Der Hauskassierer

Dieser Beitrag von Dr. Sebastian Scharte erschien 2012 und war Teil des Projekts "Erinnerungsorte der Sozialdemokratie".

Szene in einem Garten. 2 Männer stehend in Anzügen. Davor ein Mann und zwei Frau sitzend. Davor Tisch mit Kaffeeservice.

Bild: von AdsD Friedrich Bartels (sitzend) übt ab 1919 zwölf Jahre lang das Amt des Kassierers im SPD-Vorstand aus.

Vier Männer und eine Frau halten lachend eine Barkasse mit der Aufschrift "Kasse" in die Kamera. Im Hintergrund ist ein Gebäude mit großen SPD-Schild zu sehen.

Bild: von AdsD/Darchinger Von 1946 bis 1975 ist Alfred Nau als Schatzmeister im Parteivorstand tätig.

„Sollten Sie etwa Präsident werden und einen Cassier oder Secretär etc. einzustellen haben, so vergessen sie mich nicht“, bewarb sich der Genosse Emil Sauerteig im Juni 1869 bei August Bebel für den Parteitag in Eisenach, denn „ich bin der kaufmännischen Buchführung mächtig daher für solche Posten gut zu verwenden und außerdem wäre dies mein einziger Wunsch meine Kräfte der Arbeitersache ungetheilt widmen zu können“. Eine Karriere als Kassierer in der Sozialdemokratie – hier hauptberuflich gewünscht, im Laufe der Parteigeschichte fast immer aber ehrenamtlich, wetterfest, mit Geduld und Spucke in die Tat umgesetzt. Denn den Hauskassierer gab es seit Lassalles Zeiten, um sich einer gewissen Gewaltenteilung zwischen dem über das Geld verfügenden Bevollmächtigten der jeweiligen ADAV-Gemeinde und einem zweiten, das Geld verwaltenden sowie Einnahmen und Ausgaben kontrollierenden „Gemeindebeamten“ zu verpflichten.

Hauskassierer waren in all den Jahren diejenigen, „die von Tür zu Tür gingen, um Mitgliedsbeiträge einzusammeln und dabei nach Sorgen und Nöten zu fragen“ (so der Vorwärts-Chefredakteur Uwe Knüpfer); sie waren die mit dem Stempel und den Beitragsmarken sowie der Zeit für Gespräche über Gott und die Welt – und den Zustand der Partei. Der Hauskassierer wurde zum selbstverständlichen Mitgliederbeauftragten, ehe die SPD ein solches Amt überhaupt erst einrichtete, und vor allem in den sozialdemokratischen Hochburgen des Ruhrgebiets zählte er zu jenen „Ich mach dat schon für Dich“-Funktionären, die sowohl in Partei als auch Gewerkschaft, Arbeiterwohlfahrt, Knappschaft undundund aktiv waren.

Doch die Zeiten in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft änderten sich – der abstrakte bargeldlose Zahlungsverkehr ersetzte mehr und mehr den konkreten Hauskassierer. Der Journalist Guido Eckert durfte einmal in das große Buch eines altgedienten Kassierers schauen und befand, dies hier abschließend: „Jede Zahl steht für einen Menschen. Jede Zahl steht für eine Verweigerung und für eine geradezu verbrecherisch altmodische Geisteshaltung, und jede Zahl steht für einen Weg. Wortwörtlich, und in jeder möglichen Wortbedeutung, denn diejenigen, die noch hauskassiert werden, sind nicht nur Nachbarn, sondern vielmehr letzte Getreue, mit einer beschwerlichen Herkunft“.


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