Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskreditbewilligung gestimmt hatte, ging die linksradikale Opposition am 9. Juni 1915 in die Offensive: In einer Eingabe an den Partei- und Fraktionsvorstand der SPD forderten die Unterzeichner des sogenannten Unterschriftenflugblatts, allen voran Liebknecht, „dass Fraktion und Parteivorstand endlich ohne Zaudern dem Parteiverderben Einhalt tun, den Burgfrieden aufsagen und […] den sozialistischen Kampf für den Frieden eröffnen“ sollten. Dieses Flugblatt war initiiert von der Gruppe Internationale, aus der 1916 der Spartakusbund und 1918 schließlich die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD) hervorging. Die Spaltung der Sozialdemokratie war also eng mit dem symbolischen Akt des Burgfriedens verknüpft und bestimmte dessen Rezeptionsgeschichte nachhaltig; innerhalb der Arbeiterbewegung verläuft sie – entlang den Bruchlinien – auf zwei Spuren.

Für die spätere Mehrheitssozialdemokratie (MSPD) war der 4. August 1914, der Burgfrieden, Folge eines seit dem Fall des ,Sozialistengesetzes‘ laufenden Transformations- und Reformierungsprozesses innerhalb der Partei, der zu einer immer engeren Einbindung in das politische System der konstitutionellen Monarchie geführt und Politik- wie Bündnisfähigkeit der SPD erwiesen hätte. Die Bildung des Interfraktionellen Ausschusses 1917 und die „Weimarer Koalition“ von 1919, mithin die Übernahme von Regierungsverantwortung wurden als direkte Konsequenz jener Entwicklung gedeutet, in die der 4. August 1914 eingebettet war. DemBurgfrieden kommt in dieser Lesart zentrale Bedeutung für die Demokratiegeschichte in Deutschland zu.

Ganz anders die widerstreitende Meinung: Für die radikale und pazifistische Linke war der Burgfriedenein Synonym für „Arbeiterverrat“. Die SPD hätte den kaiserlichen Krieg, der nicht der Verteidigung, sondern der Eroberung diente, unterstützt und sich somit von ihren Prinzipien, dem Klassenkampf, und ihrer Klientel, der Arbeiterklasse, abgewandt. „Wer hat uns verraten? Sozialdemokraten!“ war die Parole der KPD; ähnlichen Slogans folgte die bundesdeutsche Studentenbewegung; die SED-Kampagne gegen den „Sozialdemokratismus“ baute auf tiefsitzenden antisozialdemokratischen Affekten der im Ersten Weltkrieg politisierten Funktionäre auf; und auch heute noch findet der „Verrat“ des 4. August in den Organen der Linkspartei dankbare Resonanz.

Wer jedoch die damals führenden Persönlichkeiten der deutschen Sozialdemokratie als „Verräter“ brandmarken möchte, müsste Handlungsalternativen aufzeigen. Die einzig denkbare Alternative wäre jedoch die revolutionäre Aktion gewesen. Und eine revolutionäre Situation hat 1914 in keinem Staat Europas bestanden.


Denkanstoß Geschichte | Gewerkschaften und gute Arbeit

80. Jahrestag des Umsturzversuchs: Der 20. Juli 1944 und gewerkschaftlicher Widerstand

Wilhelm Leuschner mit Enkelkind Hannelore im Garten von Theodor Leipart

Vor 80 Jahren, am 20. Juli 1944, scheiterte eines der bedeutendsten Attentate auf Adolf Hitler. Es wurde von Claus Schenk Graf von Stauffenberg…


weitere Informationen

Denkanstoß Geschichte

140 Jahre Unfallversicherung – Entstehung, Wirkung und Bedeutung für die Arbeiter:innenbewegung

Darstellung der verschiedenen Aspekte der "Arbeiter-Versicherung" 1911 als Eiche, Wurzeln: Beiträge der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Krone: Krankenversicherung, Unfallsversicherung, Invalidenversicherung

Unser Gastautor Sebastian Knoll-Jung erläutert die Etablierung der Unfallversicherung im Jahre 1884 und dessen Entwicklung bis heute.


weitere Informationen

Gegen Rechtsextremismus! | Denkanstoß Geschichte

„Reichsbürger“ – ein scheinbar neues Phänomen mit langer Vorgeschichte

Junge Männer mit Reichskriegsflaggen, die mit einem Demonstrationszug durch den Wald gehen

Die Wurzeln der sogenannten Reichsbürger, die aktuell vor Gericht stehen, reichen weit zurück. Schon unmittelbar nach dem Ende des Nationalsozialismus…


weitere Informationen

Denkanstoß Geschichte

Der große Berliner Bierboykott von 1894

Vier Karikaturen zum Bierboykott aus dem "Wahren Jacob"

Der Berliner Bierboykott von 1894 war ein Arbeitskampf, der in seiner Bedeutung weit über das lokale Brauereigewerbe hinausging und die Öffentlichkeit…


weitere Informationen
nach oben